Fünf Schritte zur Heilung alter Wunden
Traumata verändern unseren Selbstausdruck und damit die authentische Äußerung unseres innersten Wesenskerns. Wie tiefe Wunden durch Embodiment-Techniken geheilt werden können und das Selbst nach überwundenen Verletzungen in den Vordergrund treten kann, erläutert Britta Kimpel anhand ihrer Fünf-Schritte-Methode.
Vierzehn millionstel Sekunden. So lange (beziehungsweise so »kurz«) dauert es, bis das autonome Nervensystem bei einer wahrgenommenen Gefahr den Sympathikus aktiviert und uns damit in den angeborenen Überlebensmodus katapultiert. Nur vierzehn millionstel Sekunden! In diesem winzigen Augenblick übernimmt es komplett die Kontrolle über unser Verhalten und steuert es, bevor wir es überhaupt realisieren. Es braucht nämlich fast doppelt so lange – um genau zu sein: vierundzwanzig millionstel Sekunden –, bis unser Verstand über die wahrgenommene Gefahr informiert wird. Doch bis dahin hat der Körper schon längst im Autopiloten reagiert: In einem unbewussten Impuls entscheidet er, ob er vor der drohenden Gefahr flieht oder mutig dagegen ankämpft.
Dieser instinktive Mechanismus rettet uns, wenn beim Gemüseschneiden mal wieder das Messer herunterfällt und wir den Fuß zurückziehen, ohne dass wir auch nur darüber nachdenken müssen. Doch genau dieser blitzschnelle Mechanismus kann uns im Stich lassen, wenn alte Wunden der Vergangenheit berührt werden. Sei es, weil wir unseren Träumen folgen und unser Nervensystem die Neuheit als drohende Gefahr interpretiert. Oder wenn bestimmte Personen und Situationen uns ungewollt an alte Ängste und Bedrohungen erinnern, sodass wir unwillkürlich mit Angriff oder Rückzug reagieren.
Tatsache ist: Solange das autonome Nervensystem auch nur die kleinste Bedrohung wahrnimmt, versetzt es uns unverzüglich und vollkommen automatisch in den Überlebensmodus. Plötzlich fliehen wir instinktiv oder geben uns angriffslustig, selbst wenn es um Dinge geht, die wir uns eigentlich wünschen oder die uns wichtig sind. Aus diesem Grund stoßen unser Intellekt und selbst unsere stärkste Willenskraft an ihre Grenzen, wenn es darum geht, Verhaltensmuster zu ändern, die ihren Ursprung in einer Alarmreaktion des autonomen Nervensystems haben.
Tiefe Wunden heilen
Die Frage ist also, wie können wir die Wunden der Vergangenheit heilen, sodass sie nicht immer wieder unser autonomes Nervensystem in Alarmbereitschaft versetzen?
Wie können wir sicherstellen, dass wir nicht unbewusst das sabotieren, wonach wir uns sehnen, oder uns von geliebten Menschen abwenden? Dass diese Fragen brennender sind denn je, zeigt sich an der zunehmenden Auseinandersetzung mit individuellen oder kollektiven Traumata und daran, dass das Bewusstsein für Traumata längst nicht mehr nur auf den therapeutischen Bereich beschränkt ist.
Viele Menschen fühlen sich von den heutigen Anforderungen überwältigt, was dazu führt, dass psychische Verletzungen oft nicht adäquat verarbeitet werden.
In einer beschleunigten Welt, geprägt von der ständigen Konfrontation mit globalen Krisen, dem Druck sozialer Medien und der wachsenden Entfremdung vom sozialen Miteinander, sind viele von uns anfälliger für traumatische Erlebnisse. Viele Menschen fühlen sich von den heutigen Anforderungen überwältigt, was dazu führt, dass psychische Verletzungen oft nicht adäquat verarbeitet werden. Die kollektive Suche nach Heilung und Verständnis treibt Gespräche über psychische Gesundheit und Traumabewältigung voran, da immer mehr Menschen erkennen, wie essenziell es ist, sowohl individuell als auch gemeinschaftlich Wunden zu heilen und Resilienz zu entwickeln.
Was braucht es für eine echte und tiefgreifende Heilung alter Wunden und Muster?
Die Kurzantwort: Es braucht eine Transformation im autonomen Nervensystem. Denn obwohl zahlreiche Ratgeber das Ändern des Mindsets oder strengere Disziplin als Allheilmittel ansehen, zeigt die neurowissenschaftliche Forschung, dass solche Vorschläge oft die wahre Ursache übersehen. Tatsächlich bedarf es einer tiefgreifenden Arbeit mit dem Nervensystem, um alte Wunden wirklich zu heilen.
Die etwas komplexere Wahrheit: Leider ist es oft nicht ausreichend, eine Technik zur Regulierung des autonomen Nervensystems nur kurzzeitig auszuprobieren und darauf zu warten, dass Wunder geschehen. Es sind verschiedene Faktoren erforderlich, die zusammenspielen müssen, um echte neuronale Heilung zu erleben. Diese Faktoren sind in fünf Schritten im NeuroEmbodied Healing® Framework zusammengefasst. Es dient als Wegweiser zur Heilung tief verwurzelter Wunden im Nervensystem und führt uns Schritt für Schritt zurück zu unserem authentischen Selbst.
Schritt 1: Reeducate
Heilung braucht Wissen und Verständnis.
Jeder Heilungsprozess setzt ein gewisses Grundverständnis und Wissen voraus. Wenn wir nicht verstehen, was uns antreibt und welche Mechanismen unser Verhalten steuern, fallen wir viel schneller wieder in alte Muster zurück.
Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben. ~ Konfuzius
Aus diesem Grund ist es der erste Schritt auf dem Weg zur neuronalen Heilung, unser oftmals veraltetes Schulwissen über das autonome Nervensystem zu aktualisieren und uns in diesem Bereich weiterzubilden. Es braucht ein tieferes Verständnis dafür, wie das autonome Nervensystem arbeitet und warum es uns manchmal dazu bringt, das zu sabotieren, was wir uns wünschen. Es geht aber auch darum, zu erkennen, wie die Anforderungen der heutigen Welt unser Nervensystem aus der Balance bringen können. Oder welchen Einfluss es auf uns hat, dass wir ständig erreichbar sind, uns oft ungesund ernähren, zu wenig schlafen, unsere Gefühle unterdrücken oder an unserer inneren Wahrheit vorbeileben. Und schließlich braucht es auch ein neues Verständnis von Traumata und Traumafolgen. Vielen ist nämlich nicht bewusst, dass nicht nur traumatische Erlebnisse wie beispielsweise Unfälle, Verlust oder Missbrauchserlebnisse ihre Spuren im Nervensystem hinterlassen. Tatsächlich wirken im Nervensystem auch viele kleine Alltagsstressoren traumatisch und führen dazu, dass das Nervensystem nicht mehr optimal funktioniert und sich dysreguliert. Dazu zählen beispielsweise wiederkehrende Konflikte bei der Arbeit oder in Beziehungen, chronische Überlastung, unterdrückte oder unverarbeitete Emotionen oder auch das Vorbeileben an der eigenen Wahrheit.
Die Folgen dieser Dysregulation zeigen sich sehr vielfältig in Verdauungsproblemen, einem schwachen Immunsystem, Schlafstörungen, mangelnder Energie, Ängsten und Sorgen, mentaler Überforderung, Konzentrationsschwäche, toxischen Beziehungen, fehlendem Selbstvertrauen oder auch in einer geringen Belastbarkeit. Die Aneignung dieses aktuellen Wissens ist essenziell, nicht nur für Fachleute, sondern für alle, die sich mit Heilung und persönlicher Entwicklung beschäftigen. Doch es ist wichtig zu betonen, dass reines Wissen, so wertvoll es auch sein mag, niemals den Wert und die Wirkung der praktischen Erfahrung ersetzen kann. Theorien können einen Rahmen bieten, Prinzipien klären, uns eine Richtung vorgeben und uns motivieren. Aber wahre Transformation und Heilung geschehen in der Praxis, im täglichen Engagement mit uns selbst, in der Auseinandersetzung mit unseren eigenen Reaktionen, Empfindungen und Erlebnissen.
Daher fokussieren die folgenden Phasen des NeuroEmbodied Healing® Frameworks auch überwiegend die Praxis und die konkrete Arbeit mit dem Nervensystem. Trotzdem hilft das Wissen über das autonome Nervensystem enorm, um überhaupt zu verstehen, warum der Weg zur Heilung über das Nervensystem führen sollte. Ein solches Bewusstsein stärkt zudem unsere Motivation, die Praxis konsequent fortzusetzen. Denn eine Veränderung im Nervensystem passiert nicht über Nacht. Zwar kann es sein, dass wir bereits nach kurzer Zeit eine erste Veränderung sehen. Es ist aber viel wahrscheinlicher, dass gerade zu Beginn der Arbeit mit dem Nervensystem erst mal eine sogenannte Erstverschlimmerung eintritt, sodass wir positive Veränderungen erst nach mehreren Wochen wahrnehmen können. Um in diesem Fall nicht entmutigt zu werden, macht es sehr viel Sinn, genau diese Erstverschlimmerung im Nervensystem besser zu verstehen und auch zu verstehen, warum sie ein gutes Zeichen ist und wie Heilung auf neuronaler Ebene generell abläuft.
Schritt 2: Reconnect
Heilung geschieht in Verbindung.
Führende Traumaexperten wie Peter Levine oder Gabor Maté beschreiben Trauma immer auch als etwas, das dazu führt, dass wir die Verbindung zum Hier und Jetzt verlieren. Alte Wunden halten uns oft in vergangenen Erlebnissen gefangen, wodurch unsere Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment zu sein, beeinträchtigt wird. Traumatische Erfahrungen können bewirken, dass wir uns von unserem eigenen Körper und unseren Bedürfnissen entfremden. Dadurch wird unsere Fähigkeit beeinträchtigt, uns selbst und unsere körperlichen Empfindungen wahrzunehmen und zu spüren, insbesondere weil wir dazu neigen, unangenehme Gefühle zu unterdrücken oder ganz auszublenden. Doch Traumata unterbrechen nicht nur die Verbindung zu uns selbst, sondern auch die Verbindung zum Außen. Sie können uns isolieren und uns das Gefühl geben, von der Welt um uns herum getrennt zu sein. Da das Nervensystem nach einem Trauma oft im Überlebensmodus feststeckt, wittert es überall Gefahr, misstraut anderen Menschen vielleicht, fühlt sich schnell angegriffen oder glaubt, sich verstellen zu müssen, um geliebt zu werden. So wird es schwer, echte und authentische Beziehungen einzugehen.
Aus diesem Grund geht es im zweiten Schritt im NeuroEmbodied Healing® Framework darum, den Fokus darauf zu legen, genau diese Verbindungen – zum Hier und Jetzt, zu uns selbst und unserem Körper und zu anderen – wiederherzustellen und zu stärken. Im Fokus steht die Verbindung zum Hier und Jetzt. Es geht also darum, wirklich im gegenwärtigen Moment präsent zu werden. Das hilft dem autonomen Nervensystem, sich zu entspannen – weil ja viele unserer wahrgenommenen Gefahren nicht im jetzigen Moment stattfinden. Vielmehr sind sie Erinnerungen aus der Vergangenheit oder Sorgen um die Zukunft. Da das Nervensystem das jedoch nicht weiß, reagiert es auf gefahrvolle Gedanken genau so, als wäre die Gefahr real. Es aktiviert den Überlebensmodus. Wenn wir uns aber im Hier und Jetzt orientieren, bewusst sehen, was es zu sehen gibt, hören, was es zu hören gibt, riechen, schmecken und fühlen – dann entspannt das Nervensystem und lässt ein Stück seiner Überlebensenergie los.
Der zweite Aspekt der Verbindung, der dann in der Folge aus der Präsenz entstehen kann, ist die Verbindung zu uns selbst und unseren körperlichen Empfindungen. Sind wir im jetzigen Augenblick angekommen, können wir uns darauf besinnen, was in unserem Körper gerade passiert:
Ist da vielleicht ein Kribbeln in den Händen?
Ein Kloß im Hals?
Ein Gefühl der Enge im Brustkorb?
Oder Ähnliches?
Genau dieses Spüren ist die Voraussetzung dafür, unsere Bedürfnisse wahrnehmen zu können. Und die Wahrnehmung unserer Bedürfnisse und die Berücksichtigung dieser sind die Grundvoraussetzung, um unser Nervensystem in die Sicherheitszone zu bringen und zu beruhigen. Der Traumaforscher Gabor Maté sagt es wie folgt:
»Es geht nicht darum, dich gut zu fühlen, sondern darum, DICH gut zu fühlen.«
Gemeint ist, dass wir nicht einem ständigen Hochgefühl nachjagen oder danach streben sollen, uns immer nur gut zu fühlen. Die Aufs und Abs in unseren Empfindungen und Gefühlen sind Teil des Lebens und ebben von sich aus wieder ab. Statt also nur darauf aus zu sein, unangenehme Empfindungen zu vermeiden, sollten wir lernen, uns selbst gut fühlen und spüren zu können. Wenn wir gut darin werden, uns und unsere Empfindungen zu fühlen und diesen Empfindungen einfach Raum zu geben, kann sich das Nervensystem entspannen. Außerdem können wir so anfangen, Entscheidungen zu treffen, die mehr im Einklang mit unseren Empfindungen sind, und darüber mehr und mehr ein wirklich authentisches und erfülltes Leben gestalten.
Wenn wir die Verbindung zum Hier und Jetzt und zu uns selbst wiederhergestellt haben, auf unsere Bedürfnisse hören und uns selbst spüren, können wir uns im dritten Schritt der Verbindung zu anderen widmen. Hier stehen unsere Beziehungen im Fokus. Wenn wir uns selbst nicht spüren und Beziehungen eingehen, kann es sein, dass wir uns selbst verlieren. Dass wir zu sehr im Außen bei den anderen sind und zu wenig bei uns selbst. Dadurch setzen wir keine klaren Grenzen. Es kann aber auch sein, dass wir von vornherein vermeiden, echte Beziehungen einzugehen, und unsere Mauern aufgebaut halten – um uns zu schützen, weil wir uns (und anderen) nicht trauen.
Daher noch mal: Erst lernen wir, präsent zu werden, um uns selbst spüren zu können und um uns selbst mehr zu vertrauen, und daraus können dann echte und tiefe Verbindungen entstehen. Denn ganz häufig gehen wir Beziehungen ein, ohne dass wir mit uns selbst verbunden sind. Dann sind das zum einen oft Beziehungen, die uns nicht guttun, weil wir gar nicht spüren können, was wir brauchen, und zum anderen verlieren wir uns in solchen Beziehungen ganz häufig im Außen. Durch gezielte Arbeit mit dem Nervensystem können wir lernen, uns in Beziehungen sicher und unterstützt zu fühlen und gleichzeitig im Kontakt mit anderen vollkommen präsent bei uns zu bleiben.
Schritt 3: Restore
Heilung entsteht durch körperliche Regeneration.
Einer der oft übersehenen, aber zentralen Aspekte der Traumaheilung ist die Regeneration der Stressphysiologie des Körpers. Ein fortwährender Zustand von Trauma oder Stress beeinflusst nicht nur unsere mentale und emotionale Verfassung, sondern hat auch direkte, messbare Auswirkungen auf die gesamte körperliche Physiologie. Insbesondere die Nebennieren, kleine Drüsen, die oberhalb der Nieren sitzen, spielen eine zentrale Rolle bei der Regulierung des Stresshormonspiegels im Körper. Sie schütten Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin als Reaktion auf gefühlte Bedrohungen aus, wodurch der Körper darauf vorbereitet wird, auf diese Bedrohungen zu reagieren. Sei es durch Kampf, Flucht, Freeze oder Shutdown. In akuten Stresssituationen können diese Reaktionen lebensrettend sein. Doch bei anhaltendem Stress zirkulieren diese Hormone ständig im System. Mit der Zeit kann der Körper eine Art Abhängigkeit von diesen Stresshormonen entwickeln und ein konstantes Stresslevel als »normal« ansehen.
Einer der oft übersehenen, aber zentralen Aspekte der Traumaheilung ist die Regeneration der Stressphysiologie des Körpers.
Dies führt dazu, dass das autonome Nervensystem uns veranlasst, fortwährend nach Stressquellen zu suchen oder sie selbst zu erzeugen, um diesen Hormon-Cocktail aufrechtzuerhalten. Bei konstantem Stress können die Nebennieren außerdem überstimuliert werden, was zu Nebennierenerschöpfung führen kann. Dies wiederum kann eine ganze Reihe von Symptomen verursachen, wie zum Beispiel Müdigkeit und Schwäche bis hin zu Problemen mit dem Immunsystem.
Neben den Nebennieren, die Adrenalin und Cortisol produzieren, sind auch die Schilddrüse und die Bauchspeicheldrüse an der Stressreaktion beteiligt. Sie regulieren den Stoffwechsel und den Blutzuckerspiegel. Weitere wichtige Organe, die auf Stress reagieren, sind die Lunge und das Zwerchfell. Unter Stress tendieren viele Menschen dazu, flach zu atmen, was die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn und zu anderen lebenswichtigen Organen einschränken kann. Bewusstes, gleichmäßiges Atmen durch die Nase bis in den Bauch hinab kann helfen, den Körper zu beruhigen, die Stressreaktion zu mindern und den Geist zu klären. Im Gehirn spielen insbesondere der Hippocampus und die Amygdala entscheidende Rollen bei der Verarbeitung von Stress. Der Hippocampus ist für das Gedächtnis und Lernen zuständig und kann durch übermäßigen Stress beeinträchtigt werden. Die Amygdala, das »Alarmzentrum« des Gehirns, kann durch anhaltenden Stress überreagieren, was zu erhöhter Angst und Wachsamkeit führt.
Um die ganzheitliche Heilung alter Wunden effektiv zu unterstützen, ist es daher wichtig, nicht nur emotionale und mentale Aspekte zu fokussieren. Auch die körperliche Ebene muss berücksichtigt werden. Dazu gehören der gezielte Abbau von Stresshormonen, die Regeneration der Stressorgane und die Normalisierung des Atemrhythmus. Dabei können Embodiment-Praktiken helfen, die spezifisch auf die Organe der Stressphysiologie abzielen und so den gespeicherten Stress schrittweise reduzieren. Dadurch kann sich der Körper regenerieren und das Gefühl der Sicherheit im Körper und Nervensystem wird wiederhergestellt werden.
Schritt 4: Rewire
Heilung schafft neue neuronale Verknüpfungen.
Wenn wir nun die Zusammenhänge im Nervensystem verstehen (Reeducate), die Verbindung zum Hier und Jetzt, zu uns selbst und anderen wieder gestärkt haben (Reconnect) und auch die Stressphysiologie sich regeneriert hat (Restore), kann der Körper aus dem Überlebensmodus zurück in den Sicherheitsmodus schalten. Mehr innere Sicherheit im autonomen Nervensystem ist die Voraussetzung dafür, dass wir neue neuronale Pfade im Gehirn aufbauen, Veränderung bewirken und alte Wunden heilen können.
In den ersten drei Phasen konnten wir außerdem auch unsere Stresstoleranz steigern. Dadurch verlieren Situationen, die uns vor einigen Monaten noch auf die Palme gebracht hätten, ihre Wirkung auf uns. Unsere Reaktionen werden nicht mehr von unserem autonomen Nervensystem gesteuert, da ehemalige Triggersituationen keine Alarmreaktionen mehr hervorrufen. Nun haben wir die bewusste Kontrolle und können gezielt entscheiden, wie wir auf bestimmte Situationen reagieren möchten. Genau diese neuen und bewussten Verhaltensweisen wollen wir in dieser Phase des NeuroEmbodied Healing® Frameworks auf neuronaler Ebene verankern, sodass wir sie wirklich verkörpern (NeuroEmbodiment) und alte Muster umprogrammiert werden. Durch NeuroEmbodiment (Verkörperung auf neuronaler Ebene) braucht es dann kein bewusstes Nachdenken und keine Anstrengung mehr, sondern das neue Verhalten zeigt sich automatisch, wenn wir uns in entsprechenden Situationen befinden.
Aber wie können wir die bisherigen neuronalen Muster umprogrammieren und neue Pfade schaffen? Hier sind einige Schlüsselprinzipien:
- Wiederholung und Beständigkeit: Neuronen, die zusammen feuern, verbinden sich miteinander. Das bedeutet, dass die wiederholte Ausführung eines Verhaltens oder Gedankens die Stärke dieser neuronalen Verbindung erhöht.
- Fokussierte Aufmerksamkeit: Die konzentrierte Beschäftigung mit einer bestimmten Tätigkeit oder einem Gedanken kann die Geschwindigkeit und Stärke der neuronalen Verknüpfung verstärken.
- Positives Feedback: Belohnung und positives Feedback können den Aufbau neuer Verknüpfungen beschleunigen. Dies kann durch äußere Umstände oder durch interne Selbstbestätigung erfolgen.
- Körperliche Erfahrung: Der Körper und der Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Bewegung, Embodiment-Techniken oder achtsames Atmen können dabei helfen, neuronale Verknüpfungen zu festigen.
- Gemeinschaft und soziale Unterstützung: Das Lernen und Wachsen in einer unterstützenden Gemeinschaft kann den Prozess der neuronalen Veränderung verstärken.
Letztlich geht es darum, bewusst und absichtlich neue Erfahrungen zu schaffen, die wiederum die Entstehung neuer neuronaler Pfade fördern. Mit der Zeit können diese neuen Pfade die alten, weniger hilfreichen Muster überschreiben und so zu echten, nachhaltigen Veränderungen führen. Der Schlüssel liegt in der Kombination aus Bewusstsein, Absicht und konsequenter Praxis. Ergänzend soll hier noch erwähnt werden, dass es in dieser Phase der Heilung unter Umständen sinnvoll oder sogar notwendig sein kann, sich externe Unterstützung von geschulten Traumatherapeuten oder traumasensiblen Coaches zu holen und sich auf dem Weg begleiten zu lassen.
Schritt 5: Remember
Heilung führt zum authentischen Selbst.
Die vorangegangenen vier Phasen führen dazu, dass wir uns Schritt für Schritt unserem authentischen Selbst nähern und nicht mehr länger von alten Wunden oder Mustern geprägt sind. Stattdessen konnten wir uns nach und nach von allem lösen, was nicht unserem authentischen Selbst entspricht: Konditionierungen. Masken. Erwartungen. Deshalb geht es im fünften Schritt des NeuroEmbodied Healing® Frameworks darum, uns aus unserem Inneren heraus wieder daran zu erinnern, wer wir wirklich sind. Was uns ausmacht. Was unsere Träume sind. Das ist jedoch nichts, was wir aktiv tun oder bei dem wir aktiv irgendwelche Tools anwenden müssen, sondern das authentische Selbst tritt in den Vordergrund, wenn unser Nervensystem grundlegend regeneriert und reguliert ist und wir in Verbindung mit uns selbst stehen.
Es gibt also in dieser Phase nichts, was wir anders tun müssten, um unser authentisches Selbst zu verkörpern. Tatsächlich können wir es nicht einfach werden. Es ist ja bereits vorhanden. Es ist vielleicht aktuell vom Überlebensmodus des dysregulierten Nervensystems und seinen Strategien und Verhaltensweisen überlagert. Je mehr wir unser Nervensystem regulieren und umprogrammieren – und uns so wieder in den Sicherheitsmodus bewegen –, desto mehr tritt unser authentisches Selbst natürlich hervor. Weil wir uns selbst fühlen und damit auch unsere Intuition wieder spüren können. Weil wir uns in uns selbst sicher fühlen und dadurch mehr Vertrauen ins Leben haben. Weil wir auf unsere Bedürfnisse hören. Und weil genau dadurch alles entfernt wird, was nicht wirklich zu uns gehört.
Durch die Heilung des Nervensystems tritt unser authentisches Selbst immer mehr in den Vordergrund.
Michelangelo wurde einmal gefragt, wie er es schaffe, aus einem rohen Marmorblock so beeindruckende und detailreiche Statuen zu formen. Seine simple Antwort war: »Die Statue existiert bereits im Marmorblock. Meine Aufgabe ist es, einfach alles zu entfernen, was nicht dazugehört.« Genau wie Michelangelo alles vom Marmorblock wegnimmt, was nicht zur Statue gehört, geht es auf unserem Weg zur Heilung darum, alles aufzulösen, was nicht zu unserem authentischen Selbst gehört. Dazu zählen blockierende Glaubenssätze, Ängste, Schattenseiten und hinderliche Gewohnheiten, die ihre Ursache oft in einem dysregulierten Nervensystem haben und somit unser authentisches Selbst überdecken. Durch die Heilung des Nervensystems tritt unser authentisches Selbst immer mehr in den Vordergrund, sodass es uns mit Leichtigkeit gelingt, unserem Herzen zu folgen und uns ein glückliches, erfülltes und harmonisches Leben aufzubauen.
Das authentische Selbst entdecken
Ein reguliertes Nervensystem ist der Schlüssel, um unser authentisches Selbst zu entdecken und zu umarmen. In einem Zustand der Regulation sind wir weniger durch äußere Faktoren beeinflusst, die unser Verhalten und unsere Wahrnehmung prägen können. Es ist, als ob uns ein klarer, ruhiger See einen ungetrübten Blick in seine Tiefe ermöglicht, während uns ein aufgewühlter See von Wellen und Strudeln diese Tiefe verbirgt. Wenn unser Nervensystem reguliert ist, sind wir weniger anfällig für die Masken, die wir im Laufe unseres Lebens aufgesetzt haben – sei es, um uns zu schützen, um dazuzugehören oder um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Diese Masken und Konditionierungen sind oft das Ergebnis früherer Traumata und verankerter Überzeugungen von uns selbst und der Welt um uns herum.
Das Eintauchen in und Erinnern an unser authentisches Selbst ist gleichbedeutend mit der Heilung alter Wunden.
Doch in einem Zustand der inneren Ruhe und Balance können wir diese Überlagerungen klarer erkennen und hinterfragen. Wir bekommen die Möglichkeit, tief in uns hineinzuhorchen und jene innersten Wünsche, Bedürfnisse und Wahrheiten zu entdecken, die uns ausmachen – jenseits von dem, was die Gesellschaft oder unsere eigenen alten Verletzungen uns vorschreiben. Das Eintauchen in und Erinnern an unser authentisches Selbst ist gleichbedeutend mit der Heilung alter Wunden. Denn indem wir uns selbst in unserer reinsten Form anerkennen und annehmen, lösen wir uns von den Fesseln und Narben der Vergangenheit. Es ist, als ob wir zu dem ursprünglichen Muster zurückkehren, das vor jeglicher Verletzung oder Verzerrung existierte. Letztlich bedeutet Authentizität, in Einklang mit unserer innersten Natur zu leben und unsere Wahrheit ohne Angst oder Zurückhaltung auszudrücken. In dieser Ausdrucksweise liegt eine tiefe Befreiung und Heilung – sie erlaubt es uns, das volle Potenzial unseres Seins zu leben und in der Welt zu teilen.
Britta Kimpel ist Diplom-Psychologin, Expertin für NeuroEmbodiment®, Gründerin der körperorientierten Coaching-Methode NeuroEmbodied Soul Centering® (NESC) und Podcast-Host. Ihr Anliegen ist es, Menschen dabei zu unterstützen, die Verbindung zu sich und dem eigenen Körper zu stärken, um authentischer und erfüllter zu leben.
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