Ein Abbild des Bewusstseinsstandes der gegenwärtigen Gesellschaft, Teil 2
Anmerkung der Redaktion: Der 1. Teil ist aus arbeitstechnischen Gründen gerade noch nicht online. Wir holen das zeitnah nach. Der 2. Teil kann aber auch eigenständig gelesen werden.
Die moderne Welt leidet unter dem Bruch zwischen Materialismus und Idealismus. Die Wissenschaft versucht, das Leben empirisch-materiell zu erklären. Der Medizinpsychologe Kohls bezweifelt jedoch, dass ein modernes, moralisch-ethisches System ohne eine transzendente Dimension auskommt. Wie man als Idealist Empathie äußert, ohne ins Burn-out zu gelangen, ist ebenfalls eine spirituelle Fähigkeit. Mitgefühl und Resilienz sind »future skills« einer neuen Gesellschaft.
Tattva Viveka: Die bisherige Wissenschaft stellte stark den materiellen und den objektiv-messbaren Aspekt in den Vordergrund. Auch du meintest, dass es in der Psychologie historisch eine Einseitigkeit, eine Schlagseite gebe. Ich denke, dass es – wenn wir es wohlwollend betrachten – gut war, viele Fragen und Forschungsbereiche zu kartografieren und sich einen Überblick zu verschaffen. Nun fehlt aber die andere Seite, und wir leiden darunter. Um mit Symptomen wie Burn-out, Sinnkrise, Depressionen klarzukommen, brauchen wir Resilienz – ein zentraler Begriff in deinem Buch1Prof. Dr. Niko Kohls (2022): Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz – Gelassener und stärker durch die richtige Balance. Südwest Verlag (s. Kasten unten). Würdest du sagen, dass es an der Zeit ist, diese sogenannten weichen Faktoren stärker in das Blickfeld zu rücken? Spiritualität und Resilienz sind, denke ich, gut miteinander zu verbinden. Was ist Resilienz und wo geht es für uns hin?
Kohls: Ich glaube, dass es für Menschen wichtig ist, ein Ziel im Blick zu haben und mit dem Ziel kongruente Werte zu haben. In der modernen westlichen Gesellschaft haben wir ein großes Werteproblem, und dieses sorgt für eine große Sinnkrise. Der Materialismus allein reicht nicht aus, um den Menschen einen Sinn zu geben. Dafür braucht man sich nur die Entwicklung ansehen. Ich habe mich mit der Geschichte intensiver auseinandergesetzt. Ein detaillierter Blick ins 19. Jahrhundert lohnt sich, um zu sehen, was geschehen ist.
Der Materialismus allein reicht nicht aus, um den Menschen einen Sinn zu geben.
Im 19. Jahrhundert schreitet die Professionalisierung der Wissenschaft immens schnell voran und die Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen tritt ein. Die Naturwissenschaften, allen voran die Physik und die Chemie, machen riesige Erkenntnisfortschritte. Gleichzeitig ist noch ein großer religiöser Bezugsrahmen vorhanden, der den Forschungsdrang der Wissenschaft (so wie immer zuvor) ein Stück weit erschwert. Die Wissenschaft wurde von der Religion immer sanktioniert oder zu verhindern versucht, um das religiöse Weltbild, das auch das Herrschaftssystem etabliert hat, nicht umzustürzen.
Interessanterweise gibt es im 19. Jahrhundert zwei Entwicklungen: Die eine ist der philosophische Materialismus, die andere der spiritistische Idealismus. In einem Jahr ist all das ineinander geronnen und konvergiert, sozusagen ein Konvergenzjahr, und das war das Jahr 1848.
Warum? Einerseits schreiben Marx und Engels das Kommunistische Manifest. So heißt es in dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung: »Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!« Die dahinterliegende Idee ist, dass es zwar keine transzendente Dimension, also keinen Gott mehr gibt, dass aber die Menschen hier auf Erden das Paradies erzielen könnten, wenn sie sich zu einer einträchtigen Gesellschaft von Brüdern und Schwestern entwickeln würden. Dazu ist es notwendig, dass wir internationale Solidarität entwickeln. Im Grunde werden die Partitionierung der Welt durch die Nationalstaaten und die gesellschaftlichen Klassen infrage gestellt. John Lennon griff das später in seinem berühmten Song »Imagine« auf. Wir müssen uns als eine Einheit begreifen, die sich im Diesseits vereint und deswegen keine Transzendenz braucht.
Auf der anderen Seite setzt im gleichen Jahr die große Bewegung des Spiritismus ein. Diese verfolgt die Idee, dass die Verstorbenen und andere Wesen der jenseitigen Welt über begabte Medien und geeignete Methoden mit der diesseitigen Welt kommunizieren können. Bezeichnenderweise fängt das auch im Jahr 1848 in der Nähe von New York an.
Es beginnt mit den bekannten Fox-Schwestern. Diese jungen Frauen berichteten, dass in ihren Wänden intelligente Klopfgeräusche zu hören seien, die ähnlich wie ein Morsealphabet dechiffriert werden könnten. Die Schwestern entwickelten die Idee, dass die Verstorbenen mit ihnen so kommunizieren könnten. Das erregte viel Aufsehen, obwohl die Schwestern später ihren Schwindel zugaben. Interessanterweise spielt ein technologisches Narrativ eine große Rolle, denn sechs bis sieben Jahre zuvor wurde das große Telegrafenkabel zwischen der neuen und der alten Welt gelegt, und so konnte man zwischen zwei räumlich weit getrennten Kontinenten kommunizieren. Das war praktisch der Vorläufer des Internets, und man konnte über Klopfgeräusche, über Morsen, über Telegrafie Mitteilungen versenden. Daraus entsprang die Idee, wenn das technologisch zwischen Menschen funktioniert, müsste das auch mit dem Jenseits möglich sein. Später kam der Computer als Metapher für die Erklärung von Bewusstseinsfunktionen auf. Ich finde es sehr spannend, dass wir scheinbar immer technologische Narrative brauchen, um Bewusstsein zu erklären, denn das Bewusstsein brachte den Telegrafen, den Computer und das Internet hervor.
Aus dieser Telegrafenidee entstand die große Bewegung des Spiritismus – die Annahme, dass so vermeintliche Jenseits-Kontakte hergestellt werden können. Bis in die 1920er/1930er-Jahre durchlief die Bewegung unterschiedliche Wellen. Wilhelm Wundt, der Begründer der akademischen Psychologie in Deutschland, setzte sich stark damit auseinander. Er errichtete in Leipzig 1879 das erste experimentalpsychologische Laboratorium an einer deutschen Universität, um die Psychologie als moderne Naturwissenschaft zu etablieren. Er war dort aber von Spiritisten und Okkultisten umgeben, die eine völlig andere Erklärung für das Bewusstsein hatten. Wundt stellte sich dem, indem er standhaft proklamierte: Ich bin nicht bereit, dieses Jenseits-Kommunikationsparadigma zu glauben, denn in diesem Falle wäre klar, dass die Psychologie mit einer Bewusstseinskonzeption in Verbindung stünde, die nicht empirisch-modernistisch getragen würde, sondern ein metaphysisches Substrat hätte.
Wundt schrieb einen offenen Brief mit dem Titel »Der Spiritismus. Eine sogenannte wissenschaftliche Frage« an seine Widersacher, allen voran an den Astronomen Johann Karl Friedrich Zöllner. Das führte zu einer hitzigen Diskussion. Das ist meines Erachtens die Ursache dafür – so steht das ebenfalls in meiner Dissertation –, dass ein großes Missbehagen entstanden ist, sich mit dem Thema Bewusstsein als nicht-materialistisches und nicht-reduktionistisches Phänomen zu beschäftigen. Diese Episode ist zwar ein Einzelereignis, steht aber sicherlich exemplarisch für Debatten, die an anderen Orten geführt wurden, und dies hat dem Ganzen in meinen Augen einen ziemlichen Drall gegeben.
Wundt, der übrigens selber über seine eigenen mystischen Erfahrungen in seiner Autobiografie berichtet, stellte fest – und das ist, wie ich finde, ein sehr erhellendes Zitat –: »Ich sehe im Gegenteil im Spiritismus ein Zeichen des Materialismus und der Cultur-Barbarei unserer Zeit.« Mit anderen Worten, der Spiritismus ist eine materialistisch deformierte Form von Spiritualität. Die eigentliche Form von Spiritualität, das sagt Wundt als guter Protestant in seiner Biografie, wäre eben daran zu erkennen, dass es nur ein einziges Leben gibt, das unverwechselbar ist und mir von meiner eigenen Identität geschenkt wurde. Die sich daraus ergebende Frage ist: Was mache ich daraus? Das ist in seiner Autobiografie »Erlebtes und Erkanntes« von 1920 noch mal explizit ausgeführt.
Warum beschrieb ich das nun so ausführlich? Weil ich glaube, dass es gut das Dilemma der Psychologie zusammenfasst sowie den Wunsch des Menschen, Kontinuität zu erfahren – diese Wunschvorstellung, dass es immer irgendwie weitergehen muss, da ansonsten alles sinnlos wäre. Wundt sagte sinngemäß: »Na ja, mag schon so sein, aber im Grunde ist es doch resilient, wenn man achtsam die Dinge so sieht, wie sie in dieser Welt eben sind, und dann versucht, daraus das Beste zu machen.« Essenziell ist es, eine ehrliche Selbstwahrnehmung zu entwickeln und sich zu fragen: »Wie schaut’s denn aus, was mache ich damit?« Man braucht nicht irgendwelche metaphysischen Hilfskonstruktionen zu bauen und die in ein wie auch immer geartetes Jenseits hineinzuverlegen. Ist das so weit weg von John Kabat-Zinn, der sagt »Wherever you go, there you are«?
Antworten auf diese Fragen waren auch in der damaligen Zeit von den Menschen sehr gefragt, weil Menschen immer auf der Suche nach Struktur und Halt sind, vor allem in schwierigen Zeiten, sowie nach Ideen und Hilfestellungen, wie sie mit Lebensphasen und situativen Veränderungen umgehen können. Über diese Fragen sind viele materialistische, idealistische und philosophische Einstellungen aneinandergekracht. Was daraus entstand, war in meinen Augen nicht unbedingt immer förderlich – vielleicht erkenntnistheoretisch notwendig, aber nicht unbedingt psychohygienisch zum Wohle und für die Gesundheit der Menschen. Denn wenn man einen geliebten Menschen verliert, bleibt der Wunsch, mit diesem kommunizieren zu wollen und ihm nahe zu sein.
Prof. Dr. Niko Kohls – Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz: Gelassener und stärker durch die richtige Balance
TV: Du würdest also sagen, dass wir diesen nicht-materialistischen Teil in die Psychologie integrieren sollten?
Kohls: Wir müssen uns damit auseinandersetzen und die Frage stellen, was denn unsere Werte seien. Sind unsere Werte ohne Transzendenzbezug aus einem naturalistischen Humanismus ableitbar oder eben nicht? Was für ein Menschenbild wollen wir uns leisten? Was ist Bewusstsein? Ist es rein reduktionistisch erklärbar? Ist es ein Emergenzphänomen? Oder ist es mehr? William James hatte viel Sympathie für die Annahme, dass das Gehirn bloß ein Empfänger für Bewusstsein sei. Wir wissen es nicht, weil das Leib-Seele-Problem nach wie vor ungelöst ist.
Die ethischen Systeme, die dem Menschen eine Sonderstellung geben, gehen interessanterweise davon aus, dass jeder Mensch ein »Zipfelchen Göttliches« an sich habe, und dieser heißt auf Lateinisch »apex mentis«. Dieser Seelengrund im Sinne des Zipfels des Geistes ist nicht verhandelbar, denn nur so kann er dem Menschen implizite Würde verleihen und unveräußerliche Rechte als Individuum, als Souverän, zugestehen. Wenn man das nur rein materialistisch-biologistisch betrachtet, dann gelangt man an einen Punkt, wo man sagen muss: Das ist sehr kurz gedacht, denn wenn diesen »apex mentis« nur der Mensch hat, was ist dann mit den Tieren? Das meinte René Descartes, er ging davon aus, dass nur der Mensch eine Vernunftseele hat. Was ist dann aber mit den Affen, von denen wir heute wissen, dass sie in einer evolutionären nahen Verbindung zu uns stehen? Warum können wir das ihnen ab- und uns zusprechen?
Viele Inkongruenzen machen sich in diesem Weltbild bemerkbar, die nur vermeintlich unter den Tisch gekehrt werden konnten, weil mittlerweile auch die religiösen und metaphysischen Elemente, die diese Bilder trugen, zerstört wurden. Jetzt steht die große Frage im Raum: Was ist das Neue, was diese alten Bilder ersetzen kann?
Ich wage zu bezweifeln, dass ein modernes, moralisch-ethisches System ohne eine transzendente Dimension auskommt.
Die Antwort, die ich darauf geben kann, ist vorrangig, dass es nicht einfach ist, ein Substitut zu finden. Ich wage zu bezweifeln, dass ein modernes, moralisch-ethisches System ohne eine transzendente Dimension auskommt.
TV: Ich bin ganz deiner Meinung! Wir kommen ohne den transzendenten Faktor nicht aus. Was spricht dagegen, ihn zu postulieren? Man müsste ihn axiomatisch in die Wissenschaftstheorie einführen. Man kann ihn als ein Axiom setzen und daraus Erklärungen ableiten. Wissenschaft funktioniert empiristisch, so wie wir es traditionell kennen, aber sie geht dennoch von Axiomen aus. Das hat Edmund Husserl gezeigt. Was spricht also dagegen, die Wissenschaft zu erweitern, denn es kommen dann bei der Theoriebildung andere Ergebnisse heraus.
Kohls: Ich bin kein Physiker, aber ich glaube, dass man natürlich beginnen kann, diese Sachverhalte physikalisch abzuleiten, und das ist möglich. Kant hat – darüber sprachen wir bereits – die Theorie von Raum und Zeit als a priori gegeben gesetzt. Die spätere Physik, allen voran Einstein in seinem annus mirabilis 1905 mit der speziellen Relativitätstheorie zeigte, dass Raum und Zeit nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Es existiert eine Raumzeit, und diese kann empirisch beschrieben werden. Das bedeutet, dass in dieser Raumzeit die Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen, eine Rolle spielt. Deswegen ist es als relativistisch zu betrachten. Wenn das aber so ist, muss man erkennen, dass jeder Punkt in dieser Raumzeit-Matrix auf eine gewisse Art und Weise mit jedem anderen Punkt verbunden ist. Somit wird klar, dass wir uns nicht in einem separierten System befinden und uns Menschen als abgesondert betrachten können. Es gibt im Deutschen das Wort »UMwelt«. Das ist ein Unwort, da es suggeriert, dass es uns gibt und eine Welt um uns herum.
Während wir dieses Interview führten, haben wir ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet, also ist in meinen Lungen Sauerstoff, der notwendigerweise dort sein muss, damit ich leben kann. Jetzt ist die Frage: Bin das ich, oder wo ist die Grenze zwischen mir und der Umwelt? Ist die Luft, die ich atme, ein Teil von mir oder Teil der Umwelt? Daran erkennt man, dass es keine klaren Grenzen gibt. Sie sind jedenfalls relativ und infrage zu stellen. Das Spannende an der Geschichte ist, einzusehen, dass Spiritualität oder Achtsamkeit uns helfen, zu erkennen, dass diese Grenzen nicht absolut, sondern psychologische Setzungen sind. Diese können wir permeabler, durchlässiger machen. Nicht notwendigerweise auf biologisch-physikalischer Ebene, sondern auf psychologischer. Diese psychische Ebene kann wiederum, wie die Placebo-Wirkforschung zweifelsfrei gezeigt hat, auf die somatische Ebene zurückwirken. Kann man diese Prozesse daher als weniger real bezeichnen?
Das liegt daran, dass wir deutlich verbundener mit der Umwelt, den Mitmenschen und allem, was lebt, sind.
Offen zu sein und sich gleichzeitig abzugrenzen, das muss jeder Organismus leisten. Gleichzeitig entsteht damit das Problem, dass wir häufig energetisch in einem tendenziell schwierigen Zustand sind. Das liegt daran, dass wir deutlich verbundener mit der Umwelt, den Mitmenschen und allem, was lebt, sind. Wir entwickeln dabei Empathie, und diese ist eine knappe Ressource. Empathie ist neurobiologisch betrachtet kostenaufwendig, weil sie dazu führt, dass ich die Gefühle, die du spürst, seien sie positiv oder negativ, eins zu eins spiegele. Wenn du dich freust, freue ich mich mit dir, aber wenn du traurig bist, bin ich ebenfalls traurig.
Wenn es fünf Menschen schlecht geht, dann versuche einmal, allen gegenüber Empathie zu empfinden. Du wirst schnell bemerken, dass dein innerer Tank versiegt. Gerade die Menschen, die in einen Burn-out-Zustand geraten, haben nicht gelernt, sich abzugrenzen. Sie haben den Wunsch, zu helfen, und werden durch die Schicksale von anderen Menschen in Mitleidenschaft gezogen. Wir alle erleben dies in Anbetracht dieses fürchterlichen Kriegs in der Ukraine, wie hilflos und wie ohnmächtig es uns macht, wenn wir Fernseher oder Radio oder Internet einschalten und ungläubig in diese Gräueltaten reinstarren. Gleichzeitig lassen uns andere Kriegsschauplätze wie Syrien, die weiter weg sind, mitunter aber eher kalt. Ähnlich verhält es sich mit Amokläufen oder anderen schlimmen Ereignissen, die weiter weg stattfinden. Bei Corona war das mit den Masken anfangs ebenfalls so: »Ach ja, das betrifft halt die Chinesen …« Das war nicht so nah an unserer Ich-Grenze. Warum ist das so?
Ich denke, dass viele Menschen, die stark verbunden, sehr emphatisch sind – manchmal spricht man in diesem Zusammenhang über Hochsensibilität –, ein hohes Vulnerabilitätsfenster haben, um in Burn-out-Zustände reinzurutschen. Die Burn-out-Phänomenologie, der Prozess dahinter, kann dazu führen, dass Menschen sich stark abgrenzen und am Ende einen Zusammenbruch erleiden. Die Frage ist, wie sinnvoll das ist: erst totale Offenheit und dann absolute Blockade.
Für biologische Lebenssysteme ist eine totale All-Verbundenheit meines Erachtens nicht vorstellbar, weil es mit der Aufgabe der Individualität einhergeht.
Für biologische Lebenssysteme ist eine totale All-Verbundenheit meines Erachtens nicht vorstellbar, weil es mit der Aufgabe der Individualität einhergeht. Damit setzt diese »local agency«, das lokale Agententum, mit dem wir uns als eigenständig, autonom handelnde Individuen sehen, einige Partitionierungen voraus.
Doch durch Achtsamkeit und Spiritualität kann man lernen, Empathie in echtes Mitgefühl umzuwandeln. In unserem Bildungssystem wird dies allerdings kaum angegangen und wenn, dann nur schlecht umgesetzt. Mitgefühl bedeutet, dass ich nicht emotional mitschwinge, aber ich bin mir bewusst, dass ich mich im Sinne der theory of mind in den anderen hineinversetzen kann. Somit ist die nächste Frage: Was kann ich tun, damit es dem anderen ein bisschen besser geht?
Diese Anwendung der theory of mind kennen wir alle: Wir machen das, wenn wir einen Bettler sehen und ihm fünf Euro geben. Wir fühlen nicht mit ihm mit, aber wir haben ihm etwas gegeben und uns so ein gutes Gefühl erkauft, gemeinsam mit der Erkenntnis, dass wir irgendwie doch ein guter Mensch sind.
Wenn es einem gelingt, Empathie in Mitgefühl zu verwandeln und Mitgefühl in professionelle Fürsorge zu transformieren, kann man die weiterführende Frage stellen: Was braucht dieser Mensch gerade am meisten und was kann ich ihm geben, ohne mich zu überfordern oder unmoralisch zu handeln? Das ist genau das, was die psychosozialen Professionen in Medizin, Pflege, Gesundheitsförderung oder Sozialer Arbeit machen sollen: zu erkennen, was fehlt und was ich tun kann, ohne in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Das ist eine zentrale und essenzielle Aufgabe, vor der wir stehen. Wir sollten keinesfalls die Empathie reduzieren und uns zu unempathischen Robotern machen. Vielmehr sollten wir lernen, achtsam mit unseren Ressourcen umzugehen und unsere psychologische Schnittstelle zur Welt in eine Schwingung zu versetzen, die sowohl uns als auch unserer Umwelt guttut. Achtsamkeit und Spiritualität sind die Schlüssel dafür, dies wussten bereits die Altvorderen. Gleichzeitig sind es die dringend benötigten Future Skills, die Eingang in die Bildungssysteme finden müssen.
Der Medizinpsychologe Prof. Dr. Niko Kohls beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren wissenschaftlich mit Achtsamkeit, Spiritualität und ihrem Zusammenhang mit Selbstregulationsfähigkeit, Resilienz und Gesundheit. Seit 2013 ist der gebürtige Münchner an der Hochschule Coburg als Professor für Gesundheitswissenschaften mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung tätig. Im Sommer 2022 ist sein Buch Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz – Gelassener und stärker durch die richtige Balance erschienen. Niko Kohls unterrichtet seit über 25 Jahren als Dozent an Universitäten und Hochschulen, hat mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen verfasst sowie mittlerweile über 500 Keynotes, Vorträge, Seminare und Workshops für Schulen, Hochschulen und Unternehmen abgehalten.
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