Martin Auffarth – Atem der Welt

Das Vaterunser in der aramäischen Muttersprache von Jesus

Übersetzungen kommen dem Originaltext oft nur bedingt nahe. Besonders kritisch wird es, wenn es sich um einen sehr alten Text handelt, der zudem noch spirituelle Inhalte vermittelt. Die genaue Untersuchung des Aramäischen und seine Neuübersetzung ins Deutsche zeigt eine andere Bedeutung und Stimmung des Vaterunsers. Diese neue Übersetzung moralisiert nicht und klingt überraschend modern. Zutage tritt wahres spirituelles Wissen.
Der Text ist eine Synopse des Vaterunsers in der ökumenischen Fassung, im aramäischen Wortlaut und in einer vom Autor gewählten Bedeutungsvariante.

Sprache ist Musik. Sie ist Klang, will gehört werden und resonieren. Zunächst und vor allem in der Muttersprache. Diese ist originell, hat ihren eigenen Sound, der unnachahmlich ist und sich eigentlich nicht übersetzen lässt. Es braucht demnach Einfühlungsvermögen, um dem ursprünglich Gemeinten möglichst nahe, möglichst authentisch nahezukommen. Machen wir die Probe aufs Exempel. Im Deutschen können wir zu jemandem sagen: »Ich habe dich zum Fressen gern!« Deutsche Muttersprachler wüssten, was gemeint ist. Doch übersetzen Sie dies ins Englische, wortwörtlich. Englischmuttersprachler würden uns mit entgeisterten Gesichtern ansehen und mit verblüfften Ohren kopfschüttelnd zuhören: »Hä, was meinst du?«

So kennt auch das Aramäische, die Muttersprache von Jesus, Worte, die – vor uns ausgebreitet – uns staunen lassen: »Ah, so ist das gemeint?! Ah, jetzt verstehe ich den bislang überlieferten Wortlaut des Vater-unser-Gebets doch anders, tiefer und mit neuer Aufmerksamkeit.« Ein Wort dieser Muttersprache weist viele und zumal recht unterschiedliche Bedeutungsvarianten auf. Als wir in einem unserer evangelischen Gottesdienste in Freiburg diese aramäischen Varianten aufgreifen wollten, war zufällig ein Aramäisch sprechender Christ unter den Feiernden. Er bot uns an, dieses Gebet in seiner Muttersprache zu Gehör zu bringen. Er leitete es mit diesen Worten ein: Die aramäische Gebetsanrede »Abwûn d’bwaschmâja« kann folgendermaßen übersetzt werden: »Du, mein Geliebter« oder »Du, mein Augapfel«. Wie anders klingt das als die gewohnte Anrede: »Vater unser im Himmel …« – oder? Danach sprach er dieses Gebet in der Art, wie Jesus es gesprochen haben könnte oder gebetet hat – in dessen Muttersprache Aramäisch. Was für ein Raumklang!

Martin Auffarth
Im Folgenden werde ich in jedem Abschnitt die gewohnten deutschen Worte zitieren, den aramäischen Wortlaut hinzufügen und danach aufzeigen, wie es übersetzt werden kann, jeweils begleitet von Anregungen für die persönliche Meditation oder kleinen Experimenten. Von den vielen Varianten wählte ich immer die aus, die in mir eine vibrierende Resonanz hervorzurufen vermögen1Wer sich weiter in das aramäische Vaterunser vertiefen will, den und die weise ich hin auf Neil Douglas-Klotz, Das Vaterunser. Meditationen und Körperübungen zum kosmischen Jesusgebet. 1992 erstmals in Deutsch veröffentlicht, jetzt in Neuauflagen erhältlich. Diesem Buch entnahm ich auch die Übersetzungsvarianten, die ich hier jeweils wiedergebe., also Musik und Klang sind. Haben Sie nun Lust, Gewohntes anders und neu zu vernehmen?

Vater unser im Himmel – Abwûn d’bwaschmâja

In der Rückübersetzung aus dem Aramäischen in dieser Variante: »Atem der Welt. Wir hören dich atmen. Ein und aus – in Stille.«

Die hebräische Bibel beschreibt in ihren ersten Erzählungen, dass Gott aus Materie, aus Erde also, den physischen Menschen formt, und dies übersetzte Martin Luther dann so wortmächtig2Genesis 2, 7: »Da blies Gott dem Menschen seinen Odem ein. Da erst ward der Mensch lebendige Seele. Da erst.« Wir nehmen also, wenn wir einatmen, Sauerstoff ein. Ein Geschenk des Himmels. Wir bereichern sodann die Schöpfung durch unser Ausatmen: ein … und aus … Ein einfaches Beispiel: Ein Baum bietet seinen Sauerstoff für ca. 30 Menschen an, diese 30 Menschen bieten dem Baum wiederum ihren Kohlenstoff an. Allein dieser Vorgang verbindet den Menschen mit der Schöpfung, verbindet die Schöpfung mit uns und eigentlich mit allem, was atmet. Mehr noch: In diesem Vorgang atmen wir zugleich den Atem Gottes ein, der uns und das gesamte Universum belebt, und dabei atmen wir in Gott aus. Das einfache Ein- und Ausatmen verbindet uns untereinander, verbindet uns mit Gott, mit der gesamten Schöpfung, im Nehmen und Geben, mit jedem Atemzug. Vom Aramäischen her: »Atem der Welt. Wir hören dich atmen, ein und aus – in Stille.« Was für eine Einstimmung ins Beten! 

Experiment – Meditation:

(Wer will, schließt die Augen) Ich atme ein – ich atme aus – einatmen – ausatmen … mehrfach wiederholen … als Geschöpf verbinden wir uns mit der Schöpfung – die Schöpfung verbindet sich mit uns … mehrfach wiederholen … ich atme Gott ein – ich atme in Gott aus … mehrfach wiederholen … Was für ein Vorgang, was für ein Geschenk!

Gott gab uns Atem, damit wir leben,
er gab uns Augen, dass wir uns sehn.
Gott hat uns diese Erde gegeben,
dass wir auf ihr die Zeit bestehn.
Gott hat uns diese Erde gegeben,
dass wir auf ihr die Zeit
bestehn.3Text: Eckart Bücken 1982, Melodie: Fritz Baltruweit 1982

Geheiligt werde dein Name – Nethkâdasch schmach

Oder jetzt von Jesus’ Muttersprache her: »Dein Name, dein Klang, überall ist er, bewegt uns, wenn wir unsere Herzen auf deinen Ton einstimmen.«

Was wir gerne mit dem Wort »Gott« übersetzt bekommen, ist in der hebräischen Bibel kein Begriff, sondern eher eine Beschreibung dessen, was damit gemeint sei. In diesem Falle beispielsweise das Substantiv »Schem« (Übersetzung: Name).

Alles ist vom Ursprung her so, dass es vibrieren möchte, klingen will, dass es aus der Starre in eine Lebendigkeit zurückkehren kann und möchte.

Lautmalerisch ausgesprochen als »schemmm«, und schon hören wir es in der Bedeutung von Klang, von Frequenz, von Schwingung, als Name. Ja, alles klingt. Alles ist vom Ursprung her so, dass es vibrieren möchte, klingen will, dass es aus der Starre in eine Lebendigkeit zurückkehren kann und möchte. »Nada Brahma« heißt es in den Veden: »Gott ist Klang. Klang ist Gott.« Jede Zelle von ca. 90 Billionen im menschlichen Körper schwingt. Organe, wenn sie gesund sind, vibrieren4Gesund stammt etymologisch von dem Wort sound ab, wir gesounden also, etwas wird wieder stimmig, auch die Interaktionen oder Themen oder Menschen oder Projekte sounden, wir stimmen überein, wir erkennen in ihnen den gemeinten, den universalen Ursound. Das Wort Gesundheit, und wie wir es alltagssprachlich verwenden, ist nahezu ausschließlich auf die physische Gesundheit getrimmt und damit verengt oder kastriert worden. Viel weiter sowie umgreifender ist hingegen die Definition der WHO, die das Physische wie das Emotionale wie auch das Soziale und mehr immer zugleich mit meint. Diese Definition kommt dem Wort Gesoundheit wesentlich näher., ebenso Gewebe, Bäume, Ameisen, Ozeane. Pulsare, also schnell rotierende Neutronensterne, knattern wie Kastagnetten. Die Forschung bestätigt, dass alles Klang sei. An uns gerichtet ist: Hören, aufhören im Sinne von einen Punkt setzen, pausieren. Aufhorchen: »Unsere Herzen auf deinen Ton einstimmen.« 

Experiment – Meditation: 

Eine Stimmgabel oder eine Klangschale anschlagen, hörbare Vibrationen, sich auf diesen Ton einstimmen und sich davon berühren lassen. »Dein Name, dein Klang, überall ist er, bewegt uns, wenn wir unsere Herzen auf deinen Ton einstimmen …« Wer entsprechende Stimmgabeln oder Klangschalen hat, kann diese auf den Körper ansetzen und die oft verhärteten Körperregionen wieder ins Vibrieren bringen, in ihre ursprüngliche Lebendigkeit. Denn sie wollen wieder im O-Ton erklingen.

Ich sing dir ein Lied – in ihm klingt das Leben.
Die Töne, den Klang hast du mir gegeben.
Von Wachsen und Werden, von Himmel und Erde,
du Quelle des Lebens. Dir sing ich mein Lied.
5Text: Fritz Baltruweit, Barbara Hustedt 1994, französisch: Danielle Guerrier Koegler 2015; Melodie aus Brasilien, tvd-Verlag, Düsseldorf.

Dein Reich komme – Têtê malkuthach

Wiederum aus dem Aramäischen übertragen: »Vereinige unser ›ich kann‹ mit dem deinen, als Königliche lass uns alle Kreatur begleiten.«
Wann kommt das Reich Gottes, wovon seit Jesus’ Zeiten gesprochen wird? Dieser erzählt zu der Sehnsuchtsfrage einfach ein Gleichnis6Markus-Evangelium 4, 30–32: »Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen? Es ist mit ihm wie mit einem Senfkorn, das, auf die Erde gesät, kleiner ist als alle Samenkörner, die es gibt. Sobald es aber gesät ist, geht es in die Höhe, wird größer als alle Gartengewächse, treibt große Zweige, so dass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten.« 

Schaut vor allem, zuerst und immer wieder auf das, was nach dem Reich Gottes riecht. Was nach Gott schmeckt.

Gemeint ist Schwarzer Senf: 1 mg »schwer«, 0,9 mm, also stecknadelkopf-»groß«. Dieses kleine Etwas wächst als Gartenpflanze baumartig heran und wird an den Ufern des Sees Genezareth gerne einmal drei Meter hoch. Schaut doch, sagt Jesus damit, was dieser Winzling, was das Reich Gottes kann, wie klein und unscheinbar es beginnt und mit wie viel Entwicklungskraft es daherkommt. Schaut in die Schöpfung. Schaut euch um im Alltäglichen. Hört zuvorderst nicht auf die Schwarzmalszenerien, die euch tagtäglich auf die Ohren getrommelt werden, schaut vor allem, zuerst und immer wieder auf das, was nach dem Reich Gottes riecht. Was nach Gott schmeckt. Was sich entwickelt. Schaut euch um, schaut euch weltweit bedingungslos nach solchen Beispielen um. Überall sind sie – schon jetzt! Ändert eure Wahrnehmung, richtet sie daraufhin aus! Seid und werdet selbst ein Beispiel, ein Gleichnis. Wie das?

Experiment – Meditation:

(flache Hand öffnen) Jede und jeder bekommt – in Stille – ein virtuelles oder tatsächliches Senfkorn in die Hand gelegt, spürt sein »Gewicht«, sieht seine Größe, hört dann wie vom Himmel diese Worte: »Das Reich Gottes, dir in die Hand gegeben!« Welch ein Zutrauen, welch ein Staunen, berührende Dankbarkeit, seelentiefe Wertschätzung. In mir, durch mich darf es geschehen, geschieht es: »Vereinige unser ›ich kann‹ mit dem deinen, als Königliche lass uns alle Kreatur begleiten.«

Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – Nehwê tzevjânach aikâna d’bwaschmâja af b’arha

Wir hören im gewohnten Wortlaut die Unerbittlichkeit des Wortes »Wille«. »Will« Gott etwas durchdrücken, nötigt er uns zu einem »Muss«? Und was würde folgen, wenn wir seinen Willen nicht erfüllten? Nein, so ist es absolut nicht gemeint. In Jesus’ Muttersprache finden wir dort das Wort »Übereinstimmung suchen« oder auch das Wort »Herzenswunsch«. Wie wenn Gott uns zuflüstern würde: »Du, ich habe da einen Herzenswunsch. Du, ich, wir könnten ihn gemeinsam in Erfüllung gehen lassen: Dein Herzenswunsch, Gott, der du Klang bist, wirke in uns Mitgefühl für uns selbst, ebenso wie in allem Licht so in allen Formen.«

Experiment – Meditation: 

Nimm, wenn du hast, eine Stimmgabel zur Hand, schlage sie an und vernimm ihre Vibration, ihren Ton. Das könnte so viel heißen wie: Ich stimme mich auf den Gotteston ein, dann finde in dir selbst (d)einen Ton, der zu diesem Ur-Ton stimmig wird: Summe … singe … wunderschön, klangreich, raumfüllend wird dies sein, wenn ihr das in einer Gruppe antönen lasst. Wir sind, wir werden zum Instrument der Schöpfung. Alles ist Instrument der Schöpfung. Wir sind Co-Kreatoren mit dem Urton, mit Gott zusammen, nichts weniger als dies – ich, wir spüren diese Wertschätzung. 

Martin Auffarth
Ein Besonderes könnte sein, wenn wir uns im Gespräch danach darüber verständigen, wie wir als Gruppe oder ein jeder für sich in der nächsten Zeit zum Co-Kreator werden oder zur Co-Kreatorin bereits geworden sind. Ich sing dir mein Lied – in ihm klingt mein Leben. Den Rhythmus, den Schwung hast du mir gegeben, von einer Geschichte, in die du uns mitnimmst, du Hüter des Lebens. Dir sing ich mein Lied.7Text: Fritz Baltruweit, Barbara Hustedt 1994, französisch: Danielle Guerrier Koegler 2015; Melodie aus Brasilien, tvd-Verlag, Düsseldorf

Unser tägliches Brot gib uns heute – Hawvlân lachma d’sûnkanân jaomâna

Oder in der aramäischen Bedeutung: »Lass uns für heute zukommen, was wir an Brot und Einsicht brauchen.« Was für eine schöne Erweiterung oder soll ich sagen Erheiterung? Wir sind – eigentlich seit geraumer Zeit – in unserer Gesellschaft vor die Entscheidung gestellt: Wollen wir bedarfsweckend leben, also in einer Wirtschaft, in der stets neue Bedarfe geweckt werden, damit sie floriert? Wirtschaft muss doch wachsen, muss »brummen«? Dementsprechend konsumieren wir, müssen konsumieren noch und nöcher. Mit der Folge, dass bei uns selbst, bei anderen, in der Schöpfung dadurch weiterhin Ruinöses geschieht. Oder wollen wir das Leben bedarfsdeckend gestalten? Also so leben und die Schöpfung sowie Wirtschaft so gestalten, dass es letztlich allem Leben, allen Menschen, auch global, zugutekommt? Das ist die große Alternative, an der wir uns täglich orientieren können in der Art, wie zunächst wir als einfache Menschen diese Frage beantworten. Aber auch Impulse setzen, die über uns hinausgehen, wenn und weil wir uns zusammentun. Eine, wenn mensch so will, hochbrisante Bitte in diesem Gebet. 

Experiment – Meditation:

Als Hintergrund zu dieser Bitte vernehmen wir: Wenn im Orient Brot auf den Tisch kommt, ist Lüge, jegliche Lüge und Trickserei fehl am Platz. Dann erscheint zugleich die Wahrheit, es »kommt alles auf den Tisch«. Verkoste also einen Bissen köstlichen Brotes, genieße die Konsistenz, die Aromen, wenn du willst, setze deinen Tag danach fort und mache dich dabei ehrlich, lasse den Tag Revue passieren, gehe dabei aus jeglicher Bewertung heraus, oder wenn du dich dabei »erwischst«, dann mache dir auch dies bewusst.

Die Schöpfung in ihrer Gesamtheit ist immer mit am Tisch.

Das andere: Wenn zur Zeit von Jesus Brot auf den Tisch kam, dann wird immer mitbedacht, dass eventuell ein Fremder hinzukommt. Der ferne und der nahe Nächste, heutzutage ob hier oder in Südamerika oder anderswo. Ganz konkret jetzt: Am Tisch, bei einer Vorstandssitzung und wo auch immer wird ein Stuhl frei gehalten, für einen virtuellen Gast. Sei es ein Kind, sei es die Baumwollpflückerin für unsere Jeans usw. Im Beisein dieser Menschen werden wir anders reden, anders entscheiden, anders zu wirtschaften beginnen. Die Schöpfung in ihrer Gesamtheit ist immer mit am Tisch. So gerät ein anderes Konsumdenken, ein anderes Lebensverständnis ins Blickfeld. »Lass uns für heute zukommen, was wir an Brot und Einsicht brauchen.«

Und die dritte Anregung: Gehe ins Internet und forsche nach: »Nur für heute werde ich …« – »Die 10 Gebote der Gelassenheit« von Papst Johannes XXIII. Die Betonung liegt dann auf: »Lass uns für heute zukommen, was wir …«

Brich mit den Hungrigen dein Brot,
sprich mit den Sprachlosen ein Wort,
sing mit den Traurigen ein Lied,
teil mit den Einsamen dein.
8Text: Friedrich Karl Barth 1977, Melodie: Peter Janssens 1977

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – Waschboklân chaubên (wachtahên) aikâna daf chnân schvoken l’chaijabên

Ich frage zunächst: Kennen Sie das beliebteste Gesellschaftsspiel weltweit? Ist es Monopoly, »Mensch ärgere dich nicht!« oder …? Weder noch. Es nennt sich »Nicht ich bin schuld, du bist daran schuld«. Schuld lässt sich aber nicht einfach festlegen, Schuld ist etwas Komplexes. Am Ukrainekrieg ist nicht Putin alleine schuld. Das Geschehen ist ein komplexes Gewirre, vieles ist dem vorausgegangen und auch währenddessen häuft sich Komplexes an. Letztlich ist die gesamte Weltordnung und die globale Verflechtung daran beteiligt. Wenn Zoff in der Bude ist, ist nicht allein der Moment zu betrachten, sondern was vielleicht Jahre voraus bereits entstanden ist und jetzt gerade neu aufflammt und triggert. In der aramäischen Rückübersetzung lautet diese Bitte so: »Löse die Verwicklungen, die uns binden, wie wir loslassen, was uns bindet an die Verwicklungen anderer.« Ich stelle mir also ein verheddertes Wollknäuel vor, an dem eine Katze sich tagelang vergnügt hat. Das jetzt aufdröseln? Da braucht es Einsicht, ein Aufeinanderzugehen, den Wunsch, dass Verständigung möglich ist. Dies wiederum fordert eine Entscheidung – zuerst von mir selbst! Zuerst von uns selbst! Ich, für mich, löse den Teil der Verwicklungen in mir und zwischen uns. Vielleicht ist dann ein anderes Aufeinanderzugehen möglich. Meinerseits ja. 

Experiment – Meditation:

Wer möchte, den und die lade ich zu einer Meditation ein. Wer will, hört zunächst einfach nur zu: »Immer wieder beurteilen wir Menschen, bewerten sie, bis dahin auch, dass wir sie verurteilen. Und umgekehrt: Auch ich bin beurteilt worden, bewertet, bis dahin, dass ich verurteilt wurde. Ich glaube zu wissen, was für andere richtig ist, oder andere glaubten das für mich. Es ist an der Zeit, Frieden zu finden, mit mir selbst und anderen … wenn du also willst, schließe die Augen, lege deine Hand auf die Brustmitte, du verbindest dich damit mit dem Zentrum deines Seins … zugleich mit Gott, atme Gott ein und atme in Gott aus … stelle dir sodann einen Menschen vor, den du bewertet und verurteilt hast … schaue ihm in die Augen … reiche ihm, in deiner Zeit, virtuell die Hand … und dann fülle euer Miteinander mit der Wärme deines Herzens … das tue sodann auch mit einem Menschen, der dich bewertet und verurteilt hat … schaue ihm in die Augen … reiche ihm virtuell die Hand … dann fülle euer Miteinander mit der Wärme deines Herzens … danke!9Uwe Albrecht, Ich darf das! Innerwise-Verlag

Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen – Wela tachlân l’nesjuna ela patzân min bischa

Ganz klar und hier an dieser Stelle knapp gefasst: Gott führt nicht in Versuchung, wozu auch?! In der aramäischen Fassung steht dort das Wort Verwirrung oder auch Vergesslichkeit oder auch Materialismus. Sich in etwas verlieren, sich verrennen, sich verwirren lassen, ob es uns guttut oder nicht. Wir lassen uns beispielsweise gerne einmal in materielles Denken verführen, uns von einer Ansicht mitnehmen wie die Windfahne, die, je nachdem, woher der Wind kommt, sich mitdreht. Wo bleibt die eigene Meinung aus der Mitte meines Herzens, der Austausch unterschiedlichster Meinungen? Auch diese Bitte aus dem Aramäischen heraus hat es in sich, jetzt zum Genießen und Aufhorchen: »Lass oberflächliche Dinge uns nicht irreführen, befreie uns von dem, was uns von unseren wahren Zielen abhält.« Kon-Zentration also, aus der Mitte heraus wahrnehmen, sich zum Ausdruck bringen mit dem, was ich ursächlich bin. Lebensdienlich sein für alles. Lebensdienlich werden für alles. Das ist doch der tiefe Sinn, wozu es mich, wozu es uns geben muss. Ich in meiner Art trage das Meine bei – zum Gesamten! Andere tun das in ihrer Art. Was für eine Symphonie, was für ein Konzert!

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit – Metol dilachie malkutha wahaila wateschbuchta l’ahlâm almîn

Jedes Gebet, die Psalmen, das Vaterunser werden oft mit einem Lobpreis gerundet. Wie um all das zuvor Gemeinte zu bündeln, wie um sich zu erinnern, woher unsere Schöpferkraft und die allen Lebens bis weit in den Kosmos hinein letztlich kommt. Wir sagen manchmal: »Das alles habe ich aus mir heraus erschaffen.« Das mag aufs Erste sogar stimmig sein. Bei näherer Betrachtung jedoch schöpfen wir aus einer schier unermesslichen Quelle der Inspiration, einer universalen Schaffenskraft. Wir sind es, die dieser Quelle, dieser Schaffenskraft Ausdruck verleihen, wir mit unserem Können und Vermögen, das nur wir so haben und können. Diese Originalität macht uns besonders. Diese Doxologie am Schluss eines Gebets, einer Meditation konzentriert uns auf diese uns geschenkte Möglichkeit. 

Nun wieder aus dem Aramäischen rückübersetzt: »Aus dir kommt das erstaunliche Feuer, die lebendige Kraft zu handeln, das Lied, das alles verändert und sich von einer Zeit zur anderen erneuert.« 

Experiment – Meditation:

Fange an zu tönen, finde den Urton, baue darauf deinen Gesang auf, singe, finde eigene Melodien, chante, »melodiere« Wiederholungsgesänge, die das Göttliche preisen, für dich oder mit anderen. Oder auch: Entzünde ein Feuer und erfreue dich daran. Die Leidenschaft, für etwas zu brennen, Licht in der Dunkelheit. Gemeinschaft, weil wir gerne ums Feuer herum sitzen, klönen, singen, träumen. Oder auch: Das Feuer betrachten, wie es in seiner Glut und den Flammen längst Erstarrtes, Althergebrachtes in seinen Flammen aufgehen lässt.

Amen – Amên

Auch dieses Wort findet sich oft im Beenden eines Gebets. Es bekräftigt das in der Meditation Erlebte: »Vertraue!«10Amen ist abgeleitet vom hebräischen Wort für Vertrauen, in sich stabil und beweglich zugleich sein, wie ein im Wind bewegter Baum, der gut gewurzelt ist und zugleich mit dem Wind spielen kann, in seiner Beweglichkeit.

Da tut sich was! Du bist nicht mehr die oder der, die oder der du warst, bevor du ins Beten hineingegangen bist. Du bist verwandelt, du bist mehr du selbst. Du kommst dem näher, was deine Bestimmung, was deine Lebensaufgabe, dein Lebenssinn ist. Atme tief ein und tief aus. 

Dieses Wort findet heutzutage – bei einem Schwenk in die Quantenphysik – noch eine andere Bedeutung, die es schon immer hatte. Aber nun bekommt es von dieser »Neuen Physik« eine wissenschaftliche Nähe und Rückendeckung. Dort reden wir von Welle und Teilchen, was in der Möglichkeit immer beides zugleich ist. Etwas ist energetisch und Materie zugleich. Es bedarf der Entscheidung der Beobachtenden, in welche Richtung es geht. Die Möglichkeit, die Potenzialität ist immer vorhanden, hat immer die Tendenz, real zu sein, real zu werden. Was für eine Weite, was für ein Horizont, was für Zukunftsaussichten. Schon jetzt. Das Amen kann und muss also aus dem Aramäischen so übertragen werden: »Amen: So ist es – schon jetzt. Amen: So (!) möge es sein.«

Experiment – Meditation:

Nochmals greifen wir die Doxologie von weiter oben auf, in einer der möglichen Bedeutungsvarianten könnte sie auch so rückübersetzt werden: »Gott, deine Schöpfung ist der Erdboden voller Vitalität und Potenzialität, ist ein Geschenk, uns zu guten Händen anvertraut …« 

Nimm bei Gelegenheit etwas Erde, Materie, wie wir selbst Materie sind, und vertraue dieser Erde Samen an, welche Art auch immer du dafür verwenden willst. Dann beobachte, wie etwas sprießt, wächst, ganz aus sich heraus, ganz ohne unser Zutun. Der Same weiß, was in ihm steckt, er ist intelligent wie alle Schöpfung und alle Potenzialität will er auskosten. Schaue immer wieder mal vorbei, was daraus wird, und im Schauen weißt du auch, wie Hoffnung keimt und wächst, aus sich heraus. Na ja, ein bisschen Wasser ab und an, das steuern wir gerne bei.

Der Same weiß, was in ihm steckt, er ist intelligent wie alle Schöpfung und alle Potenzialität will er auskosten.

Ganz genial wäre natürlich, wenn du die Möglichkeit hast, gemäß dem Satz von Martin Luther »Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen« ein Event aufzuziehen, vielleicht mit anderen zusammen, in dessen Verlauf ihr tatsächlich angesichts dessen, was wir ruinös veranstalten, ein Bäumchen pflanzen könntet. Vielleicht als feierlichen und krönenden Abschluss eines Meditationsnachmittags oder -tags mit dem aramäischen Vaterunser und den oben skizzierten Anregungen. 

Martin Auffarth

Zum Autor

Martin Auffarth, protestantischer Pfarrer i. R., Coach in eigener Praxis, Freiburg

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