Tilmann Haberer

Tilmann Haberer – Von Gott und der Welt

Hat das Christentum heute noch Relevanz?

Der Autor ist evangelischer Pfarrer und liefert mit seinem Beitrag das dringend notwendige Update für das Christentum. Missbrauchsfälle und prärationale Glaubensinhalte machen das Christentum zu einem Auslaufmodell. Aber es gibt ein anderes Verständnis: das integrale Christentum und den Kosmischen Christus. Damit können wir unsere angestammte europäische Tradition neu beleben und mit den Erkenntnissen der Postmoderne in Einklang bringen.

Das Christentum mit seinen großen Narrativen hat einen schweren Stand in der zeitgenössischen Kultur und in der spirituellen Szene der Gegenwart. Mit gutem Grund. Die Kirchen sind in erklecklichem Ausmaß selbst schuld an ihrem üblen Leumund. Sie erscheinen rückständig, verknöchert und teilweise reaktionär. Da kommen etwa seit einigen Jahren unerhörte Missbrauchsgeschichten ans Licht, und die Verantwortlichen, bis hin zu einem ehemaligen Papst, schaffen es nicht, eigene Schuld und eigenes Versagen einzugestehen und öffentlich um Vergebung zu bitten – und das in einer Institution, die angeblich aus der Botschaft von der Vergebung lebt. Da unterstützt das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, der Patriarch von Moskau, den Angriffskrieg Wladimir Putins gegen die Ukraine, und als Begründung muss nicht nur die angeblich gottgegebene Größe der russischen Nation herhalten. Der Kirchenfürst behauptet auch, diese russische Nation müsse sich gegen die »westlichen Werte« verteidigen, worunter zum Beispiel Feminismus zu verstehen ist oder die Anerkennung von queeren Lebensentwürfen. Und auf den beiden amerikanischen Kontinenten zählen evangelikale Christen zu den loyalsten Unterstützern der autokratischen Populisten Donald Trump und Jair Bolsonaro.

Auch auf dem Gebiet der Spiritualität schneidet das Christentum nicht gut ab. Wer in Westeuropa nach spiritueller Erfahrung sucht, wird mit ziemlicher Sicherheit nicht bei den Hüterinnen der christlichen Tradition, den Kirchen, anklopfen. Weltfern, lebensfremd erscheinen die christlichen Institutionen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die wenigen Ausnahmen wie David Steindl-Rast, Willigis Jäger, Cynthia Bourgeault oder Richard Rohr scheinen diese Regel eher noch zu bestätigen. Und die christlichen Lehren, von der Schöpfungsgeschichte über die Wundererzählungen der Bibel bis hin zur Botschaft vom Leben nach dem Tod, locken kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervor. Jedes Kind weiß heute, dass die Welt nicht in sieben Tagen erschaffen wurde, sondern sich durch Urknall und Evolution entwickelt hat. Und an ein Leben nach dem Tod glaubt heute kaum noch jemand – und wenn, dann in Gestalt von Reinkarnation und Karma-Lehre.

Man könnte also durchaus zu dem Schluss kommen, das Christentum habe ausgedient und gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte, und es sei darum auch gar nicht schade. Zu viel Schuld haben die Kirchen auf sich geladen (von Kreuzzügen, Waffensegnungen und Hexenverbrennungen war noch gar nicht die Rede), zu wenig hilfreich und glaubwürdig wirken Glaubensinhalte und Lehraussagen.

Daran gibt es nichts zu deuteln. Und doch ist das nicht das ganze Bild. Was in diesem Bild fehlt, ist die Möglichkeit, dass die Glaubensinhalte und Grundaussagen der christlichen Tradition auch anders interpretiert werden können. So wie Naturwissenschaft und Medizin heute nicht mehr auf dem Niveau der mittelalterlichen Alchemie betrieben werden, lassen sich auch die Aussagen der christlichen Tradition auf moderne, postmoderne oder metamoderne Weise verstehen – mit möglicherweise überraschenden Ergebnissen. Lassen wir also an dieser Stelle die Dekonstruktion sein (obwohl es wahrlich noch viel zu dekonstruieren gäbe) und machen uns an den Versuch einer Rekonstruktion.

Wohlgemerkt: Es geht mir in diesem Artikel nicht darum, die Kirche zu verteidigen, ebenso wenig aber möchte ich sie nun weiter bashen. Es geht mir um die Frage, welche spirituelle und auch lebenspraktische Kraft die christliche Tradition entfalten kann, wenn sie aus dem traditionellen, vormodernen Korsett befreit wird, in dem sie nach der Erfahrung vieler Zeitgenossen steckt.

Wer aber sollte ein solches Update der Tradition vornehmen, wenn nicht die Kirche – oder Kirchenleute – selbst? Der amerikanische Philosoph Ken Wilber, manchmal als »Einstein der Bewusstseinsforschung« bezeichnet, ist der Ansicht, den tradierten Religionen komme genau diese Aufgabe zu: Sie selbst müssten ihre Traditionen in postmoderne oder integrale Begriffe und Denkstrukturen überführen, statt sich gegenüber dem zeitgenössischen Weltbild in einer Wagenburg traditioneller Glaubenssätze zu verschanzen. Wer, wenn nicht sie, hätte die Deutungshoheit über die jeweilige Tradition? Wer, wenn nicht die Kirche, könnte etwa Aussagen der Bibel in die Gegenwart holen, sodass sie, von den Schlacken des antiken und mittelalterlichen Denkens und Empfindens befreit, der Gegenwart etwas Substanzielles zu sagen hätten? So möchte ich hier den Versuch unternehmen, einige der Grundideen des christlichen Glaubens in Sprache und Denkstrukturen des 21. Jahrhunderts zu formulieren.

Was ist Gott?

Beginnen wir mit dem wohl elementarsten Begriff der christlichen (und beinahe jeder anderen) Religion: Gott. Welche Assoziationen kommen Ihnen, wenn Sie dieses Wort hören – noch bevor Sie angefangen haben nachzudenken? Welche Bilder, welche Sätze vielleicht steigen aus dem Meer des Unbewussten an die Oberfläche, bevor das reflektierende Denken sie rasch wieder aussortiert?

Meine Erfahrung ist, dass bei den meisten Menschen, so reflektiert und spirituell gereift sie sein mögen, als Allererstes das Bild von einem alten Mann kommt, oben im Himmel, mit Bart. Dieses Bild aus dem traditionellen Bewusstseinsraum ist so tief in unserem kulturellen Gedächtnis verwurzelt, dass es fast nicht herauszukriegen ist. Man nennt es das theistische Gottesbild. Wir denken heute, dass dieses theistische Bild einem modernen, postmodernen oder integralen Bewusstsein nicht angemessen ist. Aber es wirkt in den tiefen Schichten unserer Seele – dies ist auch ein Grund dafür, weshalb sich die christliche Kirche oft so schwertut mit einem Update ihrer Lehre.

»Aber was ist Gott dann, wenn Gott nicht der alte Mann mit langem Bart in der Wolke ist?

Aber was ist Gott dann, wenn Gott nicht der alte Mann mit langem Bart in der Wolke ist? Eine landläufige Antwort lautet: Gott ist das höchste Wesen. Aber ist Gott überhaupt ein Wesen? Ein Wesen unterscheidet sich per Definition von anderen Wesen, mithin ist es begrenzt. Kann man Gott begrenzt denken? Denn das wäre eine Implikation dieses Gottesbildes, das man als das »theistische« Gottesbild bezeichnet: Gott ist das höchste Wesen, er sitzt irgendwo in einem »Jenseits«, von wo aus er hin und wieder eingreift, oder auch nicht.

Heute kennen wir andere Zugänge zu Gott, die nicht theistisch sind. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass diese Welt, die wir mit den Sinnen erfassen können, nicht alles ist, was »ist«. In der tiefen Meditation oder im rauschhaften Erleben von Musik, Sex oder Tanz, in der weiten Stille der Natur oder auch mitten im Gewühl der Großstadt, in einem Nahtoderlebnis oder beim Blick in den Sternenhimmel kann uns die intuitive Erkenntnis einer namenlosen, abgründigen Tiefe ergreifen. Die Alltagswelt scheint wie transparent und weniger wirklich zu werden. Natürlich ist sie immer noch da, und sie ist immer noch real. Aber wir können in solchen Momenten hinter oder unter oder in allem eine Dimension der Tiefe erfahren, aus der alles entspringt. Ein Schweigen, eine Leere oder eine unauslotbare Fülle (was paradoxerweise dasselbe ist wie Leere), eine Einheit jenseits oder vor aller Differenzierung. Diese unaussprechliche Tiefe ist immer gegenwärtig, auch wenn wir sie »normalerweise« so gut wie nie wahrnehmen. Sie ist genauso real wie die konkrete Welt. Ja, manche sagen, in gewisser Weise sei sie sogar viel realer. Diese Dimension ist die Quelle, aus der alles fließt, was uns umgibt und was uns erfüllt, und sie ist prinzipiell immer und zu jeder Zeit erfahrbar. Sie ist nichts anderes als die real vorfindliche Welt und doch total verschieden von ihr. Und diese Tiefe, diese Leere/Fülle ist es, was die Religionen mit dem Wort Gott meinen. Das ist allerdings nicht mehr der theistische Gott, und nicht wenige, die solche Erfahrungen machen, vermeiden dafür die Bezeichnung »Gott«. Eckhart Tolle etwa schreibt in seinem grundlegenden Werk »Jetzt. Die Kraft der Gegenwart«, er verwende lieber Ausdrücke wie »Das Sein«, um diese Erfahrung einer »göttlichen« Präsenz auszudrücken.

»Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig«, schrieb der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer aus der Gestapo-Haft.«

Dieser Gott also sitzt nicht »im Himmel« oder in einem »Jenseits«. Er/sie/es ist überall und kann überall erfahren werden, in jeder Situation, in jedem Raum, in jedem Baum oder Stein, nicht zuletzt in jedem Menschen. So könnten wir den Begriff Transzendenz neu füllen: »Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig«, schrieb der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer aus der Gestapo-Haft. Das heißt, Gott ist anwesend, und gleichzeitig ist er der »ganz andere«. Wer Augen hat zu sehen, sieht Gott, und wer Gott einmal entdeckt hat in dieser Welt, kann Gott nicht mehr übersehen. Wer Gott einmal gesehen hat, hat ein intuitives Wissen um Gott als den schöpferischen Eros, die Kraft der unendlichen Liebe, die das All erfüllt und gleichzeitig hält. In ihm sind alle Möglichkeiten enthalten, er ist überbordende Fülle und gleichzeitig eigenschaftslose Leere.

»Gott ist also in allem, was ist.«

Gott ist also in allem, was ist. Gleichzeitig – und nun wird es richtig paradox – ist Gott mehr als alles, was ist. Wenn das Wort »Gott« Sinn ergeben und nicht nur ein Austauschbegriff für »Welt« oder »Natur« sein soll, muss Gott über das hinausgehen, was ist. Gott wäre dann etwa auch die Summe aller Möglichkeiten, die Summe dessen, was (noch) nicht ist, aber sein könnte. Und Gott könnte auch für das stehen, was nicht wirklich und nicht möglich ist, aber immerhin vorstellbar. Unsere Fantasie kann sich ja unendlich vieles vorstellen, was physikalisch-weltlich nicht möglich ist, Engelwesen etwa, aber auch hyperlichtschnelle Raumschiffe, humanoide »Replikanten« mit Superkräften oder vom Himmel regnende Frösche; wie viel mehr könnte in Gott möglich sein, was wir uns nicht einmal vorstellen können. Die Formel dafür wäre: Alles, was ist, ist in Gott, und Gott ist in allem, was ist – aber Gott geht darin nicht auf. Und der Begriff, der dieses Gottesbild auf den Punkt bringt, lautet »Pan-en-theismus«.

Der Kosmische Christus

Posttraditionelle Christen können sich sicher mit einem panentheistischen Gottesbild anfreunden. Es wäre ein Gottesbild, das sie mit vielen Menschen aus anderen religiösen und spirituellen Traditionen teilen können. Und doch reicht der Panentheismus nicht aus, um Gott im christlichen Sinn zu beschreiben. Wie der Name schon sagt, gehört noch etwas dazu, oder besser: jemand. Christus. Und aus der prominenten Stellung, die Jesus Christus im christlichen Glauben einnimmt, lässt sich ersehen, dass es nicht mit der Aussage getan ist, Jesus sei ja auch ein Teil des »Alles« oder »Mehr als alles«, das im Panentheismus gemeint ist.

Eigensinnig halten die Christen daran fest, dass dieser Mensch Jesus aus Nazareth, in dem seine Anhänger den »Messias«, griechisch: den »Christus« sahen, gewissermaßen in Gott hineingehört. Die Moderne, die Aufklärung und auch die theologische, kritisch-historische Forschung beschreibt Jesus als einen jüdischen Rabbi und Schriftgelehrten, der – wie das die Rabbiner bis heute tun – mit seinesgleichen Streitgespräche führte, einige Sonderlehren aufstellte und einige jüdische Gebote radikalisierte. Liebe, die diesen Namen verdient, umfasst nach diesem Rabbi nicht nur die »Nächsten«, also etwa Angehörige der eigenen sozialen oder ethnischen Gruppe, sondern auch die »Feinde« – ganz konkret etwa auch die römischen Besatzer, die Palästina als tributpflichtige Provinz recht unsanft behandelten. Moderne Wissenschaftler vergleichen die Lehren von Jesus mit denen anderer Rabbiner seiner Zeit, stellen eine große Menge Gemeinsamkeiten und einige signifikante Unterschiede fest und helfen so, ein historisch einigermaßen zuverlässiges Bild des Predigers aus Nazareth zu entwerfen. Dass von Jesus auch Wundertaten berichtet werden – vor allem Heilungen, aber auch Naturwunder wie die »Stillung des Sturms« –, führen sie auf die fromme Fantasie seiner Anhänger zurück.

Diese historische Betrachtung des Menschen Jesus aus Nazareth, die Erkenntnisse der Historiker sind sehr erhellend und helfen, seine Botschaft zu verstehen und einzuordnen. Allerdings geschieht diese Erhellung häufig auf Kosten der spirituellen Tiefe. Allzu oft löst sich dieses Reden vom historischen Jesus in reine Ethik auf. Natürlich ist eine gute Ethik nichts Schlechtes, im Gegenteil. Aber sie ist nicht alles, was eine tief spirituelle Religion zu bieten hat.

So geht die Moderne am Eigentlichen vorbei. Folgte man ausschließlich den Erkenntnissen über den historischen Menschen Jesus, wären Christen Anhänger einer bestimmten jüdischen Schule, einer Richtung des Judentums. Nur: Weshalb sollten wir uns heute noch an einem antiken Wanderprediger orientieren, dessen Botschaft auch allerhand heute Unverständliches und Anstößiges enthält und sich im Übrigen gar nicht so radikal von der seiner rabbinischen Zeitgenossen oder eines Philosophen wie, sagen wir, Sokrates unterscheidet? Wieso ausgerechnet an diesem? Wenn es nur auf den historischen Menschen Jesus ankäme, müssten sich Christen »Jesuaner« nennen. 

Der Name »Christen« verweist auf eine andere, tiefere Dimension, die heute von vielen wieder ganz neu entdeckt wird: die Dimension des Kosmischen Christus. Bestimmte Aussagen des Neuen Testaments, etwa im Prolog des Johannesevangeliums, im Philipper- oder im Kolosserbrief, handeln von Christus als einem Sein von Kosmischem Ausmaß, »durch das« oder »in dem« alles geschaffen wurde. Ein Sein, das vor dem Beginn der Zeit bei Gott war, Gott gleich, »in göttlicher Gestalt«. Dieser Christus ist nicht nur das Bindeglied zwischen Gott und Welt, er ist gewissermaßen beides in einem: Ohne ihn »ist nichts gemacht, was gemacht ist« (Johannes 1, 3). Der amerikanische Franziskaner und spirituelle Meister Richard Rohr sagt über diesen Kosmischen Christus, er werde »in dem Moment geboren, in dem Gott beschließt, sich zu zeigen, in dem Moment, in dem Gott beschließt, materiell zu werden. Die moderne Naturwissenschaft würde hier vom Urknall sprechen. Der Urknall ist die Geburt des Christus, vor 14,5 Milliarden Jahren.«

Die Anhänger des Wanderpredigers Jesus aus Nazareth behaupten, ihr menschlicher Meister sei identisch mit diesem Kosmischen Christus. Als sprechenden Hinweis auf diese Verbindung verstehen sie die Auferstehung: die Erfahrung seiner Freundinnen und Freunde, dass er ihnen nach seinem Tod als der Lebendige erschien. Die Auferstehung verstehe ich dabei nicht als Begegnung mit einer wiederbelebten Leiche, sondern als die Erfahrung der göttlichen Präsenz, die untrennbar mit dem irdischen Meister Jesus von Nazareth verbunden ist. Oder, wie es dann 400 Jahre später verbindlich formuliert wurde: In Christus begegnet uns niemand anders als Gott selbst. In ihm sind zwei Naturen vereint, Christus ist ganz Gott, und er ist ganz Mensch. Logisch schließen diese beiden Aussagen einander aus. Denn das heißt ja: Christus ist ewig, unendlich, allgegenwärtig, und Christus ist zeitlich, endlich, lokal begrenzt – und das gleichzeitig, untrennbar. Die beiden Naturen Christi, die göttliche und die menschliche, lassen sich nicht trennen und nicht aufteilen auf verschiedene Bereiche, sie sind aber auch nicht miteinander vermischt und gehen nicht ineinander über.

»Viele sind heute zur Einsicht gelangt, dass sich die Wirklichkeit adäquat nur als Paradox beschreiben lässt.«

Die Moderne tut sich schwer mit solchen Aussagen, weil sie sich nicht mit den Erkenntnissen und Gesetzen der Naturwissenschaft in Deckung bringen lassen. Heutige, postmodern oder integral empfindende Menschen haben ein anderes Problem. Das Paradox stört sie nicht, im Gegenteil. Viele sind heute zur Einsicht gelangt, dass sich die Wirklichkeit adäquat nur als Paradox beschreiben lässt. Und ausgerechnet die Physik, eine »harte« Naturwissenschaft, liefert dafür ein wunderbares Beispiel. Schon vor hundert Jahren stellten Albert Einstein und andere die Frage: Was ist Licht? Besteht das Licht aus Wellen, die sich nach allen Seiten gleichmäßig im Raum ausbreiten? Oder besteht es aus kleinen Partikeln, den Photonen, die wie winzigste Billardkugeln durch den Raum schießen und beispielsweise Silberjodid-Ionen aus einer fotografischen Schicht herausschießen können? Das berühmte Doppelspalt-Experiment zeigt: Das Licht ist beides. Was sich eigentlich ausschließt – eine immaterielle Welle, die sich nach allen Seiten ausbreitet und mit anderen Wellen Interferenzen bilden kann, und ein Strom von gerichteten, begrenzten Partikeln, die sich auf einer geraden Bahn in eine Richtung bewegen –, was sich logisch also eigentlich ausschließt, muss zusammengesehen werden, um richtig zu beschreiben, was Licht ist. So ähnlich muss man in Christus Göttliches mit Menschlichem zusammendenken – also Unsterblichkeit, Ewigkeit, Unbegrenztheit, Allgegenwart mit Sterblichkeit, Zeitlichkeit, Begrenztheit und lokaler Beschränkung auf einen bestimmten Ort. Nur so können wir uns dem Geheimnis von Jesus, dem Christus, annähern.

So weit, so gut. Nur: Warum sollte das alles nur für diesen einen Menschen gelten? Bei der Diskussion in der Alten Kirche ging es ja immer um den einen historischen Menschen Jesus aus Nazareth, in dem sich in einmaliger Weise Gott »inkarniert« hat. Alle anderen Menschen waren bloß Menschen, ohne diese zweite, göttliche Natur. Das zu akzeptieren, fällt uns heute schwer. Einem heutigen, integral empfindenden Menschen ist es sehr viel leichter, anzuerkennen, dass in Christus zwei Naturen sind, wenn damit eine Aussage über den Menschen an sich gemacht wird. Dann liegt die Bedeutung von Jesus Christus nicht darin, dass er als der einzige Sohn Gottes und einzigartiger Gott-Mensch die Menschen von Sünde, Tod und Teufel erlöst hätte, sondern eher darin, dass seine Anhänger an ihm erkannt haben, was für uns alle gilt. In uns, in jedem Menschen und im Grunde in der ganzen Schöpfung, inkarniert sich der Kosmische Christus. Verdunkelt und verborgen, das wohl, gut versteckt unter den Schichten unserer Persönlichkeit, unseres Charakterpanzers. Aber im innersten Kern, unserem tiefsten Wesen nach sind wir ebenso göttlich, wie es die Christen von Jesus, dem Christus behaupten. Wenn sich dieser Kosmische Christus aber nicht nur einmal in dem Menschen Jesus aus Nazareth inkarniert hat, sondern in allem, was ist, wenn wir also die gesamte Schöpfung als Inkarnation Gottes verstehen, dann ist diese Welt des Geschaffenen, der »Formen«, nichts Zufälliges, nichts weniger Reales als die Leere beziehungsweise Fülle, aus der alles entspringt. Sie ist ebenso Gott wie der Urgrund, der Schöpfer, die Quelle alles Seins.

Drei in eins

Hier stoßen wir auf die zweite große Lehre, die die Denker der Alten Kirche formuliert haben: die Lehre von der Trinität, der Dreieinigkeit Gottes. Das ist ein Begriff, der den meisten Menschen heute heftige Schwierigkeiten bereitet: die Aussage, dass Gott drei in eins ist, ein Sein in drei Personen. Das moderne Bewusstsein tut sich wieder besonders schwer damit. Eins ist eins und drei ist drei, sagt die Ratio. Drei in eins, das geht nicht. Diese Aussage gehört in den Bereich der mystifizierenden Dunkelmänner, die den kritischen Verstand vernebeln wollen. Sie gehört abgeschafft.

Im integralen Bewusstseinsraum dagegen beginnen, wie gesagt, die Paradoxien ihre Faszination zu entfalten. Und es wird möglich, die alten Formeln neu mit Inhalt zu füllen. Die Tiefe des Seins, die Leere/Fülle, von der oben die Rede war, der Gott des Panentheismus, das wäre nach dieser Formel der »Vater«, der Schöpfer, der aus sich alles hervorbringt, was ist, und alles in der Existenz hält. Der »Sohn« wäre der Kosmische Christus und mit ihm die gesamte materielle und nicht materielle Welt, die »sichtbaren und die unsichtbaren Dinge«, die »durch ihn« und »in ihm« geschaffen sind. Als Drittes kommt der Heilige Geist hinzu, oder besser: die Heilige Geistkraft, das weibliche Element – im Hebräischen und Aramäischen, der Sprache, die Jesus gesprochen hat, ist das Wort für »Geist« weiblich. Sie ist das verbindende Prinzip, Gottes Atem und Stimme. Die Energie, die Menschen für die tieferen Dimensionen öffnet, aber auch für die Gemeinschaft untereinander, das Feuer der Liebe. Die Metaphern für diese Geistkraft betonen alle, wie schwer fassbar sie ist, sie ist nicht dingfest zu machen: Flammen, Wind, eine Taube, eine körperlose Stimme »aus dem Himmel«.

Ohne allzu tief in die Verästelungen der Trinitätstheologie einzudringen, möchte ich festhalten: Im Herzen der christlichen Lehre steht die Aussage, dass »die menschliche Natur« in Gott gewissermaßen »enthalten« ist. Die Alten bezogen das, wie gesagt, nur auf die menschliche Natur des Christus. Von da ist der Schritt aber nicht mehr weit, die menschliche Natur »an sich« als Anteil des Göttlichen zu verstehen.

Meiner Überzeugung nach tun wir der christlichen Tradition keine Gewalt an, wenn wir die Behauptung wagen, dass alle Menschen durch den Kosmischen Christus Anteil an Gott haben. Dann wäre einerseits der Mensch – jeder Mensch – identisch mit dem Einen: ewig, überall, allverbunden. Andererseits ist jeder Mensch natürlich konkret-irdisch, also begrenzt, in Raum und Zeit lokalisierbar, isoliert und sterblich. Eines könnte nicht gegen das andere ausgespielt werden, es würde beides gelten, je nach Betrachtungsweise – so wie das Licht Teilchen oder Welle ist, je nach Versuchsanordnung.

»Das konkrete, materielle Wesen des Menschen ist von eben demselben Wert wie das ewige, göttliche Wesen.«

Ein wesentliches Element dieser Theorie bildet die Aussage, dass der ganze Mensch göttlich und menschlich zugleich ist. Es ist also nicht so, dass im Menschen »etwas« Göttliches wäre, ein göttlicher Funke oder Kern, es ist auch nicht die Rede von einer unsterblichen Seele, die im Menschen wohnen würde. Hierin unterscheidet sich dieses Modell von vielen esoterischen oder gnostischen Systemen, die jeweils davon ausgehen, dass in der materiellen Hülle des konkreten menschlichen Individuums ein göttlicher Anteil steckt, der befreit oder entwickelt werden muss, wobei das konkret Menschliche ein Hindernis darstellt, das es zu überwinden gilt. Die Lehre von den zwei Naturen, bezogen auf den Menschen an sich, betont das genaue Gegenteil. Das konkrete, materielle Wesen des Menschen ist von eben demselben Wert wie das ewige, göttliche Wesen. Es ist nicht die Aufgabe, das Materielle zu überwinden und hinter sich zu lassen, um in vermeintlich göttliche Sphären aufzusteigen. Vielmehr ist es Aufgabe, Würde und Wesen der »menschlichen Natur« des Menschen, diese konkrete, leibliche Existenz so intensiv und konsequent wie möglich zu leben und mit Liebe zu erfüllen. Denn in ihr, in der alltäglichen Wirklichkeit des Konkreten, begegnet uns niemand anderes als Gott.

Erlösung?

Da haben wir nun ein ganz anderes Bild von Gott als das des strengen Vaters, des Königs im Himmel. Dieser Gott ist keiner mehr, vor dem man Angst haben müsste. Er ist nicht der strenge Gesetzgeber, nicht der eifersüchtige Liebhaber, der unbedingten Gehorsam respektive ausschließliche Liebe fordert. Er ist nicht mehr der unerbittliche, gerechte Richter, der nach unserem Tod über uns urteilt und uns – je nachdem – in die ewige Freude einlässt oder uns ins ewige Feuer verstößt. Dieser Gott ist Urgrund und Quelle des Lebens, sie ist Kreativität und Eros, und Gott ist überhaupt nicht mehr männlich, auch nicht weiblich oder divers, sondern jenseits jeglicher Genderbestimmung. Er/sie/es begegnet uns in jedem lebendigen Wesen und auch in der scheinbar unbelebten Natur, vor allem aber in den Augen unserer Mitmenschen. Das entspricht auch dem, was Jesus von Nazareth nach der biblischen Überlieferung gesagt hat: »Was ihr einem der Geringsten meiner Geschwister getan habt, habt ihr mir getan.«

Ist das also das Aus für die »Sünde«? Braucht es keine »Erlösung« mehr? Das kommt ganz darauf an, wie man »Sünde« und »Erlösung« versteht. Wenn es stimmt, dass wir alle Inkarnationen des Kosmischen Christus sind, wie ich behaupte, so gilt das unbedingt – und doch mit einem Vorbehalt. Es gilt für unser innerstes Wesen, unser wahres Selbst – aber natürlich nicht für unsere Persönlichkeit mit all ihren Ecken und Kanten und Beulen, mit all den Verdrehungen und Verbiegungen, mit all den Macken und Neurosen. Unsere Persönlichkeit, unsere irdisch-menschliche Seite ist geprägt von Angst und Egozentrik, von Mangel statt Fülle, von Trennung statt Einheit.

Tilmann Haberer
Von der Anmut der Welt von Tilmann Haberer

Und damit stoßen wir unversehens auf einen Begriff, den ich hier einmal nenne und danach nicht mehr gebrauche, weil er so missverständlich geworden ist: Sünde. Dieser Begriff hat im ursprünglichen Sinn gar nichts Moralisches an sich, nichts von Vorwurf, nichts von Versagen und Schuld. Gemeint ist mit diesem Begriff einfach die Tatsache, dass wir von unserer Göttlichkeit abgetrennt sind, dass wir in eine Welt hineingeboren sind, in der einem Menschen gar nichts anderes übrig bleibt, als sich zu sichern und zu schützen und somit zurückzubleiben hinter dem Potenzial, nichts zu sein als Liebe.

Passendere Begriffe für diesen Zustand, in dem sich alle Menschen vorfinden, wären also: Entfremdung, Trennung oder einfach: Zweiheit. Darum geht es, dass wir, bildlich gesprochen, vom Moment unserer Zeugung aus der ursprünglichen Einheit gefallen sind. Anders gesagt: In dem Moment, in dem wir uns inkarnieren, sind wir nicht mehr verbunden. Das ist unausweichlich.

Kleine Kinder sind sich dessen noch nicht bewusst, sie leben psychisch oder seelisch noch in der Einheit. Sie können noch nicht zwischen sich selbst und der Welt unterscheiden. In dem Moment aber, in dem ihr Ich-Bewusstsein erwacht, tun sich Alternativen auf, zwischen denen Menschen sich entscheiden müssen. Da geht es nicht nur um links oder rechts, Äpfel oder Birnen, sondern es geht um gut oder böse, wahr oder falsch, Liebe oder Abgrenzung. Es geht um die Frage, ob ich im eigenen Interesse entscheide oder (auch) in dem meiner Mitmenschen. Es geht um die Polarität, die jedem Leben und vor allem jedem bewussten Leben innewohnt. Das können wir jederzeit an uns selbst beobachten.

Von daher fällt ein neues Licht auf den Begriff »Erlösung«. Natürlich brauchen wir Menschen Erlösung. Erlösung von unserer Egozentrik, von unserer Gefangenschaft im Materiellen, unserer Gier und Habsucht, Erlösung aus dem Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Und auch die Welt braucht Erlösung. Erlösung von unserem Krieg gegen die Natur, von Ausbeutung und Zerstörung. Aber das spielt sich in dieser Welt ab, nicht in einem zu erwartenden, künftigen Jenseits. Und es nimmt uns Menschen in die Pflicht. Diese Erlösung kommt nicht von außen. Sie kann vielmehr nur das Ergebnis eines Erwachens sein, sodass uns die Augen aufgehen über den Zustand der Welt und unseren eigenen Zustand als Menschen. Da kommt kein Retter und holt uns heraus. Diese Art Erlösung erfordert von uns genaues Hinsehen, geduldige Arbeit an uns selbst und in der Welt, sie erfordert Leidenschaft für das Leben. Und dann – auch hier wieder ein Paradox – erfordert es auch Offenheit für das, was wir nicht »machen« können – für die grundlegende Liebe, die Güte, die dieser Welt innewohnt, allem Anschein zum Trotz.

»Erlösung vor dem Zorn Gottes ist nicht notwendig, denn Gott war nie zornig.«

Was es dagegen nicht braucht, ist die Erlösung »im Jenseits«, die Rettung vor dem göttlichen Zorn. Der zornige Gott, der die ungehorsamen Menschen straft, ist viel zu anthropomorph gedacht. Es ist der theistische Gott des vormodernen Bewusstseinsraums, kleinlich, leicht zu beleidigen, rachsüchtig. Dieses Gottesbild hat ausgedient und gehört ins Archiv vergangener Angstfantasien. Erlösung vor dem Zorn Gottes ist nicht notwendig, denn Gott war nie zornig.

Nun könnte man allerdings fragen: Wozu braucht es dann Jesus Christus überhaupt noch? Wenn er nicht der Mittler ist zwischen uns und Gott, wenn er uns nicht durch seinen stellvertretenden Opfertod am Kreuz erlöst hat vor Hölle, Tod und Teufel, wie es die traditionelle Theologie lehrte – wozu müssen wir dann überhaupt noch von ihm reden?

Meine Antwort ist die folgende: Jesus, der Christus, kann erlösen von der Angst. Von der Angst vor dem Tod, von der Angst, dass am Ende alles sinnlos sein könnte. An ihm haben seine Jüngerinnen und Jünger gesehen, dass Gottes Liebe und Macht nicht durch den Tod begrenzt ist. Wie immer wir die Erzählungen über die Auferstehung deuten – es muss ein Erlebnis von solch gewaltiger Wucht gewesen sein, dass es seinen Freundinnen und Freunden eine ungeheure Zuversicht gab, eine Freude und Gelassenheit, die durch den Tod nicht mehr bedroht war. Sie haben begriffen, dass niemand sie verdammt, dass sie nicht verloren gehen, ganz gleich, was geschieht. Somit ist Jesus der »Erstling«, an dem sie sich orientieren konnten. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.

Eine kühne Hoffnung

Der Versuch, den christlichen Glauben, die christliche Lehre auf diese Weise integral zu interpretieren, macht die historischen und auch gegenwärtigen Verfehlungen der Kirche nicht geringer. Es geht dabei aber gar nicht um die Kirche, es geht um etwas viel Größeres. Es geht um eine Botschaft, die sich zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen geografischen Orten jeweils unterschiedlich ausdrückt – und gerade deshalb immer wieder die gleiche bleibt. Wenn wir versuchen, diese Botschaft zeitgemäß zu formulieren, kann es vielleicht gelingen, eine der spirituellen Wurzeln unserer Kultur vor dem Verfall, vor dem Faulen zu retten. Und das, so meine kühnste Hoffnung, kann dann auf die Kirchen zurückwirken und dazu beitragen, dass sie wieder zu Orten werden, an denen viele Menschen nach Gott, nach Sinn und Tiefe der Welt suchen und, wenn es gut geht, auch fündig werden.

Tilmann Haberer

Zur Person:

Tilmann Haberer ist emeritierter evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger und systemischer Berater und war zuletzt in der ökumenischen Krisen- und Lebensberatungsstelle »Münchner Insel« tätig. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich mit der integralen Theorie. Mit Marion und Tiki Küstenmacher hat er 2010 das Buch »Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird« veröffentlicht. Sein neues Buch »Von der Anmut der Welt« formuliert die christliche Theologie im Rahmen der integralen Weltsicht.

 

tilmann-haberer.de

1 Kommentar zu „Tilmann Haberer – Von Gott und der Welt“

  1. Bei aller Berechtigung an der Kritik gegenüber den christlichen Kirchen (vor allem der katholischen) habe ich doch inzwischen auch den Eindruck, dass diese Kritik und die damit einhergehende Zerstörung der katholischen Kirche auch ein kommunistisches materialistisches Projekt ist, um Tradition, Geschichte und Kultur in Europa zu zerstören. Der Kommunismus war der schlimmste Mörder in der bisherigen Geschichte. Aus dem Schwarzbuch des Kommunismus kann man erfahren: „Die Fakten zeigen aber unwiderleglich, dass die kommunistischen Regime rund 100 Millionen Menschen umgebracht haben, während es im Nationalsozialismus etwa 25 Millionen waren.“ Deshalb werde ich den Verdacht nicht los, das hier ein verdeckter, geheimer Plan im Gange ist, um den Einfluss der Religion einzudämmen, so berechtigt auch Kritik an ihr ist, um dann in einem weiteren Schritt letztendlich jegliche Spiritualität zu vernichten, um die technokratische Weltdiktatur einsetzen zu können.

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