Tilmann Haberer

Tilmann Haberer – Spiritueller Leerstand

Die christlichen Kirchen im 21. Jahrhundert

Die Kirche in ihrer bisherigen Form ist am Ende. Die Mitgliederzahlen schrumpfen, die Kirchensteuereinnahmen schwinden. Doch die Menschen finden andere Formen des Ausdrucks für ihren Glauben. Tilman Haberer beschreibt eindrücklich den Wandel des Christseins und gibt uns einen versöhnlichen Ausblick auf ein neues Christentum.

»SPIRITUELLER LEERSTND« steht auf einem riesigen Transparent, das das multimediale Theaterensemble Bluespots Productions im Februar 2024 an der Front der evangelischen Johanneskirche in Augsburg aufgehängt hat. Das eingekreiste A im Wort Leerstand, das Zeichen für Anarchie, soll andeuten, dass die Kirche besetzt worden sei. Im Inneren hängt ein weiteres Transparent mit der Aufschrift »Weil Leere uns das Herz zerfetzt: Diese Kirche ist besetzt!« In Wahrheit aber ist die Kirche nicht besetzt, vielmehr handelt es sich um eine durchaus einvernehmliche Kooperation des Ensembles mit der evangelischen Kirche während des Brecht-Festivals. 

»Das schwindende Vertrauen in die Institution Kirche hinterlässt einen spirituellen Leerstand.«

Über den Hintergrund dieser Kooperation schreiben Bluespots Productions auf ihrer Website: »Das schwindende Vertrauen in die Institution Kirche hinterlässt einen spirituellen Leerstand.« Andererseits mangele es »an Raum für Theater, Musik oder Ausstellungsflächen, während die Kirchen leer stehen oder verkauft werden müssen«. Tatsächlich ist die Kirchengemeinde nicht mehr in der Lage, den Bauunterhalt zu stemmen, und muss das 1930 eingeweihte Kirchengebäude daher abgeben. Die Gottesdienste werden in den Gemeindesaal verlegt. Ob die Johanneskirche langfristig als Spielstätte für Theater- und andere Kulturereignisse dienen wird, wird sich zeigen. Insgesamt ist der Vorgang aber symptomatisch für den Zustand der christlichen Kirchen im deutschsprachigen Raum im 21. Jahrhundert.

Das Ende der Volkskirche

Die Zeit der Volkskirchen, wie sie in unseren Breiten seit Jahrhunderten bekannt waren, geht dem Ende zu. Das zeigen Untersuchungen, die von den Kirchen selbst in Auftrag gegeben wurden. Die sogenannte Freiburger Studie von 2019 prognostizierte, die Zahl der Kirchenmitglieder und damit das Kirchensteueraufkommen werde bis zum Jahr 2060 um 50 Prozent schrumpfen. Doch der Schwund beschleunigt sich. In der sechsten Untersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Kirchenmitgliedschaft (kurz KMU), im Spätherbst 2023 vorgelegt, wird die Halbierung bereits für das Jahr 2040 vorausgesagt. Zwei Drittel der befragten evangelischen und sogar drei Viertel der katholischen Kirchenmitglieder wollen nicht mehr ausschließen, eines Tages aus der Kirche auszutreten. Auch wenn sicher nicht alle der Neigung zum Austritt nachkommen, sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache: Die Kirchen, katholisch wie evangelisch, steuern auf einen Kipppunkt zu, das heißt einen Punkt, ab dem die Strukturen soweit abgebröckelt und die Ressourcen so stark geschwunden sind, dass sich das gewohnte kirchliche Leben nicht mehr aufrechterhalten lässt. Gebäude müssen verkauft, Planstellen gestrichen werden. Und die Zahl der Studierenden an den theologischen Fakultäten lässt den Schluss zu, dass selbst diese reduzierten Stellen nicht mehr alle besetzt werden können, weil schlicht zu wenig Interessierte nachkommen. 

Tilmann Haberer

Die desolate Lage der Kirchen zeigt sich aber nicht nur in diesen Zahlen. Mit dem Slogan »Spiritueller Leerstand« beschreibt das Augsburger Theaterensemble die Situation durchaus treffend. Die Botschaft der Kirchen und die Art, wie diese Botschaft vermittelt wird, hat radikal an Akzeptanz verloren. Das gilt auch und vor allem für den Sonntagsgottesdienst, der von kirchlich engagierten wie von säkular orientierten Menschen immer als das spirituelle Epizentrum der Kirchen angesehen wurde. Doch selbst unter den verbliebenen Kirchenmitgliedern stimmen in Ostdeutschland nur 19 Prozent, in Westdeutschland sogar nur noch magere elf Prozent dem Satz zu: »Es gehört zum Christsein, in den Gottesdienst zu gehen.« Wenn die Kirchen nicht radikale Reformen vornehmen, werden ihnen immer mehr Mitglieder den Rücken zuwenden. Die KMU zeigt auch, in welche Richtung die Reformen gehen müssen: Als wichtigste Forderung wird genannt, die Kirchen müssten deutlicher zu ihrer Schuld stehen – sicherlich eine direkte Folge der Missbrauchsskandale und ihrer schleppenden Aufarbeitung durch die Verantwortlichen. Aber auch die anderen Reformwünsche haben es in sich. Gefordert werden, so die Formulierung in der Studie, vor allem eine »Quest-Religiosität« und die Begleitung in »schwierigen Lebenssituationen«. Unter »Quest-Religiosität« verstehen die Autor:innen der KMU eine spirituelle Ausrichtung, zu der das Zweifeln und Hinterfragen wesentlich dazugehört. Die Menschen wollen nicht mehr in Predigten gesagt bekommen, was Sache sei. Sie wollen mit ihrer eigenen Suche, mit ihren individuellen Fragen und Zweifeln ernst genommen werden. Und Begleitung in schwierigen Lebenssituationen, das reicht von den Lebenswenderitualen wie Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung bis hin zu allen Formen von sozialem und diakonischem Handeln: Einsatz für Arme, Kranke, Alte, Menschen mit Behinderung und – von gut drei Vierteln der Befragten ausdrücklich so gewünscht – für Geflüchtete. Die Merkmale klassischer Religiosität wie Gebet, Bibellektüre und Gottesdienstbesuch haben dagegen kaum noch Anhänger. 

Schwindende Mitgliederzahlen, schrumpfende Kirchensteuereinnahmen, immer weniger Hauptamtliche, dazu kommt noch der gesamtgesellschaftlich feststellbare Trend, sich immer weniger verbindlich ehrenamtlich zu engagieren. Das heißt, die hauptsächlichen Ressourcen der Kirchen gehen immer mehr zurück. Trübe Aussichten für die Kirchen. So werden sie sich aus der Fläche zurückziehen müssen. Zwar wird auch noch in 50 Jahren wohl in jedem Dorf (mindestens) eine Kirche stehen, doch viele dieser Gebäude werden nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck genutzt. Sie sind zu Restaurants, Fitnessstudios, Kulturzentren, Wohnhäusern oder auch zu Lagerhallen umfunktioniert. Gottesdienste finden auf dem Land nur noch in den regionalen Subzentren statt, im städtischen Raum nur noch in zentralen Schwerpunktkirchen.

»Wer dann noch zum Christentum hält, tut das gegen den Trend und aus Überzeugung – vielleicht nicht die schlechteste Entwicklung.«

Trotzdem wird es auch in Zukunft Christen und christliche Kirchen in Deutschland geben. Wer dann noch zum Christentum hält, tut das gegen den Trend und aus Überzeugung – vielleicht nicht die schlechteste Entwicklung. Dabei tun sich durchaus verschiedene Möglichkeiten auf, wie die Zukunft der Kirchen aussehen könnte. Zur Bewältigung von Krisensituationen stehen ja drei grundsätzliche Strategien zur Verfügung: weitermachen wie bisher, Rückzug auf frühere, vermeintlich bewährte Lösungen sowie weitergehen und neue, bislang noch nicht erprobte Möglichkeiten ergreifen.

Beim Alten beharren

Das »Weiter so!« ist wohl die große Versuchung für die etablierten Kirchen. Noch funktioniert das System. Zwar werden schon heute einzelne Kirchen stillgelegt, Gemeindehäuser verkauft, Pfarreien fusioniert, doch am Prinzip ändert das nichts. Die Kirchensteuereinnahmen reichen immer noch aus, um den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten. Wirklich grundlegende Reformen sind eher nicht in Sicht. Damit würde man ja, so die Befürchtung, nur die letzten Getreuen vertreiben, die an den althergebrachten Formen hängen. Derweil gehen immer mehr der nicht so eng verbundenen Sympathisanten von der Stange und Jüngere, die sich für das alte System erwärmen, kommen kaum nach. Mit einem »Weiter so!« könnte es den Kirchen also gehen wie dem Mann, der aus dem zehnten Stock fällt und auf Höhe der zweiten Etage denkt: »Bisher ist doch alles gutgegangen!« Der Aufschlag dürfte umso härter ausfallen.

Nun gibt es etliche, die Kirchenaustritte und leere Kirchen darauf zurückführen, dass die Kirchen von ihrem ursprünglichen Auftrag, das Wort Gottes rein und unverfälscht zu verkünden, abgekommen seien. Die »Liberalisierung«, die »Verwässerung« der Botschaft sei schuld, dass die Menschen sich nicht mehr für Gott und seine Kirche interessieren. Statt sich um politische Themen wie Klimawandel und Minderheitenrechte zu kümmern, sollten die Kirchen die Menschen zur Umkehr unter Gottes Wort rufen. Diese Kritiker verkennen, dass sich das Mindset großer Teile der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Traditionelle Werte haben stark an Bedeutung verloren, Tradition wird häufig nur mehr als Folklore wahrgenommen. Die Gesellschaft hat sich pluralisiert und individualisiert und das ändert sich ganz sicher nicht, wenn man nur streng und rigoros genug die alten Werte propagiert. Im Gegenteil: Gerade das Festhalten an alten Wertvorstellungen, Sprachformen und kulturellen Codes hat die Menschen aus den Kirchen vertrieben.

Allerdings muss man feststellen: Für manche funktioniert die Rückkehr zu den alten, ehemals bewährten Formen und Inhalten eben doch. Wer das Heil in der vermeintlich goldenen Vergangenheit sucht, folgt damit der zweiten der oben genannten drei Strategien. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten sind im deutschsprachigen Raum etliche evangelikal-charismatische Freikirchen nach dem Vorbild amerikanischer oder australischer Megachurches entstanden und haben an Bedeutung gewonnen; bekannte Beispiele dafür sind die Hillsong Church, die International Christian Fellowship (ICF) oder auch das von Johannes Hartl gegründete Gebetshaus. Sprache und kulturelle Codes dieser neuen Kirchen sind durchaus postmodern. So versammeln sich diese Gemeinden in angemieteten oder selbst gebauten Räumen, die eher einer Konzerthalle gleichen als einer klassischen Kirche. Professionelle Bands gestalten den Gottesdienst mit eingängiger, charttauglicher Popmusik – die Band Hillsong United etwa hat mehrere Grammys gewonnen. Diese »Lobpreis«-Musik spielt eine ganz entscheidende Rolle. Mit ihren eingängigen Melodien und einfachen Texten, gerne unterstützt durch Lichteffekte und Nebelmaschinen, spricht sie die Emotionen an und vermittelt unter denen, die zuhören und mitsingen, ein starkes Gefühl der Gemeinschaft. Die Prediger (nicht nur, aber meistens Männer) sprechen eine bildhafte, alltägliche Sprache. Was allerdings die Theologie anbelangt, ist man streng konservativ. Es geht, pointiert gesagt, darum, von den Übeln dieser Welt erlöst zu werden und in den Himmel zu kommen. Der einzige Weg dazu ist, an Jesus Christus als »persönlichen Herrn und Heiland« zu glauben, und zwar genau so, wie es in der jeweiligen Kirche gelehrt wird. Anders als es die Mehrheit der im Rahmen der EKD-Studie Befragten versteht, geht es hier nicht um Quest-Religiosität, nicht um Hinterfragen und Zweifeln. Im Gegenteil: Zweifel gelten als schädlich für den Glauben und müssen so rasch wie möglich ausgeräumt werden. Bei vielen Anhängern dieser Gemeinden finden sich Sympathien für politisch weit rechts stehende Positionen, ähnlich wie bei den amerikanischen Evangelikalen, die nahezu geschlossen zu Donald Trump stehen. Dem entspricht ein patriarchales Gottesbild: Gott ist Vater, Herr, König, und natürlich wird Gott männlich vorgestellt. Er verlangt unbedingten Gehorsam und überlässt alle, die diesen Gehorsam nicht aufbringen wollen oder können, dem ewigen Verderben. Dazu wird eine rigorose, streng konservative und stark auf sexuelle Themen fokussierte Ethik vertreten. Homosexualität und Sex vor der Ehe – die selbstverständlich heterosexuell und monogam sein muss – sind verpönt, Abtreibung kommt unter gar keinen Umständen infrage.

Tilmann Haberer

Vertreter der konservativen Linie weisen darauf hin, wie groß diese Gemeinden sind, wie viele Menschen sie anziehen – hunderte, wenn nicht tausende Menschen versammeln sich allsonntäglich in den Räumen. Übersehen wird dabei aber gerne, dass diese Gemeinden in der Regel ein sehr weites Einzugsgebiet haben; Menschen fahren oft fünfzig oder hundert Kilometer, um an den Gottesdiensten teilnehmen zu können. Dennoch soll hier die Bedeutung dieser Gemeinden nicht allzu sehr kleingeredet werden. Für etliche Menschen sind sie durchaus attraktiv. Der Verunsicherung, die die Pluralisierung und Individualisierung in unserer postmodernen Welt bei vielen erzeugt, setzen sie eine eindeutige Orientierung entgegen. Sie wecken bei ihren Anhängern die Überzeugung, einer auserwählten Gruppe anzugehören, die im kommenden Gericht Gottes über die verderbte Welt bestehen wird. Dazu kommen die starken Emotionen, die durch die Gottesdienstgestaltung hervorgerufen werden, und eine ausgeprägte Willkommenskultur. Neulinge werden herzlich begrüßt und gleich eingeladen, zunächst auf eine Tasse Kaffee, dann in Kleingruppen, zu Glaubenskursen und Aktionen. Das so erzeugte Zugehörigkeitsgefühl bereitet den Boden dafür, auch die Inhalte der Verkündigung anzunehmen.

Schwierig kann es für Mitglieder dann werden, wenn ihnen die Gemeinde zu eng wird. Vielleicht reiben sie sich an den strikten Machtstrukturen, vielleicht kommen sie irgendwann mit den einfachen, oft schwarz-weißen theologischen Ansichten nicht mehr zurecht. Oder sie werden darauf gestoßen, dass die rigorosen Moralvorschriften Menschen ausgrenzen und kaputtmachen – wenn sich etwa ein Gemeindeglied als homosexuell outet und daraufhin aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

»Für viele, die sich daraufhin von der Gemeinde abwenden, ist damit das Christentum erledigt – häufig sogar das Thema Religion und Spiritualität überhaupt.«

Für viele, die sich daraufhin von der Gemeinde abwenden, ist damit das Christentum erledigt – häufig sogar das Thema Religion und Spiritualität überhaupt. Ein weiteres spannendes, für viele möglicherweise überraschendes Ergebnis der KMU zeigt nämlich, dass Menschen, die sich aus ihrer kirchlichen Bindung lösen, in der übergroßen Mehrzahl ihre spirituelle Ausrichtung insgesamt ablegen. Die Bezeichnung »spiritual, but not religious« trifft demnach auf immer weniger Menschen zu, am ehesten noch für die Altersgruppe, die in den 1980er- und 1990er-Jahren sozialisiert wurde. Gerade für die Jüngeren ist die Alternative zur traditionellen Religiosität nicht eine andere spirituelle Praxis, sondern die reine Säkularität. Spiritueller Leerstand auch hier. Kritisch könnte man einwenden, dass den in der KMU abgefragten Themen eine verengte Vorstellung von Spiritualität zugrunde liegt. Gefragt wurden vor allem nach Karma, Astrologie, dem Wirken übernatürlicher Kräfte im Universum oder der »Verbindung zu einer höheren Wirklichkeit«. Themen wie Achtsamkeit oder Kontemplation beispielsweise kommen nicht vor. Trotzdem ist der Befund ernüchternd. Die Vorstellung, dass es außerhalb der traditionellen Kirchenfrömmigkeit eine breite und tiefe spirituelle Bewegung gebe, wird von der Untersuchung nicht gestützt.

Vielleicht zeigt das Augsburger Theaterprojekt aber auch auf, dass der spirituelle Impuls in der Postmoderne zunehmend in die Kunst auswandert. Erhebende Gefühle werden heutzutage in Konzerthallen erlebt, Daseinsdeutung und ethischer Diskurs, jedenfalls teilweise, im Theater und bei Autorenlesungen verhandelt.

Aufbruch in neue Gefilde

Was es außerhalb traditioneller Kirchenfrömmigkeit allerdings durchaus gibt, ist eine Vielzahl von meist kleinen Initiativen und Aufbrüchen, die nach neuen Wegen suchen und sie auch gehen. Anders als die beschriebenen konservativen Strömungen sehen sie das Heil nicht in der glorreichen Vergangenheit, der vermeintlich heilen Welt von früher, als »alles noch besser« war. Einzelne und kleine Gruppen brechen auf und suchen Neuland. Oft sind das gerade solche Menschen, die in den neueren Freikirchen aktiv waren, doch die geistliche und moralische Enge, die in solchen Gemeinden oft herrscht, irgendwann nicht mehr ertragen haben. Sie haben ihren Glauben »dekonstruiert«, um einen in dieser Szene häufig gebrauchten Begriff zu verwenden. Sie können sich Gott nicht mehr als den Patriarchen im Himmel vorstellen, der am Ende der Tage über jede und jeden Einzelnen den Daumen hebt oder senkt. 

»Alle Menschen, unabhängig von Ethnie, Hautfarbe, sexueller Orientierung und, ja, auch unabhängig davon, welcher Religion sie anhängen oder nicht, sind geliebte Kinder Gottes.«

Sie entdecken in ihrer Bibel neu die Botschaft: Alle Menschen, unabhängig von Ethnie, Hautfarbe, sexueller Orientierung und, ja, auch unabhängig davon, welcher Religion sie anhängen oder nicht, sind geliebte Kinder Gottes. Dieser Gott gibt niemanden verloren, dieser Gott ist die Kraft der Liebe, der Kreativität, der Freiheit. Diese Menschen und Gruppen beschreiben sich selbst häufig mit dem Begriff »postevangelikal«, das heißt, sie haben die Enge der evangelikalen Welt verlassen, aber nicht die Grundüberzeugung aufgegeben, dass dieser Welt eine liebende, lebendige Kraft zugrunde liegt. Mitgenommen haben sie aus ihrer früheren Prägung eine Wertschätzung, ja eine Liebe zu Jesus und die Bereitschaft, sich verbindlich zu engagieren.

Dazu kommen experimentierfreudige Menschen, die immer noch zu ihrer Kirche halten, aber nach grundlegend neuen Formen suchen, ihren Glauben zu leben. Das bedeutet vor allem, dass sie die seit Jahrhunderten herrschende Grundstruktur des kirchlichen Lebens, die konfessionell bestimmte Ortsgemeinde, hinter sich lassen. Stattdessen starten sie Projekte, Initiativen, Communitys oder Online-Foren. Viele dieser Initiativen sind am Rand der Volkskirchen angesiedelt, in deren »Vorgarten« oder auch schon jenseits des Zauns, mit ökumenischen Partner:innen oder solchen, die gar keiner Kirche angehören. Diese Initiativen weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Zum Beispiel besitzen sie in der Regel keine eigenen Räume. Viele sind mobil, stellen ein Lastenfahrrad auf dem Marktplatz ab, werfen die Espressomaschine an und kommen mit den Menschen ins Gespräch. Sie stellen einen Bauwagen ins Neubaugebiet und veranstalten Spielnachmittage für die Kinder der Familien, die dort schon eingezogen sind. Oder sie mieten ein leerstehendes Ladenlokal an, betreiben darin ein Eltern-Kind-Café oder decken abends den Tisch mit Brot und Butter für alle, die davon erfahren haben und sich mit an diesen Tisch setzen wollen. Die Vielgestaltigkeit dieser Aufbrüche hängt damit zusammen, dass sie – anders als die neuen Freikirchen – nicht ein vorgefertigtes Glaubenskonzept an den Mann und die Frau bringen wollen, sondern die Frage stellen, was die konkreten Menschen vor Ort brauchen. Das kann Sozialberatung sein, Spielpädagogik für Kinder, eine Suppenküche, aber auch ein mobiles Freiluftkino in einer ländlichen Gegend, nachdem das letzte Kino in der 20 Kilometer entfernten Kreisstadt aufgegeben hat. Es geht darum, Grenzen zu überwinden und Menschen zusammenzuführen, die sonst vereinzelt in ihren Wohnungen sitzen, ihnen ein kleines Licht zu bringen und sie in ihren Fragen und Nöten, vor allem aber in ihrem individuellen Leben ernst zu nehmen.

Manche dieser Initiativen bestehen nur kurze Zeit. Andere sind auf längere Dauer angelegt. So finden sich etliche Paare, Familien oder Grüppchen von Freundinnen und Freunden, die bewusst in einen sozialen Brennpunkt ziehen – nicht um die Menschen dort zu missionieren. Vielmehr wollen sie einfach mit ihnen leben. Sie leben eine Zeit lang vor Ort, versuchen mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, was hier konkret gebraucht wird: sei es eine Jugend-Theatergruppe, ein regelmäßiges, gemeinsam zubereitetes und verzehrtes Abendessen oder ein Coworking-Space.

Viele dieser Initiativen erhalten (noch) finanzielle Unterstützung durch die Kirchen. Sie firmieren unter dem Label »Fresh Expressions of Church«, kurz FreshX – eine Bewegung, die aus der anglikanischen Kirche stammt –, oder unter der Bezeichnung »Erprobungsräume« oder M.U.T. (Missional, Unkonventionell, im Tandem). Das Problem dabei ist allerdings, dass die kirchlichen Mittel meistens als Projektförderung vergeben werden. Ein Projekt hat eine bestimmte Laufzeit, an deren Ende der Geldhahn wieder zugedreht wird. Wirklich nachhaltig können solche Initiativen also nur sein, wenn sie während des Förderzeitraums genügend Spenden und Drittmittel akquirieren, um nach dem Ende des kirchlichen Geldsegens weitermachen zu können. Damit sind sie dann in derselben Situation wie jeder Verein und jede NGO, die sich selbst finanzieren müssen.

Was aber unterscheidet dann diese Formen des Christseins im 21. Jahrhundert von einem beliebigen Verein oder einer NGO? Äußerlich gesehen, sind tatsächlich kaum Unterschiede zu erkennen. Denn diese neu entstehenden Gruppierungen tragen ihr Christsein meist nicht groß nach draußen. Sie verfolgen keine missionarische Agenda.

Etwas pauschal könnte man sagen, die von den amerikanischen Megachurches inspirierten Freikirchen legen den Hauptakzent ihres Wirkens auf das Seelenheil der Gemeindeglieder. Um möglichst viele Menschen vor dem drohenden Strafgericht Gottes zu retten, unternehmen sie intensive missionarische Anstrengungen, und auch ihre mitreißenden Gottesdienste dienen nicht zuletzt dem Zweck, möglichst viele Menschen in die Gemeinde zu holen und sie zu binden. Den kleinen Startups und Initiativen geht es dagegen mehr darum, für ihre Mitmenschen da zu sein und ihnen zu dienen, um einmal den klassischen kirchlichen Jargon zu bemühen. Hinter dieser Akzentsetzung stehen fundamentale theologische Entscheidungen, steht ein Gottesbild, das sich radikal von dem strengen himmlischen Patriarchen unterscheidet. Während die missionarisch ausgerichteten Kirchen davon sprechen, Gott oder Jesus »zu den Menschen zu bringen«, gehen postevangelikale Christinnen und Christen davon aus, dass Gott schon lange da ist, bevor die ersten Christen auftauchen. Sie sehen Gott als die Tiefe des Seins, als Grund und Quelle der Welt. Häufig haben sie das klassische theistische Gottesbild hinter sich gelassen – Gott als das »höchste Wesen«, das in einem wie auch immer beschaffenen Jenseits wohnt und von dort aus die Welt regiert, nach Gutdünken eingreift und am Ende die Menschen belohnt oder betraft. Stattdessen verstehen sie Gott im Sinne des Panentheismus (siehe Artikel »Von Gott und der Welt« von Tilmann Haberer): Gott ist gegenwärtig in allem, im gesamten Kosmos und in jedem Menschen. Und gleichzeitig geht Gott im Kosmos nicht auf, Gott ist »mehr als alles«. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine geschlossene Lehre, die von allen einhellig geteilt wird. 

»Gott ist gegenwärtig in allem, im gesamten Kosmos und in jedem Menschen. Und gleichzeitig geht Gott im Kosmos nicht auf, Gott ist »mehr als alles«.

Manche folgen der Prozesstheologie, die in Anlehnung an die Philosophie von Alfred North Whitehead entwickelt wurde, manche eher der integralen Theologie, die sich im Kielwasser des Bewusstseinsforschers Ken Wilber herausgebildet hat. Wieder andere nehmen sich das alte keltische Christentum zum Vorbild und entwickeln daraus eine ganzheitliche Schöpfungstheologie, viele orientieren sich auch an dem amerikanischen Franziskaner Richard Rohr. Auf unterschiedlichen Wegen kommen sie zu ähnlichen Grundüberzeugungen. Dekonstruiert haben sie vor allem solche Aussagen, die Gott auf Kosten der Menschen groß machen. Aussagen, die Angst schüren. Exklusive Heilslehren, die Gottes Liebe von einem ganz bestimmten Wohlverhalten abhängig machen, von der Zustimmung zu einem Set von Glaubenssätzen und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dekonstruiert haben sie das Bild von einem Gott, der rigide Vorschriften erlässt und der Blut sehen muss, um »versöhnt« zu werden.

Sie gehen bescheiden um mit ihrer religiösen Überzeugung und ihren spirituellen Praktiken, wohl auch in dem Wissen, dass die Kirchen im Lauf der Geschichte – und bis in die jüngste Zeit hinein – furchtbares Unheil angerichtet, Menschen verfolgt, missbraucht und zerstört haben. Wenn sie miteinander Gottesdienst feiern, tun sie das eher unter sich. Niemand, der teilnehmen möchte, wird ausgeschlossen, sie betreiben aber keine offensive Werbung. Sie betrachten ihre spirituellen Treffen, ihre Gebete und Mahlfeiern als Selbstzweck, als Kraftquelle, die ihnen hilft, für ihre Mitmenschen da zu sein, und nicht als Mittel, um andere für ihren Glauben zu gewinnen.

Diese Gemeinschaften, Freundeskreise, Initiativen und Aufbrüche werden nicht die Nachfolge der Großkirchen antreten. Sie sind lokal ausgerichtet und streben nicht danach, immer weiter zu wachsen und sich auszubreiten. Sie werden neben den schrumpfenden Kirchen als kleine, lebendige Kraftzentren bestehen und dabei vielleicht durchaus mit den noch bestehenden Ortsgemeinden kooperieren.

So sei zum Schluss eine utopische Skizze erlaubt: Als »Vortrupp des Lebens« (Helmut Gollwitzer) werden diese Menschen und Gemeinschaften die Botschaft des Jesus von Nazareth vom Reich Gottes, das unter uns schon anbricht, umsetzen. Sie werden an ihrem konkreten Ort das Leben mit ihren konkreten Nachbarinnen und Nachbarn teilen und, so gut sie können, Nächstenliebe leben. Sie werden ohne große Worte dazu beitragen, unsere Welt zu einem besseren Ort zu machen. So werden sie der christlichen Botschaft neuen, alten Sinn verleihen und den spirituellen Leerstand auf ihre Weise wieder füllen.

Tilmann Haberer

Zur Autor

Tilmann Haberer ist emeritierter evangelischer Pfarrer, Gestaltseelsorger und systemischer Berater und war zuletzt in der ökumenischen Krisen- und Lebensberatungsstelle »Münchner Insel« tätig. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich mit der integralen Theorie. Mit Marion und Tiki Küstenmacher hat er 2010 das Buch »Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird« veröffentlicht. Sein Buch »Von der Anmut der Welt« formuliert die christliche Theologie im Rahmen der integralen Weltsicht. In »Kirche am Ende« (2023) beschreibt er 16 Anfänge für das Christsein von morgen.

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