Wie die Erotische Kontinenz das Liebesspiel spiritualisiert
Unter dem Begriff Brahmacharya, der »Erotischen Kontinenz«, lehrt Tantra die Kontrolle der Sexualenergie und das Erleben spiritueller Höhenflüge während des Liebesspiels. Wer sich auf diesen tantrischen Weg begibt, kann nicht nur sein Liebesleben verbessern und bis dahin unbekannte Ekstasezustände erleben, sondern auch Gott näherkommen.
Sechseinhalb Minuten dauert Sex im internationalen Durchschnitt. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Universität von Queensland. Und das im sexuell tendenziell eher aktiven Alter der 18- bis 30-Jährigen. Bei den über 50-Jährigen liegt die Dauer eines durchschnittlichen Liebesspiels bei etwas über vier Minuten. Der sexuelle Akt ist zu Ende, wenn der Mann ejakuliert. Bedenkt man, dass viele Frauen mindestens 20 Minuten brauchen, um zum Orgasmus zu kommen, sind Konflikt und Frustration vorprogrammiert.
Doch warum kommt es zu diesem »kurzen« Erleben, wenn wir als Menschen doch auch dazu in der Lage sind, »die schönste Nebensache der Welt« bewusst länger zu genießen? Orientieren wir uns heute an falschen Rollenbildern? Zeigen uns Internet und Filmindustrie unrealistische Szenen, denen wir traurigerweise nachzueifern versuchen? Genau das sagen die Autoren des Buches »The multi-orgasmic man«, Mantak Chia und Douglas Abrams, über die gegenwärtige Situation: »Hollywood-Sex ist kein guter Sex; es ist nur schneller Sex. Die leidenschaftliche, eilige Umarmung, welche in den meisten Filmen porträtiert wird, in denen die Frau sofort feucht und augenblicklich von ein paar Minuten koitalem Beben befriedigt ist, wäre zum Lachen, würde sie nicht so viele Zuschauer hinterlassen, die versuchen, dieses unrealistische Modell eines Liebesspiels nachzuahmen.«
Wie in allen Yoga-Stilen wird auch im Tantra Yoga primär die spirituelle Evolution, also die persönliche Weiterentwicklung des Menschen, verfolgt.
Immer mehr Menschen suchen jedoch nach einer glücklichen Liebesbeziehung und einer erfüllenden Sexualität. Nicht wenige von ihnen geraten dabei in fragwürdige Extreme, die ihnen weder guttun noch tiefere Erfüllung bereiten. Im Gegenteil, sie erschaffen Leid und Abhängigkeiten durch eine Sache, die Glück und Freude bringen sollte. Eine Lösung bietet hingegen das Tantra-Yoga-System. Bereits vor Jahrtausenden beschäftigten sich die Tantriker
mit Praktiken einer erfüllenden Sexualität. »Guter Sex« und gesteigertes Vergnügen waren jedoch nicht die Hauptintention der damaligen Tantriker. Wie in allen Yoga-Stilen wird auch im Tantra Yoga primär die spirituelle Evolution, also die persönliche Weiterentwicklung des Menschen, verfolgt.
Letztendliches Ziel des Tantra Yoga ist die Erleuchtung und damit die Verschmelzung mit dem allerhöchsten Absoluten, mit Gott.
Letztendliches Ziel des Tantra Yoga ist die Erleuchtung und damit die Verschmelzung mit dem allerhöchsten Absoluten, mit Gott. Eine wesentliche Methode, die dies ermöglichen soll, indem sie die sexuelle Energie kontrolliert, bewahrt und in höhere Formen psychischer, mentaler und spiritueller Energie umwandelt, ist die Praktik der Erotischen Kontinenz. So schreibt Swami Sivananda beispielsweise: »Wenn er [der Yoga-Praktizierende, A. d. V.] seinen verlorenen göttlichen Zustand und seine brahmische [schöpferische, A. d. V.] Herrlichkeit wiedererlangen will, muss sein ganzes Wesen transformiert werden, sein sexuelles Verlangen muss durch erhabene göttliche Gedanken und regelmäßige Meditation vollständig umgewandelt werden. Die Umwandlung des sexuellen Verlangens ist ein sehr mächtiger, wirksamer und zufriedenstellender Weg, um ewige Glückseligkeit zu erlangen.«
Brahmacharya
In dem klassischen Leitfaden des Yoga, dem Yoga Sutra, dem achtstufigen Pfad zur spirituellen Erleuchtung, wird die Erotische Kontinenz (Sanskrit: Brahmacharya) von dem Weisen und Gelehrten Patanjali als eine der ersten Verhaltensregeln (Yamas) beschrieben. Brahmacharya bedeutet dabei so viel wie Kontinenz, Kontrolle oder Zurückhaltung und kann sich – muss sich aber nicht – auf ein Leben in Enthaltsamkeit und Abstinenz beziehen. Gleichzeitig weist das Wort Brahmacharya zum einen auf eine Orientierung zu Brahman, das höchste Göttliche in der hinduistischen Tradition, hin und zum anderen auf Brahma, den Schöpfergott aus der Dreifaltigkeit Brahma, Vishnu und Shiva. Dies verdeutlicht die spirituelle Orientierung dieser Praxis, die hauptsächlich durch Transmutation (energetische Umwandlung) und Sublimierung (energetische Anhebung) verwirklicht wird. Brahmacharya zielt folglich auf die perfekte Kontrolle der sexuellen Energie ab. Um dies zu erreichen, kann der Yogi aus zwei Möglichkeiten wählen: Entweder er verzichtet auf jegliche sexuelle Tätigkeit oder er behält seine sexuelle Aktivität bei. Wählt er den Pfad des Verzichts, so unterlässt er alle erotischen und sexuellen Handlungen, strebt jedoch durch die Anwendung geeigneter Yoga-Übungen und -Techniken danach, sein sexuelles Potenzial in höhere Energieformen umzuwandeln. Dies wird aktive Abstinenz genannt, da mit der sexuellen Energie dennoch aktiv gearbeitet wird, wohingegen der reine Verzicht auf sexuelle Handlungen (passive Abstinenz) nicht als Brahmacharya angesehen wird. Swami Sivananda ging beispielsweise davon aus, dass der Mangel an spiritueller Sadhana (spiritueller Yoga-Praxis) die Hauptursache für alle sexuellen Anziehungen ist. »Bloße theoretische Enthaltung von Sinnlichkeit wird dir keine guten Ergebnisse bringen«, so sein Fazit. Die umgewandelte und durch spirituelle Praxis verfeinerte Energie kann der Yoga-Praktizierende für erhabene Zustände der Vitalität, der inneren Stärke, der reinen Liebe, der mentalen Kraft oder der erhabenen Spiritualität nutzen.
Für den Mann beinhaltet dies in erster Linie, während des Liebesspiels den Orgasmus von der Ejakulation zu trennen
Entscheidet sich der Yogi hingegen für die Ausübung seiner sexuellen Tätigkeit, bedeutet dies, die vollkommene Kontrolle all seiner sexuellen Funktionen anzustreben. Für den Mann beinhaltet dies in erster Linie, während des Liebesspiels den Orgasmus von der Ejakulation zu trennen, sodass die Ejakulation beliebig lange hinausgezögert und letztendlich vermieden werden kann. Ja, Sie haben richtig gelesen, Orgasmus und Ejakulation sind nicht ein und dasselbe! Der Orgasmus geht der Ejakulation voraus. Sogar auf der Ebene des vegetativen Nervensystems sind sie voneinander getrennt: Während der Orgasmus sich hauptsächlich im Gehirn abspielt und vom Parasympathikus gesteuert wird, ist die Ejakulation einfach ein vom Sympathikus gelenkter Reflex, der zum Ausstoß von Samen führt. Durch entsprechende Übung können Orgasmus und Ejakulation voneinander getrennt werden, sodass auch der Mann unendlich viele Orgasmen erleben kann. Entsprechend streben die Frauen gleichermaßen nach der Kontrolle ihrer sexuellen Energien und vermeiden die explosionsartige Entladung ihres sexuellen Potenzials während des Liebesspiels. Während die Erotische Kontinenz für die allermeisten Frauen leicht anzuwenden ist und nur selten einer vorherigen Übung bedarf, müssen Männer oft längere Zeit daran arbeiten, die Erotische
Kontinenz zu erreichen. Ihr Training beinhaltet die Kontrolle der Ejakulation und deren Aussetzen für möglichst lange Zeitspannen (Wochen, Monate oder Jahre). Darüber hinaus ist es für den Mann ebenso wünschenswert, die unbewussten nächtlichen Pollutionen (Samenergüsse) zu beseitigen. Wird diese Form der Kontrolle der sexuellen Energien sowohl beim Mann als auch bei der Frau während des Liebesspiels erreicht, kann das Liebespaar auf diese Weise bis dahin ungekannte Dimensionen des verklärenden Eros entdecken.
Eros: eine sehr wichtige Voraussetzung
Eine äußerst wichtige Voraussetzung für die Spiritualisierung des Liebesspiels ist es, zwischen den vom Ego (Sanskrit: Ahamkara) getriebenen, instinktiven, vornehmlich von sexuellen, der Reproduktion dienlichen Energien und den erhabeneren Energien des reinen Eros unterscheiden zu lernen und sich immer wieder auf letztere auszurichten. Im Fall des reinen Eros können die Grenzen des Egos, in denen wir auf der sexuellen Ebene gefangen sind, für eine bestimmte Zeit überschritten werden, sodass sich beispielsweise Liebe und Altruismus umfassend äußern können. Während sexuelle Erregung Begierden, Unruhe und spezifische Emotionen im Wesen erzeugt, die zur Bewusstseinskontraktion führen, generiert erotische Erregung mehr Lebhaftigkeit und Freude und damit eine große Ausdehnung des Bewusstseins. Erotische Energie hilft dabei, die eigene Schwingungsfrequenz zu erhöhen, idealistische Gedanken und Ideen zu fördern und die Aspiration zu etwas Höherem zu nähren. Allgemein kann gesagt werden, dass die sogenannte »rohe Sexualität« zu einer Verengung des Bewusstseinsfeldes führt, wohingegen die reine Erotik zur Ausweitung des Bewusstseins beiträgt. Erotische Erregung wird wesentlich langsamer entfacht und steigt auch langsamer an als sexuelle Erregung. Dafür können Liebesspiele mit reinem Eros jedoch wesentlich länger dauern als gewöhnlicher Sex. Erotische Erregung ist wesentlich affektiver und sinnlicher als sexuelle Erregung. In diesem Zustand schwindet der Drang, zu ejakulieren, und es wird kein spezifisches Ziel, wie der Orgasmus, verfolgt. Vielmehr richtet sich das Liebespaar auf eine euphorische Verschmelzung miteinander und auf eine umfassende affektive Erfüllung aus.
Darüber hinaus gibt es weitere wichtige Unterschiede zwischen erotischer und sexueller Erregung. Während sexuelle Erregung für gewöhnlich eher auf eine Körperzone begrenzt und weitestgehend oberflächlich ist, offenbart sich die Energie des reinen Eros als erstaunlich nuanciert und vergleichsweise intensiver. Bezieht sich das sexuelle Vergnügen hauptsächlich auf den physischen Körper, so können sich die Empfindungen mit der Energie des reinen Eros auf andere Ebenen, wie die emotionale, die mentale und sogar die supramentale Ebene, ausweiten. Während die »rohe Sexualität« dazu neigt, sich im Laufe der Zeit zu wiederholen, mechanisch und zu einer Routine zu werden, die die Kreativität hemmt, den Fortschritt blockiert und auf lange Sicht zu Monotonie, Langeweile und in vielen Fällen zur Trennung des Liebespaares führt, bestärkt die reine Erotik die eigene Kreativität und führt zur Resonanz mit Energien der Liebe, der Intimität, der Gemeinschaft, des Glücks, des Optimismus, der Spontaneität und des Vergnügens, die dem Liebesspiel und der Liebesbeziehung insgesamt Flügel verleihen.
Liebesspiel und Orgasmus
In Beziehungen, in denen der Wunsch nach sexueller Befriedigung vorherrscht und kein Streben nach höherer spiritueller Verwirklichung vorhanden ist, ist es für die Frau schwer, einen ausgedehnten Orgasmuszustand zu erleben. Mantak Chia und Rachel Abrams weisen in ihrem Buch »The multi-orgasmic woman« darauf hin, dass Studien zufolge ein Viertel aller Frauen in den USA noch nie einen Orgasmus erlebt hat, mehr als die Hälfte keine regelmäßigen Orgasmen haben und weitaus weniger, nur eine von fünf Frauen, multiple Orgasmen erleben. Während der Mann innerhalb kürzester Zeit vollständig erregt sein kann, brauchen die meisten Frauen eine gewisse »Anlaufphase«. Ejakuliert der Mann in einem gewöhnlichen Liebesspiel ohne Erotische Kontinenz schon nach wenigen Minuten, ist das Liebesspiel schneller vorbei, als es für beide, aber insbesondere für die Frau, wünschenswert ist. »Das Bild der unbefriedigten Frau, deren Geliebter ejakuliert, stöhnt und auf ihr zusammenbricht, ist so geläufig, dass es zu einem kulturellen Witz geworden ist, aber die Erschöpfung, die Männer nach dem Ejakulieren erleben, ist so alt wie das erste Stöhnen während des Geschlechtsaktes«, sind Mantak Chia und Douglas Abrams überzeugt. Das heißt, damit beide Seiten des Liebespaares am Ende des Liebesspiels erfüllt sind, muss das Liebesspiel eine bestimmte Dauer aufweisen. Die Erotische Kontinenz kann, wenn sie erfolgreich angewendet wird, dabei helfen, das Liebesspiel zu verlängern.
Schauen wir uns nun die Unterschiede des Liebesspiels mit und ohne Erotische Kontinenz an. Das gewöhnliche Liebesspiel hat im Wesentlichen vier Phasen:
- Vorspiel: das Erwecken der Energien
- Anstieg der erotischen Energien
- Orgasmus mit Ejakulation und rasanter Abfall der Energien
- Ende des Liebesspiels
Wie Abbildung 1 zeigt, findet zunächst das Vorspiel statt. Hier werden die sexuellen Energien erweckt. Anschließend beginnen die Energien weiter anzusteigen. Auf dem Weg zum gewöhnlichen Orgasmus ohne Erotische Kontinenz erscheint dann ein Punkt, an dem der Mann die bewusste Kontrolle über seine sexuellen Energien verliert. Daran schließt sich der Orgasmus mit Ejakulation an. Ist der Point of no Return erreicht, so laufen danach alle Prozesse im Körper automatisch ab und die Ejakulation ist unvermeidbar. Kurz danach tritt die Entspannung ein und das Liebesspiel ist zu Ende.
Das Liebesspiel mit Erotischer Kontinenz verläuft hingegen anders als das Liebesspiel ohne Erotische Kontinenz. Folgende Phasen sind für das Liebesspiel mit Erotischer Kontinenz kennzeichnend:
- Vorspiel: das Erwecken der Energien
- Anstieg der Energien und deren Kontrolle
- Transmutation: das Vermeiden der Ejakulation und die Transmutation (Umwandlung) eines Teils des sexuellen Potenzials in Energie
- Orgasmus ohne Ejakulation
- Plateau: Beibehalten des Energieniveaus
- Fortführung des Liebesspiels auf einer höheren Ebene mit mehr Vergnügen und größerer Intensität
- Nach einer Zeitspanne von 15 bis 30 Minuten eine erneute Phase des Vermeidens der Ejakulation und der Transmutation eines Teils des sexuellen Potenzials in Energie
- Der zweite Orgasmus: sehr viel intensiver und tiefgründiger als der vorherige
- Plateau, dann Fortführung des Liebesspiels auf einer höheren Ebene mit mehr Vergnügen und größerer Intensität usw.
Wie Abbildung 2 zeigt, findet zunächst das Vorspiel statt, das im tantrischen Liebesspiel eine nicht zu unterschätzende Rolle einnimmt und vor allem für die Frau sehr wohltuend und notwendig ist. Dies ist die Phase der Erregung. Hier werden sowohl die Energien des Mannes als auch die der Frau erweckt. Ähnlich dem Liebesspiel ohne Erotische Kontinenz folgt daraufhin der Anstieg der sexuellen Energien. Wichtig ist es an dieser Stelle, sich nicht von dem steigenden Vergnügen übermannen zu lassen und die Kontrolle zu bewahren. Die Ejakulation wird hier bewusst vermieden. Sobald die Transmutation (Umwandlung) eines Teils des sexuellen Potenzials stattfindet, wird diese Energie als bedeutend »leichter« wahrgenommen. Durch die mit der Transmutation verbundene innere Dynamik lässt sich die Energie wesentlich einfacher kontrollieren und der Druck, zu ejakulieren, schwindet.
Eine vor allem auf der psychischen Ebene zum Beispiel durch starkes Verliebtsein hervorgerufene innere Dynamik kann die Transmutation so anregen, dass dieser Prozess auf außerordentlich effiziente Weise ablaufen kann. Bei entsprechender Erregung folgt daraufhin ein Orgasmuszustand ohne Ejakulation (bzw. Entladung). Dieser kann wesentlich länger andauern als in einem Liebesspiel ohne Erotische Kontinenz. Die Geliebten sollten zu diesem Zeitpunkt relativ bewegungslos in der Kontemplation verharren. Statt eines rapiden Abfalls der Energien wie in einem Liebesspiel ohne Erotische Kontinenz werden nun die Energien auf einem erhöhten Energielevel beibehalten (Plateau-Phase). Anschließend können die beiden Geliebten das Liebesspiel fortführen, das ihnen noch mehr Vergnügen und größere Intensität bietet. Nach einer Zeitspanne von 15 bis 30 Minuten erscheint daraufhin eine erneute Phase des Vermeidens der Ejakulation und die Transmutation einer kleinen Menge des sexuellen Potenzials findet abermals statt. Es folgt der zweite Orgasmus. Dieser manifestiert sich viel intensiver und tiefgründiger als der vorherige. Je öfter das Liebespaar diesen Ablauf wiederholt, desto höher kann es auf der ekstatischen »Treppe zum Himmel« steigen. Die Geliebten können auch gleichzeitig gemeinsam den Orgasmuszustand genießen. Und es kann ein Zustand der perfekten Kommunion und der überwältigenden Liebe auftreten. Indem sie die sexuellen Energien durch die »mikrokosmische Umlaufbahn« (Microcosmic Orbit) lenken, erreichen die Taoisten das, was sie das Erleben eines Ganzkörperorgasmus nennen. Ähnlich gibt es auch im Tantrismus Berichte über Orgasmen auf einzelnen Chakren und das Erreichen von Ganzkörperorgasmen sowie vieler erhabener spiritueller und bewusstseinserweiternder Zustände. Wird die Energie richtig kontrolliert und entsprechend gelenkt, können ausgedehnte Orgasmen bis hin zu Zuständen der göttlichen Ekstase (Samadhi) oder der Erweckung der schöpferischen Kraft Kundalini Shakti führen. Dabei ist es für Männer auf dem Weg zum Ganzkörperorgasmus sehr hilfreich, wenn sie der Frau aufmerksam auf ihrem Weg zum Orgasmus folgen. Für Frauen bieten hingegen eine tiefe Stimulation des Gebärmutterhalses (Zervix), die Erweckung möglichst vieler erogener Zonen (auch außerhalb des Genitalbereichs) sowie vor allem eine tiefgründige Entspannung und emotionale Erfüllung die besten Voraussetzungen, um Ganzkörperorgasmen erleben zu können.
Die Effekte des Liebesspiels mit Erotischer Kontinenz
Sowohl im Taoismus als auch in der tantrischen Kaula-Tradition wird die biologische Transmutation des sexuellen, kreativen Potenzials und dessen Sublimierung in höhere Formen vitaler, emotionaler, mentaler und spiritueller Energie als das Schlüsselelement der Erotischen Kontinenz angesehen. Transmutation beschreibt einen Prozess, bei dem eine Ausgangssubstanz in eine andere, subtilere (feinere) Substanz transformiert, also umgewandelt wird. Das Besondere an diesem Prozess ist die dabei frei werdende Energie, die man sich so zunutze machen kann. Tantrische Meister beschrieben den Prozess der biologischen Transmutation schon vor Jahrtausenden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dieser Prozess dann auch von der modernen Wissenschaft teilweise belegt. Der Franzose Louis Kervran war der Erste, der den Prozess der biologischen Transmutation mit seiner Forschung nachwies. Indem sich der Praktizierende den Prozess der Transmutation zunutze macht, kann er sich über die Begrenzungen des physischen Körpers hinwegsetzen und sein Leben spiritualisieren.
Auf die Erotische Kontinenz übertragen bedeutet dies, dass bei der biologischen Transmutation sexuelles Material, also Sperma und andere sexuelle Flüssigkeiten, in andere Formen der Materie umgewandelt und vom Organismus absorbiert und genutzt werden. Mit dieser Transformation der Materie geht die Freisetzung einer großen Menge an Energie einher, die sich als physische, psychische, emotionale, mentale oder spirituelle Energie äußern kann. Nach der Transmutation folgt der Prozess der Sublimierung des sexuellen Potenzials. In diesem Prozess wird die frei gewordene Energie verfeinert und kann sich mithilfe der entsprechenden Aufmerksamkeit und einem angemessenen Fokus unterschiedlich und je nach Absicht im Menschen äußern. Auf diese Weise können beispielsweise Selbstbewusstsein, Willensstärke, Entschlossenheit, Liebe, Hingabe, Fürsorge und Altruismus, aber auch das Gefühl, mit dem Universum verbunden zu sein, gestärkt werden.
Während mit dem Verlust des Spermas bei der Ejakulation zahlreiche negative Zustände einhergehen – dazu zählen Erschöpfung, eine Verminderung der Vitalität und das Sinken des affektiven, mentalen und spirituellen Potenzials –, gewährt das Vermeiden des Spermaverlusts unzählige Vorteile. So vergrößern sich beispielsweise die Vitalität und das Lustempfinden der beiden Geliebten, es findet eine Energieaufladung und Verjüngung des Organismus statt und es kann zum Erleben von unzähligen Orgasmen kommen, ohne Symptome, die für ein Liebesspiel ohne Erotische Kontinenz kennzeichnend sind, wie Müdigkeit, Schläfrigkeit oder Abneigung gegen das Liebesspiel. Frauen, die die Erotische Kontinenz ausführen, können die gleichmäßige Verminderung des Menstruationsblutes und der mit der Menstruation einhergehenden Schmerzen und anderer Unannehmlichkeiten beobachten. Sie erleben eine körperliche Auffrischung, die Vergrößerung ihrer Vitalität, der schöpferischen Kraft und Intelligenz sowie ein stabiles psycho-emotionales Gleichgewicht und das Verschwinden von Minderwertigkeitskomplexen. In Liebesbeziehungen, in denen die Erotische Kontinenz praktiziert wird, treten weniger Probleme und Spannungen auf als in herkömmlichen Beziehungen. Zudem sind sie inniger, harmonischer und von längerer Dauer.
Wird Brahmacharya perfekt beherrscht, hat der Mensch einen Zugang zu einem riesigen Vorrat an Vitalität und Energie, der Verstand wird geschärft und der Intellekt gestärkt. Die physische sowie die mentale Kraft werden vergrößert, der Verstand wird klarer und das Gedächtnis verbessert sich. Die verbesserten intellektuellen Fähigkeiten führen zu einer Beschleunigung des spirituellen Fortschritts. Der Praktizierende erhält auf diese Weise Zugang zu einem immensen Reservoir an Energie, die für das Erreichen von erweiterten Bewusstseinszuständen, wie dem Ekstasezustand des Samadhi, genutzt werden kann. Für das Erreichen solch hochfrequenter Erlebnisse ist entsprechend viel Energie notwendig, die dem Praktizierenden durch die Praxis der Erotischen Kontinenz zur Verfügung steht. Eine neue Perspektive auf das Leben und die Sexualität stellt sich ein, Freude, Glück, überwältigende Zustände von Glückseligkeit und Ausdehnung können leicht empfunden werden. Wer die Erotische Kontinenz beharrlich ausübt, kann auf diese Weise sogar sein Höchstes Selbst (Sanskrit: Atman) offenbaren.
Statt einer instinktmäßigen, biologischen Handlung erreicht das Paar durch seine erotische Vereinigung die Transzendierung des Gewöhnlichen und erlebt eine Ausdehnung des Bewusstseins.
All diese Effekte werden durch die Transmutation des sexuellen Potenzials und dessen Sublimierung in höhere Energieformen möglich. Dies setzt den bewussten Umgang und das Lenken der sexuellen Energien voraus. Durch die Erotische Kontinenz findet kein »Verbrauch« der sexuellen Energie statt. Stattdessen werden die Energien angehoben und dafür genutzt, Gott näherzukommen. In der tantrischen Tradition wird das Liebesspiel mit Erotischer Kontinenz, einer verklärenden Sichtweise auf den Geliebten und das gesamte Liebesspiel sowie mit gegenseitiger Liebe als Weg zur Selbsterkenntnis und spirituellen Perfektion angesehen. Statt einer instinktmäßigen, biologischen Handlung erreicht das Paar durch seine erotische Vereinigung die Transzendierung des Gewöhnlichen und erlebt eine Ausdehnung des Bewusstseins. Schließlich führt das Liebesspiel mit Erotischer Kontinenz zum Erreichen der höchsten Ekstase (Samadhi). Auf dem Weg der Selbsterkenntnis durch die Erotische Kontinenz ist die perfekt kontrollierte Sinnlichkeit lediglich ein Hilfsmittel, mit dem das normale, beschränkte Bewusstsein transzendiert werden kann. Die Folge ist ein ekstatischer Zustand der Erleuchtung und Befreiung, der Weisheit mit sich bringt.
Erotische Kontinenz in der Praxis
Wer nun glaubt, all dies sei lediglich den Tantrikern vergangener Zeiten möglich gewesen, der irrt. Zugegebenermaßen setzt die Praxis der Erotischen Kontinenz einige Übung und den bewussten Umgang mit der eigenen sexuellen Energie voraus. Dennoch gibt es auch heutzutage Yoga-Praktizierende, die diese Prinzipien anwenden. Eine Umfrage zu den Effekten der Erotischen Kontinenz unter Praktizierenden hat beispielsweise ergeben, dass sich die Dauer und Qualität ihres Liebesspiels durch die Erotische Kontinenz deutlich verbessert hat. So erlebten die befragten Frauen unter anderem eine größere Vielfalt an Orgasmen. Waren es vor dem Ausüben der Erotischen Kontinenz vor allem klitorale und vaginale Orgasmen, so erleben die Frauen mit dem Ausüben der Erotischen Kontinenz zusätzlich G-Punkt-Orgasmen sowie zervikale, anale und urinale Orgasmen. Und auch bei den Männern zeigte sich, dass sie mit dem Erlernen der Erotischen Kontinenz eher dazu fähig waren, multiple Orgasmen zu erfahren, denn indem die Ejakulation durch das Liebesspiel mit Erotischer Kontinenz aufgeschoben und letztlich ganz vermieden wird, können auch Männer öfter orgastische Zustände erleben, wenn sie einmal gelernt haben, den Orgasmus von der Ejakulation zu trennen. Darüber hinaus beschrieben viele der Befragten ihre Höhepunkte als erfüllender, tiefgründiger und »sättigender«. War das Orgasmuserlebnis früher oft auf die Genitalregion begrenzt, so erleben viele der Teilnehmer mit der Praxis der Erotischen Kontinenz Orgasmen im gesamten Körper. Einige der Befragten machten außerkörperliche Erfahrungen und erleben mit der Ausübung der Erotischen Kontinenz nun mehr Glück, Freude, Vergnügen und Ekstase in ihren Liebesspielen und darüber hinaus.
Einige Stimmen der Praktizierenden:
»Es gibt physische [Orgasmen A. d. V.] – und diese können sich sehr ähnlich wie die gewöhnlichen Orgasmen (mit Ejakulation) anfühlen – in dem Sinn, dass ich meinen gesamten Körper als elektrifiziert empfinde, aber sie dauern viel länger als gewöhnliche Orgasmen. Sie kommen schrittweise, in immer größeren Wellen und geben mir das Gefühl einer Reinigung, so als ob mein Körper und mein Wesen gereinigt, gesäubert werden und so, als ob sie transparent würden. Und es gibt auch die mystischen, in denen ich ekstatische Zustände der Liebe, der Einheit und des Verschmelzens mit Gott verspüre. Mein Verstand wird manchmal vollkommen leer und es existiert nur noch die Glückseligkeit des Seins.«
»[Ich erlebe einen] Unterschied im Ziel und der Motivation des Liebesspiels, [es ist] nicht mehr ein vom Instinkt getriebenes Verlangen, sondern hat den klaren Zweck und das Ziel der spirituellen Verwirklichung.«
»Ich bin sehr erfüllt, wie gut gesättigt und zufrieden. Vorher hatte ich schnell wieder Hunger, und es war oft, als wenn ich durch eine Leere durchgehen musste.«
»Zuvor gab es außer dem Vergnügen im Moment der Ejakulation nichts. Alles endete damit, mit dem Bedauern, dass es nicht mehr sein konnte und es das war. Jetzt, wo ich die Erotische Kontinenz ausübe und es mir gelingt, über den Moment der Ejakulation hinauszukommen, erlebe ich große Freude darüber, dass ich es geschafft habe, die Energie zu kontrollieren. Ich spüre Schauer, die mich zittern lassen. Ich nehme es wahr, als ob Gott sich in und durch mich frei manifestiert. Am Ende des Liebesspiels fühle ich mich voller Lebenskraft und Freude. Dieser Zustand wird noch durch die Glückseligkeit meiner Geliebten vergrößert.«
»Sie [die Orgasmen A. d. V.] haben eine viel größere Intensität und Dauer, sie sind auf vielen verschiedenen Ebenen erlebbar, in der Yoni, an der Klitoris, im Kopf, im Bauch, im Herz, im Hals, im Energiekörper auf ganz subtilen Ebenen. Sie können auch als Lachen auftreten oder als Weinen, sie können den ganzen Körper erfassen und unter Strom setzen, sie können alles vibrieren lassen, alles in Hitze aufgehen lassen, sie können mich so mit Energie überfluten, dass ich nicht mehr in meinem Körper bin. Sie können einen wunderschönen Zustand von unendlicher Freude und Liebe auslösen, ein Auflösen des Ichs und eine Verschmelzung mit dem Partner bis hin zu einer Verschmelzung mit allem, was existiert.«
»Manchmal habe ich diese ewig langen Orgasmen, wellenartig, im ganzen Körper, sie können 20 Minuten oder eine Stunde andauern und hören einfach nicht auf. Das ist einfach paradiesisch! Ich glaube, ich hatte so was früher auch ganz selten mal, aber mir war gar nicht klar, dass das ein Orgasmus ist. Ich finde das schon sehr toll, sehr lustvoll. Definitiv besser als die 30 Sekunden andauernden klitoralen Orgasmen.«
»Zuvor kam das Vergnügen mit einer Freisetzung angereicherter Spannungen und die Erregung mündete in Entspannung und Erschöpfung. Jetzt kommen die Orgasmen mit Erotischer Kontinenz mit Wellen frischer Gefühle, die durch den Körper strömen, Spannungen heilen und das Schwingungsniveau erhöhen, woraus sich mehr Energie und Enthusiasmus, eine Verfeinerung der Emotionen und Intentionen sowie eine Klarheit des Verstandes ergibt.«
»Ich fange an, mich selbst besser kennenzulernen, und achte verstärkt auf meine Empfindungen innerhalb und außerhalb meines Körpers. Außerdem achte ich darauf, wie meine Geliebte sich fühlt – vorher habe ich nur nach meinem eigenen Vergnügen gesucht.«
Zur Autorin
Stefanie Aue ist Redakteurin der Tattva Viveka-Redaktion und freie Journalistin. Als Sozial- und Medienwissenschaftlerin sowie Yoga-Lehrerin gilt ihr Interesse gesellschaftlichen und individuellen Transformationsprozessen. Sie befindet sich in einer Ausbildung zur Lehrerin für »Tantra für Frauen«-Gruppen.
Mail: Stefanie@tattva.de
Bildnachweis: © Die Bilder wurden uns freundlicherweise von Ines Honfi zur Verfügung gestellt. ineshonfi.com
Liebe Stefanie Aue, unglaublich, wie gut dein Artikel ist und was für wunderschöne Bilder bei diesem Artikel dabei sind! Mir ist erst vor kurzem klar geworden, anhand der Wortfinderinnen (https://www.verloreneworte.de) welch schönes Wort der deutsche Ausdruck „Liebesspiel“ ist, Sex in ein englisches Wort und hat für mich einen eher „technischen“ Klang, weshalb ich mir vorgenommen habe, mehr das deutsche Wort zu benutzen. Vielen herzlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel, eine herausragende Leistung!