Osho – Tantra war nie männlich-chauvinistisch

Über die Legende des Yogis Saraha

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Die orientalische Tradition des Tantra ist berühmt und berüchtigt, wird jedoch von wenigen wirklich verstanden. Was also ist Tantra? Anhand einer Legende über den bengalischen Brahmanen Saraha beschreibt Osho einen Grundpfeiler von Tantra: die Verbindung aller Gegensätze.

Das Wichtigste an Tantra – und das ist etwas sehr Radikales, Revolutionäres, Rebellisches –, das Wichtigste an dieser Weltsicht ist, dass die Welt nicht in Oben und Unten geteilt, sondern aus einem Stück ist. Höheres und Niederes reichen sich die Hand. Das Höhere schließt das Niedere ein, das Niedere schließt das Höhere ein. Das Oben ist im Unten verborgen – deshalb braucht das Unten auch nicht geleugnet zu werden. Es darf weder verdammt noch vernichtet, noch getötet werden. Das Niedere braucht nur umgewandelt zu werden. Gift und Elixier sind zwei Ausdrucksformen der gleichen Energie, genau wie Leben und Tod – genau wie alles Übrige: Tag und Nacht, Liebe und Hass, Sex und kosmisches Bewusstsein.

Für Tantra gilt: Verdamme nichts – nur Dumme verdammen. Wenn du etwas verdammst, vereitelst du die Möglichkeit, dass sich das Niedere zum Höheren entwickelt. Verdamme nicht den Schlamm, denn der Lotus steckt in ihm; hilf dem Schlamm lieber, die Lotusblüte hervorzubringen. Natürlich ist der Schlamm noch keine Lotusblüte, aber es kann eine daraus werden. Und der kreative Mensch, der religiöse Mensch, hilft dem Schlamm, den Lotus freizusetzen, den Lotus aus dem Schlamm zu befreien.

Saraha ist der Schöpfer der tantrischen Vision. Sie ist von ungeheurer Bedeutsamkeit, besonders für den jetzigen Zeitpunkt der Menschheitsentwicklung. Denn die Geburtswehen einer neuen Menschheit haben schon eingesetzt. Ein neues Bewusstsein klopft an die Tür.

Die Zukunft gehört Tantra. Denn von jetzt an wird sich der Geist des Menschen nicht länger von dualistischen Einstellungen beherrschen lassen. Sie haben es jahrhundertelang versucht, und sie haben den Menschen völlig verstümmelt. Sie haben ihm ein schlechtes Gewissen gemacht. Und sie haben ihn nicht frei gemacht, sie haben den Menschen zum Gefangenen gemacht. Sie haben den Menschen auch nicht glücklich gemacht; sie haben den Menschen sehr unglücklich gemacht; sie haben alles verurteilt: Vom Essen bis zum Sex haben die Dualisten alles verurteilt. Beziehungen, Freundschaften – alles haben sie verurteilt. Die Liebe wird verurteilt, der Körper wird verurteilt, das Denken wird verurteilt. Sie haben euch keinen Fußbreit übrig gelassen, wo ihr noch stehen könntet. Sie haben der Menschheit alles genommen, und jetzt hängt sie einfach in der Luft, hängt sie im Leeren. Dieser Zustand der Menschheit ist nicht mehr zu ertragen. Tantra kann euch eine neue Perspektive geben.

Sarahas Vision

Ihr habt den Namen Saraha wahrscheinlich noch nie gehört, aber Saraha gehört zu den großen Wohltätern der Menschheit. Er war Sohn eines hochgelehrten Brahmanen, der zum Hof von König Mahapala gehörte. Der König wollte Saraha seine eigene Tochter zur Frau geben, aber Saraha wollte lieber allem entsagen, er wollte Sannyasin werden, und er wurde ein Schüler von Sri Kirti […] Eines Tages, während er meditierte, hatte Saraha eine Vision; er sah eine Frau vor sich auf einem Marktplatz sitzen, und er wusste, diese Frau würde sein wahrer Meister werden. Sri Kirti hatte ihn nur auf den Weg gebracht, aber die wahre Unterweisung würde von einer Frau kommen.

Nun, auch das muss näher verstanden werden. Tantra ist die einzige religiöse Tradition, die nie unter die Herrschaft der Männer geraten ist. Ja – um in Tantra eingeweiht zu werden, braucht man die Hilfe einer weisen Frau. Ohne eine weise Frau kann niemand in die komplexe Welt von Tantra eindringen.

Die tantrische Haltung ist nicht lebensfeindlich; Tantra ist bedingungslose Bejahung.

 

In seiner Vision sah Saraha eine Frau auf dem Markt. Erstens also: eine Frau. Und zweitens: auf dem Markt; dort, wo das Leben am turbulentesten ist. Die tantrische Haltung ist nicht lebensfeindlich; Tantra ist bedingungslose Bejahung. Saraha ging zum Markt, er war überrascht: Tatsächlich fand er die Frau, die ihm in der Vision erschienen war. Die Frau arbeitete an einem Pfeil. Sie war die Frau eines Pfeilmachers. Und jetzt das Dritte, was ihr euch über Tantra merken müsst: Je zivilisierter und kultivierter einer ist, desto geringer die Möglichkeit einer tantrischen Transformation. Je unzivilisierter, je primitiver einer ist, desto lebendiger ist er. Je zivilisierter, desto künstlicher. Man ist überzüchtet, man verliert seine Wurzeln in der Erde. Man bekommt Angst vor der schmutzigen Welt. Man hält sich aus der Welt heraus und tut so, als gehöre man nicht dazu.

Tantra sagt: Wenn du den wahren Menschen finden willst, musst du bis zu den Wurzeln gehen. Die Frau eines Pfeilmachers gehört zur untersten Kaste. Und für Saraha – den gelehrten Brahmanen, den berühmten Brahmanen, der zum Hof der Königs gehört hatte – ist der Gang zur Pfeilmacherin symbolisch. Das Gelehrte muss zum Vitalen gehen. Das Künstliche muss zum Wirklichen gehen. Er sah diese Frau, diese junge Frau, äußerst lebendig, sprühend vor Leben, wie sie den Schaft eines Pfeiles schnitzte und dabei weder nach links noch nach rechts sah, völlig in ihre Arbeit am Pfeil vertieft. Er spürte in ihrer Gegenwart sofort etwas Außergewöhnliches, etwas, das ihm noch nie begegnet war. Selbst Sri Kirti, sein Meister, verblasste neben der Ausstrahlung dieser Frau. Sie hatte etwas so Frisches, kam so unmittelbar aus der Quelle!

osho

Saraha schaute ihr aufmerksam zu: Der Pfeil war fertig, die Frau schloss das eine Auge und machte das andere auf, so als zielte sie auf einen unsichtbaren Punkt. Saraha trat näher. Er konnte keine Zielscheibe entdecken – die Frau posierte nur. Sie hielt ein Auge geschlossen, das andere war geöffnet, und so stand sie und zielte auf ein unbekanntes, unsichtbares, nicht existentes Ziel. Saraha ahnte, dass das eine Art Botschaft war. Die Pose, so schien ihm, war symbolisch; aber was sie bedeutete, war dunkel und unbestimmt. Er fühlte wohl, dass es etwas bedeutete, aber er hatte keine Ahnung, was. Also fragte er die Frau, ob sie von Beruf Pfeilmacherin sei; da lachte die Frau lauthals – ein wildes Lachen – und sagte: »Du dummer Brahmane! Die Veden hast du verworfen, aber stattdessen verehrst du jetzt die Sprüche Buddhas, das Dhammapada. Was soll‘s? Du hast deine Bücher ausgetauscht, hast deine Philosophie ausgewechselt, aber du bist nach wie vor ein Dummkopf.« Das war ein Schock für Saraha. Noch nie hatte jemand so zu ihm geredet. So konnte nur eine ungebildete Frau reden. Und wie sie lachte – so primitiv! So unzivilisiert! Trotzdem: Sie hatte etwas sehr Lebendiges, und er fühlte sich angezogen. Sie war ein großer Magnet, und er nur ein Stückchen Eisen. Dann sagte sie: »Und du hältst dich für einen Buddhisten?« Er muss das Gewand eines buddhistischen Mönches angehabt haben, ockerfarben. Und wieder lachte sie und sagte: »Buddha kannst du nur durch Handeln verstehen, nicht durch Worte, nicht durch Bücher. Hast du denn immer noch nicht genug? Hast du von dem ganzen Bücherkram denn immer noch nicht die Nase voll? Verschwende keine Zeit mehr mit dieser sinnlosen Suche. Komm und folge mir.«

Die Erkenntnis

Und dann geschah etwas, so etwas wie eine Kommunion. Er hatte so etwas noch nie erlebt. In diesem Augenblick ahnte Saraha die spirituelle Bedeutung ihres Tuns. Weder nach rechts noch nach links hatte sie geschaut, sondern genau auf die Mitte. Zum ersten Mal begriff er, was Buddha damit gemeint hatte, wenn er davon sprach, genau in der Mitte zu bleiben: Vermeide die Extreme. Erst war er Philosoph, dann Anti-Philosoph – vom einen Extrem ins andere. Erst hatte er das eine angebetet, dann das Gegenteil davon – aber das Anbeten war geblieben. 

Die Mitte ist der Punkt, von dem aus die Transzendenz geschieht.

 

Man kann von links nach rechts umschwenken, und von rechts nach links, aber das hilft nicht viel. Die Mitte ist der Punkt, von dem aus die Transzendenz geschieht. Zum ersten Mal sah Saraha also, was das hieß […] bei Sri Kirti hatte er es nie gesehen. Und hier war es Realität. Die Frau hatte recht, wenn sie sagte: »Du kannst es nur lernen, indem du handelst.« Und sie war so sehr darin vertieft, dass sie nicht einmal bemerkte, wie Saraha neben ihr stand und zusah.

»Ewas total tun, heißt, frei von allem Tun sein.«

 

Sie war so in ihre Sache vertieft, ging so in ihrem Handeln auf, dass sie auch damit ein Wort Buddhas erfüllte: »Ewas total tun, heißt, frei von allem Tun sein.«

Karma kommt dadurch zustande, dass du nicht völlig im Handeln aufgehst. Sobald du völlig darin aufgehst, bleibt kein Rest zurück. Was immer du total tust, hinterlässt keine Spuren. Was immer du total tust, ist erledigt, du behältst psychologisch keine Erinnerung daran. Tu irgendetwas nur halb, und es bleibt an dir hängen, setzt sich fort, hängt dir nach wie Katzenjammer. Der Kopf kann nicht loslassen, will es unbedingt zu Ende bringen. Der Kopf will immer alles vollenden. Führe irgendetwas zu Ende, und der Kopf tritt ab. Wenn du immer alles total bis zu Ende machst, entdeckst du eines Tages, dass das Denken aufgehört hat. Denken, das ist der Schutthaufen aller unerledigten Handlungen der Vergangenheit.

Du wolltest eine Frau lieben und hast sie nicht geliebt. Jetzt ist sie tot. Du wolltest zu deinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten für alles, was du ihm angetan hast, womit du ihm wehgetan hast – und jetzt ist er tot. Jetzt wirst du den Katzenjammer nicht mehr los. Wie ein Gespenst […] jetzt bist du hilflos; was sollst du tun? An wen sollst du dich wenden? Wen um Verzeihung bitten? Du wolltest dich einem Freund gegenüber freundlich zeigen, aber hast dich stattdessen verschlossen. Jetzt ist der Freund nicht mehr da, und die Wunde schmerzt. Du fühlst dich schuldig, du bereust. Und so geht alles weiter […]. 

Mache irgendetwas total, und du bist es los, und du schaust nicht mehr zurück. Der authentische Mensch blickt nie zurück, denn da gibt es nichts zu sehen. Er hat keinen Katzenjammer. Er geht einfach vorwärts. Seine Augen sind nicht von der Vergangenheit getrübt, sein Blick ist klar. In einer solchen Klarheit erkennt man, was Wirklichkeit ist.

Karma bedeutet: unabgeschlossene Vergangenheit.

 

Eure Sorgen kommen alle aus unerledigten Dingen; ihr seid wie Müllplätze. Hier etwas Unvollständiges, dort etwas Unfertiges; nichts ist abgeschlossen. Habt ihr das noch nie bemerkt? Habt ihr je wirklich etwas abgeschlossen? Oder ist alles unfertig liegen geblieben? Ihr schiebt einfach die eine Sache beiseite und fangt mit der nächsten an, und bevor ihr damit zu Ende seid, macht ihr schon wieder etwas Neues. Und so ladet ihr euch immer mehr Schutt auf. Genau das heißt Karma – Karma bedeutet: unabgeschlossene Vergangenheit. Sei total, und du bist frei.

Diese Frau ging total in ihrer Arbeit auf. Darum strahlte sie ein solches Licht aus; darum war sie so schön. Sie war eine gewöhnliche Frau, aber ihre Schönheit war nicht von dieser Welt. Die Schönheit kam daher, dass sie nicht ins Extrem ging. Die Schönheit kam daher, dass sie in ihrer Mitte blieb, im Gleichgewicht war. Ausgeglichenheit führt zu Anmut. Zum ersten Mal in seinem Leben sah Saraha eine Frau, deren Schönheit nicht nur körperlich war, sondern auch spirituell. Kein Wunder, dass er sich ihr hingab. Es passierte einfach von selbst, dass er sich ihr auslieferte. Ihre völlige Versunkenheit in das, was sie gerade tat, ließ ihn zum ersten Mal begreifen: Das hier war wirkliche Meditation. Meditation war nicht, eine Zeit lang dazusitzen und ein bestimmtes Mantra herzusagen oder in den Tempel oder die Kirche oder die Moschee zu gehen, sondern voll im Leben zu bleiben, mit ganz einfachen Dingen beschäftigt, aber mit einer Hingabe, deren Tiefe sich in jeder Handbewegung offenbart.

Er begriff zum ersten Mal, was Meditation heißt. Er hatte meditiert, er hatte sich große Mühe gegeben, aber zum ersten Mal erlebte er lebendige Meditation: So war das also! Er konnte es spüren. Er hätte es anfassen können. Es war geradezu mit Händen zu greifen. Und dann erinnerte er sich, dass das Öffnen des einen Auges und das Schließen des anderen ein Symbol war – ein buddhistisches Symbol. Plötzlich erkannte er, dass die Frau das eine Auge geschlossen hatte. Sie hatte ein Auge geschlossen: symbolisch dafür, das Auge des Verstandes, der Logik zu schließen. Und sie hatte das andere Auge geöffnet – symbolisch für Liebe, Intuition, Bewusstheit. Dann fiel ihm die ganze Geste ein.

Zielend auf das unbekannte Unsichtbare, sind wir auf der Reise ins Ungewisse: um zu suchen, was nicht zu finden ist, zu erkennen, was nicht zu erkennen ist, zu erreichen, was nicht zu erreichen ist […] Saraha erinnerte sich also an die Geste. Dieses Zielen auf das Unbekannte, das Unsichtbare, das Unerkennbare, das Eine – darum ging es. Wie kann ich eins werden mit der Existenz? Das Nicht-Entzweite ist das Ziel, wo Subjekt und Objekt nicht mehr da sind, wo Ich und Du verschwinden.

Meister-Schüler-Beziehung

Saraha sagte zu ihr: »Du bist keine gewöhnliche Pfeilmacherin. Es tut mir leid, dass ich dich auch nur eine Sekunde dafür gehalten habe. Verzeih, es tut mir ungeheuer leid. Du bist eine große Meisterin – durch dich bin ich wiedergeboren worden. Bis gestern war ich kein wahrer Brahmane. Von heute an bin ich einer. Du bist meine Meisterin, und du bist meine Mutter, du hast mir ein neues Leben geschenkt. Ich bin nicht mehr der, der ich war.«

Ein Jünger und ein Meister – das ist eine Liebesbeziehung der Seele. Saraha hatte seine Seelengefährtin gefunden. Sie liebten sich immens, ihre Liebe war so groß, wie man es kaum auf Erden findet. Sie lehrte ihn Tantra. Nur eine Frau kann Tantra lehren. Sie hat schon alle die Eigenschaften, die dazu nötig sind: die liebende, zärtliche Einstellung. Sie hat schon von Natur aus das Herz, die Liebe, das Gespür für das Zarte. Unter der Anleitung dieser Pfeilmacherin wurde Saraha zum Tantrika. Jetzt meditierte er nicht mehr. Er hatte damit begonnen, eines Tages alle Veden, alle heiligen und gelehrten Schriften über Bord zu werfen. Jetzt aber ließ er auch das Meditieren hinter sich. Jetzt verbreitete sich im ganzen Land das Gerücht: »Er meditiert nicht mehr. Er singt und tanzt sogar, aber meditiert nicht mehr. Jetzt ist Singen seine Meditation. Jetzt ist Tanzen seine Meditation. Jetzt ist sein Leben ein einziges Fest.«

Saraha war kein ernster Mensch mehr. Tantra ist auch nicht ernst. Tantra ist spielerisch. Wohl ernsthaft, aber nicht ernst. Tantra ist reine Freude. Sarahas Leben war nun von Spiel erfüllt – Tantra ist Spiel. Denn Tantra ist eine sehr hoch entwickelte Form der Liebe, und Liebe ist Spiel. Sein Sein war nun von Spiel erfüllt, und durch Spiel wurde wahre Religion geboren.

Aus: Die tantrische Vision. Wie die Liebe uns verändert. 320 Seiten. Broschur. ISBN 978-3-936360-97-4

Osho

Zum Autor:

Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Aspekte von Oshos Arbeit die Vision einer Verschmelzung der zeitlosen Weisheit des Ostens mit den höchsten Potenzialen westlicher Wissenschaft und Technik. Seine revolutionären Ansätze zur Wissenschaft der inneren Transformation haben ihn berühmt gemacht.

osho.com

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