Dr. Cynthia Bourgeault – »Gott ist eine Person!«

Personifizierung gemäß der Evolutionsanschauung von Teilhard de Chardin

Was kann Teilhards Verständnis des Personalen und der Personifizierung zur heutigen Auseinandersetzung mit dem Thema Evolution beitragen? Und wie verhält es sich zu Jean Gebsers kulturphänomenologischer Sicht auf die Entwicklung des Bewusstseins? Ein Vortrag der Theologin, episkopalen Priesterin und Autorin Dr. Cynthia Bourgeault an der Jahrestagung der American Teilhard Association am 12. Juni 2021

Ich möchte heute einige Gedanken über Teilhard de Chardins tiefgründige und überzeugende Vision von Personifizierung mit Ihnen teilen. Ich tue dies vor dem breiteren Hintergrund des zeitgenössischen interspirituellen Dialogs und der entwicklungstheoretischen Bewegung des Integralen, an deren Gesprächskreisen ich mich seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten beteilige.

Es ist mir ein Anliegen, grundlegender darüber zu reflektieren, was Teilhards Verständnis der Personifizierung auch heute noch zur Auseinandersetzung mit dem Thema Evolution  beitragen kann, vor allem dort, wo sie in den stärker säkularen und »spirituellen, aber nicht religiösen« Formaten unserer Zeit geführt wird. Gibt es ein besonderes westliches und christliches Verständnis dessen, was wir heutzutage als die »höchsten Zustände bewusster Verwirklichung« bezeichnen würden? Tatsächlich glaube ich, dass dem so ist und dass Teilhards Vorstellung von Personifizierung nach wie vor den Schlüssel dazu darstellt.

Bitte haben Sie ein wenig Geduld, wenn sich meine einleitenden Betrachtungen etwas im Kreis zu drehen scheinen, doch es ist wichtig, zuerst eine Auslegeordnung zu machen und den historischen Hintergrund in groben Zügen – und mit ein paar Namen und Querverbindungen, die vielleicht nicht allen unter Ihnen bekannt sind – darzulegen.

Meiner Meinung nach geht es hier um etwas Größeres, und wenn wir es verstehen können, verspricht es nicht nur, unseren Horizont in Bezug auf das Studium Teilhards zu erweitern, sondern auch eine breitere Anerkennung seines zentralen Beitrags zur größeren westlichen spirituellen Tradition, in welcher seine Arbeit zutiefst verankert ist.

Wir feiern hier das Debüt des »Überpersönlichen«, einer ganz neuen Tiefe und diaphanischen Transparenz des menschlichen Bewusstseins, welche die eigentliche »Sphäre der Person« einleitet.

»In der enstatischen Modalität löst sich der Tropfen nicht im Ozean auf; stattdessen wird der Ozean im Tropfen vollständig gegenwärtig, holografisch präsent.«

Der Hintergrund

Wie Sie wissen, ist der vierte und letzte Teil von Teilhards Opus magnum, Der Mensch im Kosmos, überschrieben mit »Das höhere Leben«. Er stellt einen mutigen Versuch dar – und einer, der seiner Zeit weit voraus war – zu skizzieren, was die heutige Evolutionstheorie als ein »neues Plateau« oder eine »neue Stufe des Bewusstseins« bezeichnen würde und was in deren aktuellen Straßenkarten oftmals mit »dritte Rangordnung« oder »non-dual« beschrieben wird. Für Teilhard zeichnet es sich dadurch aus, dass es kollektiv und persönlich ist.

Wir feiern hier das Debüt des »Überpersönlichen«, einer ganz neuen Tiefe und diaphanischen Transparenz des menschlichen Bewusstseins, welche die eigentliche »Sphäre der Person« einleitet und die endgültige Konvergenz am Omega-Punkt kennzeichnet. Vielleicht paradoxerweise, aber im Einklang mit dem Leitgedanken Teilhards, dass »Vereinigung differenziert«, verläuft diese endgültige Konvergenz in der Art einer Verstärkung und nicht einer Auflösung. »So wird die Welt enden, so wird die Welt enden…«, weder »mit einem Knall« noch »mit einem Winseln«, sondern, für Teilhard, »mit einer höchsten Steigerung harmonischer Komplexität«1Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München: C.H. Beck, 5. Auflage, 2018, Seite 270. In Anlehnung an die berühmten Zeilen “This is the way the world will end…” aus T.S. Eliots Gedicht “The Hollow Men”..

Gegen Ende seines Lebens empfand sich Teilhard schmerzlich als ein Rufer in der Wüste. »Kann es tatsächlich sein, dass ich der Einzige bin, der dies erkannt hat?«, quält er sich in seinem letzten Essay, Das Herz der Materie und das Christische in der Evolution, den er weniger als einen Monat vor seinem Tod abschloss. Doch er beantwortet dann seine eigene Frage mit einer triumphierenden Selbstbestätigung: »Die Wahrheit braucht sich bloß einmal, in einem einzigen menschlichen Geist, zu zeigen, und es wird unmöglich sein, sie jemals daran zu hindern, dass sie sich universell verbreitet und alles in Brand setzt.«2Pierre Teilhard de Chardin: Le coeur de la matière, Paris: Éditions du Seuil, 1976, Seite 108, deutsch: Das Herz der Materie und das Chistische in der Evolution, Mannheim: Patmos Verlag, 2014.

Dieses Übergreifen der Flammen hatte bereits eingesetzt, allerdings ohne, dass Teilhard davon wusste. 1953, zwei Jahre vor dessen Tod, hatte Jean Gebser, ein in der Schweiz eingebürgerter Deutscher, sein maßgebliches Werk Ursprung und Gegenwart abgeschlossen3Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, zwei Teile, Zürich: Chronos Verlag, 2015., das Ergebnis einer mehr als zwanzigjährigen Forschung und Reflexion. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Teilhard dieses Werk nicht kannte, da er sich zu dieser Zeit bereits widerwillig in New York, dem letzten Exil seines Lebens, niedergelassen hatte und auch weil sich die beiden Männer in etwas unterschiedlichen intellektuellen Kreisen bewegten. Teilhard war Wissenschaftler und Mystiker, Gebser ein Phänomenologe und Kulturgeschichtler. Auch Gebser hatte Teilhard im ersten Durchgang verpasst, da dessen Bücher zu jener Zeit [von der römisch-katholischen Kirche] noch mit einem Publikationsverbot belegt waren. Doch in der zweiten Runde ging er auf ihn ein und würdigte in seiner überarbeiteten 1973er-Ausgabe von Ursprung und Gegenwart (wie auch in anderen Schriften) Teilhard als eine der authentischen »Mutationen«, die den Sprung auf ein gänzlich neues Plateau ankünden.

Aus Gebsers kulturphänomenologischer Sicht befindet sich das Bewusstsein selbst in Entwicklung, eine Möglichkeit, die Teilhard nie in Betracht gezogen hatte. Für Letzteren wuchs das Bewusstsein durch einfache Aggregation gemäß dem kosmischen »Gesetz von Komplexität und Bewusstsein« (complexité-conscience): je komplexer und artikulierter die zugrundeliegende Struktur, desto größer die Ausstrahlung des manifestierten Bewusstseins. Gebser interessierte sich für die entstehenden artikulierten Strukturen des Bewusstseins selbst. Seine Forschungen ergaben ein fünffaches Evolutionsschema, das äußerlich betrachtet grob mit den großen Epochen der menschlichen Zivilisation korrespondiert – und, nebenbei bemerkt, auch auf der individuellen Entwicklungsreise eines jeden Menschen rekapituliert wird. Diese Bewusstseinsstrukturen sind: die archaische, die magische, die mythische, die mentale und die integrale.4Anmerkung der Übersetzer: Jean Gebser spricht bewusst nicht von »Epochen« oder »Phasen«, und übrigens auch nicht von »Stufen« oder »Ebenen«, sondern von »Strukturen«, weil sie nicht unbedingt zeitlich oder räumlich begrenzt sind und auch weiterhin ihre Wirkkraft entfalten können, nachdem eine neue Struktur aus einer älteren »herausmutiert« ist.

Die ersten beiden Strukturen, die archaische und die magische, stimmen in etwa mit der von Teilhard definierten Epoche der wissenschaftlich-technischen Spezialisierung überein: der Zeit des jüngeren Quartärs, genauer des späten Pleistozäns und des anschließenden Holozäns, also einem Zeitalter, das vor etwa 40.000 Jahren begann und bis zu den Anfängen der aufgezeichneten Geschichte reicht.

Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) und Jean Gebser (1905–1973). Quelle: Wikimedia Commons

Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) und Jean Gebser (1905–1973). Quelle: Wikimedia Commons

Die mythische Struktur taucht im dritten Jahrtausend vor Christus auf. Die mentale, die vierte Struktur, stürmt auf die Bühne der Menschheitsgeschichte mit einer Periode, die heute allgemein als »erste Achsenzeit« (800–200 v.Chr.) bezeichnet wird. Einen starken zweiten Anstieg erfährt sie während der europäischen Renaissance, um heute jedoch, nach fünf Jahrhunderten erstaunlicher kultureller Dominanz, unter deutlichen Erscheinungen des kulturellen Zerfalls und der ökologischen Krise, sichtlich abzuflachen.

Die fünfte Struktur, die Gebser »die integrale« nennt, steht heute unmittelbar vor ihrem Auftritt und ist Teilhards Überpersönlichem auf eine unheimliche Art ähnlich. Gebser mag dessen Ausdruck »eine höchste Steigerung harmonischer Komplexität« nie gehört haben, doch singen er und Teilhard definitiv dieselbe Melodie.

Und hier finden wir nun das Verbindungsstück zur Gegenwart: Gebsers fünffaches Schema legte den Grundstein für einen großen Sprung in der modernen Evolutionstheorie und für die höchst populäre entwicklungstheoretische Bewegung des Integralen, die vom amerikanischen Philosophen Ken Wilber angestoßen wurde. Wilber übernahm im Wesentlichen die fünf Bewusstseinsstrukturen von Gebser, verwandelte sie in fünf Stufen des Bewusstseins und erweiterte die Karte um einige zusätzliche Kategorien der »dritten Rangordnung«, die im »Non-Dualen« gipfeln und die er aus buddhistischen Referenzsystemen übernommen hatte. Diese neue Karte, eine Mélange aus westlichen und östlichen metaphysischen Kategorien, hat auch in christlichen Kreisen einen weitreichenden Einfluss gewonnen, und zwar hauptsächlich aufgrund ihres bedeutenden Stellenwerts in den Lehren von Thomas Keating und Richard Rohr.

»Ein Individuum und eine Person sind nicht dasselbe.«

Die wesentliche Einheit dessen, worauf Gebser und Teilhard aus waren, ist in diesem Prozess allerdings leicht verfälscht worden – und dies insbesondere im Bereich des Personalen. In diesem neuen quasi-buddhistischen Modell wird das Personale einer unreiferen Ebene der menschlichen Entwicklung zugeordnet und setzt sich ganz eindeutig nicht in die höheren Evolutionsstufen fort. Wenn die »dritte Rangordnung« beim Integralen und darüber hinaus erreicht wird, scheidet das Personale zugunsten eines unpersönlichen oder bestenfalls transpersonalen Universums aus. Und schließlich wird, in einem gleich zweifachen Missverständnis, Teilhards hartnäckige Treue zum Personalen als »schlagenden Beweis« gegen ihn verwendet, dass er sich eigentlich auf einer niedrigeren Ebene des evolutionären Bewusstseins bewege, weit unterhalb des Übernatürlichen, auf das er so leidenschaftlich verweist.

Diesem arroganten Irrtum möchte ich entgegentreten. Teilhard arbeitet keinesfalls auf einer niedrigeren Bewusstseinsebene. Vielmehr legt er eine typisch westliche und enstatische Sicht der höchsten Zustände eines verwirklichten Bewusstseins dar, ein Verständnis, das Gebser unabhängig von ihm bestätigte und das ein radikal anderes Szenario für das letztendliche Ziel der evolutionären Reise nahelegt. Ich will hier einen Überblick darüber geben, was Teilhard mit dem »Personalen« meinte, und über die Grundlage, auf der er seine Behauptung aufstellt, dass die höheren Reiche des Bewusstseins notwendigerweise personaler, und nicht weniger personal werden müssen. Und ich möchte einige der bemerkenswert fruchtbaren Überschneidungen von Teilhards Überpersönlichem und Gebsers Integralem aufzeigen, insbesondere im Hinblick auf »Verstärkung«, »Diaphanie« und jene »höchste Steigerung harmonischer Komplexität«.

Lassen Sie uns untersuchen, inwieweit sich ihre beiden komplementären Visionen gegenseitig befördern und uns den Weg weisen zu einem erneuerten Vertrauen in die Reife und Tiefe des westlichen Verständnisses von Vereinigung.

Teilhards Verständnis des Personalen

Im Wesentlichen sind es vier Punkte, die Teilhards Sicht des Personalen ausmachen.

Erster Punkt: Ein Individuum und eine Person sind nicht dasselbe. Zusammen mit Thomas Merton, der grundsätzlich in die gleiche Richtung dachte, gehörte Teilhard zu den Ersten, die diese Unterscheidung machten. Ein Individuum lebt eigentlich für sich allein; sie oder er lebt in Abgeschiedenheit oder sogar in impliziter Konkurrenz zum Ganzen. Eine Person wirkt innerhalb eines Beziehungsfeldes, als ein bewusster Teil dieses Ganzen.

Gemäß der Gebserschen Strukturierung gehört ein Individuum zur mentalen Bewusstseinsstruktur und ist mit seinem starken zentrifugalen Egoismus eigentlich ein Aushängeschild für diese Struktur. Eine Person ist ein Repräsentant und tatsächlich sogar die funktionale Einheit der nächsten Struktur, der integralen. Diese Person bezieht das Gefühl ihrer Selbstheit von einem weiträumigeren und durchdringenderen Ort her und leitet das Gefühl ihrer persönlichen Identität vom Ganzen ab. Teilhard erklärt:

Sein [des Egoismus] einziger Irrtum, der ihn aber zu einem völligen Verfehlen des richtigen Weges verführt, besteht in der Verwechslung von Individualität und Persönlichkeit. Wenn sich das Element so weit wie möglich von den andern zu trennen sucht, so individualisiert es sich wohl, doch es sinkt und sucht die Welt mit sich in die Vielheit, in die Materie hinabzureißen. In Wirklichkeit macht es sich geringer und richtet sich zugrunde. Um völlig wir selbst zu sein, müssen wir in der entgegengesetzten Richtung voranschreiten, im Sinn einer Konvergenz mit allen übrigen, zum andern hin. Unser endgültiges Wesen, der Gipfel unserer Einzigartigkeit, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person. Doch diese können wir, da die Evolution die Struktur der Welt bestimmt, nur in der Vereinigung finden.5Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, Seiten 270–271.

Ist dies nicht eine erschütternde Vorahnung der evolutionären Schwelle, an der sich unsere Welt heute befindet? Wir hängen zwischen zwei evolutionären Zeitaltern – und versuchen zu entscheiden, welchen Weg wir einschlagen sollen. Jedenfalls stellt die Person eine höhere Evolutionsstufe auf der Reise dar. Teilhard ahnte dies instinktiv; Gebser lieferte die Details dazu.

Zweiter Punkt: Aber weshalb repräsentiert die Person eine höhere evolutionäre Stufe? Welche empirische Bestätigung stützt diese Annahme? Teilhards außergewöhnliche Haupteinsicht lautet diesbezüglich: Das Bewusstsein kann sich nur innerhalb eines relationalen Feldes manifestieren und dehnt sich tatsächlich gemeinsam mit diesem relationalen Feld aus. Während Bewusstsein an sich zum uranfänglichen »Stoff des Universums« selbst gehören mag – eine »äußerst dünne« […] »biologische Schicht«, so Teilhard6Ebenda, Seite 46. –, teilt es uranfänglich dieselbe Eigenschaft extremer Atomizität, welche ursprünglich all den anderen »Stoff« dieses »Gewimmels von Partikeln« kennzeichnet, und manifestiert sich demzufolge in einer zu geringen Dosierung, um wirklich wahrnehmbar zu sein. Erst wenn sich Materie zu größeren Einheiten – oder »Anordnungen« – anhäuft, verstärkt sich das Bewusstsein genug, um auf dem Radar aufzutauchen. Wenn Evolution einen Anstieg des Bewusstseins bedeutet, ist sie notwendigerweise auch ein Anstieg der Komplexität.

Ich liebe die diesbezügliche Erklärung der franziskanischen Theologin Ilia Delio: »Im Grunde genommen ist Bewusstsein der Informationsfluss über komplexe Beziehungsebenen hinweg. Je größer der Grad an Beziehung, desto höher die Ebenen des Informationsflusses«.7Ilia Delio [Hrsg.], Personal Transformation and a New Creation: The Spiritual Revolution of Beatrice Bruteau. Maryknoll, NY: Orbis Books, 2016, Seite 118. In anderen Worten: Je mehr Beziehung, desto mehr Komplexität und desto stärker der Bewusstseinsfluss. Für Teilhard sind Bewusstsein, Beziehung und das Personale ein untrennbarer Dreiklang. Jedes impliziert das andere, keines kann unabhängig von den anderen aufrechterhalten werden.

»Unser endgültiges Wesen, der Gipfel unserer Einzigartigkeit, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person.«

Dritter Punkt: Ist dies einmal verstanden, wird Teilhards Schlussfolgerung offensichtlich: Auf den höheren Bewusstseinsstufen muss die Welt persönlicher werden, und nicht etwa weniger – weil Bewusstsein und Relationalität fest miteinander zusammenhängen, ebenso wie Relationalität untrennbar verbunden ist mit Vertrautheit, einem Empfinden der Zugehörigkeit zum Ganzen.

Ein anderer Name für dieses Ganze ist »Gott«, oder Bewusstsein im Beziehungsmodus, dem einzigen Modus, in welchem sich Bewusstsein tatsächlich manifestieren kann. Genau das meinte Teilhard, als er im vorgerückten Alter seinen Freund, den Jesuiten Pierre LeRoy mit den Worten beeindruckte »Gott ist eine Person, Gott ist eine Person!« Er sprach nicht von einem kleinen alten Mann im Himmel, der eine kindliche oder magische Bewusstseinsebene widerspiegelt, sondern davon, dass das Universum, die sichtbare Manifestation von Gottes innerster Natur, nur persönlich sein kann, und dass sein Punkt der ultimativen Verwandlung nur »innerhalb der Sphäre der Person« stattfinden kann.

Vierter Punkt: Und genau dies ist der eigentliche Quell der Teilhardschen Hoffnung. Gott ist kein »Es«, eine unpersönliche energetische Kraft, die befürchtet oder manipuliert werden muss. Gott ist Du, eine lebendige und intelligente Liebe, die sich als verbindende Kraft in der ganzen Schöpfung zu manifestieren sucht, um alle Dinge in Liebe zu ihrer Fülle zu bringen. Gebsers Begriff dafür lautet »ursprüngliche Präsenz«. Sie liegt außerhalb der Zeit, doch tritt sie immer von dem her in die Zeit ein, was wir fälschlicherweise »die Zukunft« nennen. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um die auf einer Zeitachse liegende Zukunft, sondern um die Fülle, die im Hier und Jetzt in unsere Sphäre eintritt, weil sie sowohl aktiv als auch holografisch in uns gegenwärtig ist als unsere eigene Saat, als Alpha und Omega in eins zusammengerollt. Sie springt als eine vereinende und neu belebende Präsenz in die Gegenwart auf, und sie ist ausschließlich in der Sphäre der Person anzutreffen.

Die großartige Erkenntnis Teilhards lautet, dass das Unpersonale »wesentlich unliebenswert« ist.8Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, Seite 275. Erst wenn uns der evolutionäre Impuls in einem Gesicht, in einem Herzen begegnet, berührt er auch diese Tiefe in uns und führt uns entlang eines evolutionären Weges, der nur von der Liebe navigiert werden kann. Die Liebe ist die richtungsweisende Energie der Evolution und führt zum Bewusstsein, dessen Höhepunkt nichts anderes ist als die vollständige Entpuppung der Liebe. Der wesentliche Modus der Liebe ist persönlich, und wenn wir versuchen, das Persönliche einzustellen, kommen die Räder der Evolution knirschend zum Stillstand. Diesem Modus haftet nichts Kindisches oder Unreifes an; es ist ihm ein Leichtes, die Übertragung auf die integrale Ebene des Bewusstseins zu überstehen.

Teilhard sprach darüber nicht im Sinne einer intellektuellen Theorie, sondern aus der direkten Erfahrung, davon betroffen worden zu sein. Im letzten Teil von Der Mensch im Kosmos räumt er ein, dass er sich niemals eine so fantastische Hypothese über eine endgültige Bewusstseinskonvergenz am Omega-Punkt hätte ausdenken können, wenn er diese Konvergenz nicht bereits lebendig und in der Welt wirkend gespürt hätte. In seinem letzten Essay, Das Herz der Materie und das Christische in der Evolution, wiederholt er diesen Punkt sogar noch kraftvoller mit seiner wunderbaren »Doppelhelix«-Vision Christi: sowohl als strahlende Präsenz, die er in seinem eigenen Herzen viszeral erfuhr, wie auch als fernen Punkt am Horizont, der die Evolution zu ihrer Vollendung in Liebe leitet.

Der Grundstein der Teilhardschen Hoffnung und der Teilhardschen Evolutionstheorie liegt genau in dieser direkten, herzverankerten Begegnung mit dem allgegenwärtigen Göttlichen Du, das »von innen heraus bohrt und vom Jenseits her« zu einer endgültigen Vollendung »zieht«, deren ultimatives Ergebnis nie in Frage gestellt wurde, weil es bereits in unseren Herzen geschrieben steht.

Die Theotókos: heilige Jungfrau mit dem Kind. Mosaik aus der Apsis der Hagia Sophia in Istanbul, fertiggestellt 867. Quelle: Wikimedia Commons

Die Theotókos: heilige Jungfrau mit dem Kind. Mosaik aus der Apsis der Hagia Sophia in Istanbul, fertiggestellt 867. Quelle: Wikimedia Commons

Verstärkung, Diaphanie und eine höchste Steigerung harmonischer Komplexität

Diesen Vortrag beschließen möchte ich mit einem Wort, das für einige von Ihnen neu im Vokabular sein dürfte. Dieses Wort lautet »Enstase«, das dazugehörige Adjektiv »enstatisch«. Es bedeutet das Gegenteil von »Ekstase«, die ihren Ursprung in ex-stasis hat und meint, dass wir »außer uns geraten«.

Eine ekstatische Erfahrung zieht uns aus uns heraus, in der Regel hin zu Glückseligkeit oder mystischer Vereinigung. Enstase hingegen führt zu einem festeren Stehen in sich selbst, eingerollt und gegenwärtig, mit einer wachsenden Geräumigkeit, einer tiefer verkörperten Fähigkeit, das Ganze zu tragen. Enstase ist die Energie, die uns im alttestamentlichen Bild des brennenden Dornbusches begegnet, der nicht verzehrt wird – er birgt seine eigene Flamme, sodass Busch und Flamme sich gegenseitig aufbauschen und Zeugnis voneinander ablegen. Wir erkennen sie auch in der bedeutungsvollen Ikone der Theotókos, der Gottesgebärerin – in welcher Gott im endlichen Schoß Marias leuchtend und vollkommen enthalten ist –, in der Transfiguration sowie in der Menschwerdung selbst. Denn was ist das mystische Herz der Inkarnation anderes als die Erkenntnis, dass die Fülle der Göttlichkeit in der Endlichkeit des menschlichen Fleisches ihren Wohnsitz genommen hat?

»Ein anderer Name für dieses Ganze ist »Gott«, oder Bewusstsein im Beziehungsmodus, dem einzigen Modus, in welchem sich Bewusstsein tatsächlich manifestieren kann.«

In der enstatischen Modalität löst sich der Tropfen nicht im Ozean auf; stattdessen wird der Ozean im Tropfen vollständig gegenwärtig, holografisch präsent. Die unermessliche Weite lässt sich in einem begrenzten Gefäß nieder und findet sich dort auf mysteriöse Weise vergrößert.

Teilhards evolutionäre Vision ist zutiefst enstatisch. Sein ganzes Leben lang kämpfte er gegen die Ekstase an oder gegen den Sirenenruf, wie er ihn verstand, der asiatischen Traditionen, sich im Einen aufzulösen oder die Vereinigung am Punkt der undifferenzierten Einfachheit zu finden. Sein Omega-Punkt ist kein Sich-Auflösen in einem uranfänglichen »Grundleuchten«, sondern, so wie seine »höchste Steigerung harmonischer Komplexität«, ein auf seinen höchsten Intensitätspunkt komprimierter Ausdruck.

In dieser Überzeugung stimmt Jean Gebser vollkommen mit ihm überein. Für Gebser bedeutet »integral« ausdrücklich »keine Bewusstseinserweiterung, sondern […] eine Bewusstseinsintensivierung«.9Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Seite 168. Es bringt eine wachsende Tiefe und Dimensionalität mit sich, die – wie in Ilia Delios Metapher – »einen Informationsfluss über [zunehmend] komplexe Beziehungsebenen hinweg« ermöglicht. Gebsers Wortschatz umfasst viele der Wörter, die auch Teilhard benutzte: Diaphanie, Transparenz, Dimensionalität, Differenzierung, Konzentration. Wenn sie miteinander gelesen werden, verstärken sie sich gegenseitig, erweitern den Bedeutungsumfang des jeweils anderen und weisen gemeinsam auf ein charakteristisch westliches und enstatisches Verständnis höherer Bewusstseinszustände hin, welches dann seinerseits den Interpretationsschlüssel für ihre beiden Werke liefert. Gleichzeitig versöhnt uns dieser an sich enstatische Unterbau, wenn er erst einmal als solcher erkannt ist, mit unserer eigenen Religions- und Andachtstradition und gibt uns die Kraft, uns der Welt mit neuer Verpflichtung und neuer Hoffnung zuwenden.

Ich glaube, es ist nun an der Zeit, dass integrale Entwicklungstheoretiker, Phänomenologen und Anhängerinnen und Anhänger Teilhards ihre Kräfte bündeln und mit diesem enstatischen Modell bewusst zu arbeiten beginnen. Ich denke, es birgt nicht bloß für die Teilhard-Gesellschaften die Saat zur Erneuerung und Neuausrichtung, sondern auch für den größeren Rahmen der westlichen spirituellen Tradition, nun, da ihr ihr eigenes intuitives Genie allmählich zu dämmern beginnt.

»Für Teilhard sind Bewusstsein, Beziehung und das Personale ein untrennbarer Dreiklang.«

© Cynthia Bourgeault 2021
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der American Teilhard Association, für die Erlaubnis, die Übersetzung verwenden zu dürfen, danken wir dem Chalice Verlag.

Der Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht:

https://chalice-verlag.de/teilhard-de-chardin-jean-gebser-cynthia-bourgeault-gott-person/

Die interessante Fragerunde im Anschluss an den Vortrag musste hier aus Platzgründen entfallen und kann auf der Webseite des Chalice Verlages nachgelesen werden.

Zur Autorin

Dr. Cynthia Bourgeault

Dr. Cynthia Bourgeault ist eine moderne Mystikerin, bischöfliche Priesterin, Schriftstellerin und international bekannte Exerzitienleiterin. Sie teilt ihre Zeit zwischen der Einsamkeit und dem Segeln auf den Gewässern rund um ihre Einsiedelei am Meer in Maine und einem anspruchsvollen Zeitplan, in dem sie um die Welt reist, um zu lehren und die Genesung der christlichen kontemplativen und Weisheitswege zu verbreiten. 

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Bildnachweis: © Adobe Stockphoto, Ronald Engert

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