Matthias Weiss – Geistiges Heilen mit den Händen

Vom ursprünglichen Zustand

Der Theologe und Heiler berichtet über seine Praxis des Handauflegens, das Heilen als Rückkehr zum ursprünglichen Zustand, der sowieso in jedem vorhanden ist, und über den Unterschied von Heilsein und Gesundsein. Heilen ist für ihn etwas Rezeptives, ein Leerwerden und Geschehenlassen.

Tattva Viveka: Hallo Matthias, schön, dass du hier bist. Stell dich bitte vor, erzähl, was du machst, wer du bist und wie du zu deinem Beruf gekommen bist. Führ gerne aus. Eine große erste Frage, ohne Fragezeichen.

Matthias Weiss: Ich heiße Matthias Weiss, bin Jahrgang 1973 und habe das geistige Heilen vor zwanzig Jahren kennengelernt. Davor habe ich evangelische Theologie studiert und abgeschlossen. Darin war ich aber nicht glücklich, weil ich wusste oder mich die Idee umtrieb, dass ich etwas mit meinen Händen tun soll. Allerdings war mir noch nicht klar, was. 

Ich arbeitete daraufhin in einer Pfarrstelle mit Gehörlosen und Hörbehinderten. Dadurch kam ich zur Gebärdensprache – was etwas mit Händen zu tun hat. Dort hat es mir auch Spaß gemacht, aber ich merkte bald, dass ich in der Kirche nicht glücklich werden würde. Zwar hätte ich dort einen Posten bis zur Rente haben können, aber ich wurde krank und merkte, dass ich auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Zu Beginn des Studiums war mir klar, dass ich Pfarrer werden möchte und würde, doch an dessen Ende wusste ich, dass dies nicht das Richtige war und ist. Was soll man nun tun, wenn man einen solch einseitigen Lehrgang abgeschlossen hat? Viel bleibt einem nicht übrig. An einer Universität zu arbeiten wäre zwar noch möglich gewesen, aber dafür fühle ich mich schlicht zu wenig intelligent.

Danach begann ich in einem Restaurant zu arbeiten und verkaufte später auch Sportartikel. Dabei ist mir schließlich der Groschen gefallen: Ich arbeitete lange, verdiente wenig und es bereitete mir keinen Spaß. Würde ich mich jedoch selbständig machen, so arbeitete ich zu Beginn auch viel und verdiente vermutlich wenig, aber es machte mir wenigstens Spaß!

Matthias Weiss

Jene Zeit hatte ich schlicht benötigt, um allen Mut zusammenzunehmen und mein eigenes Geschäft zu eröffnen, damals noch als freischaffender Theologe. So hielt ich Hochzeiten ab und hier und da eine Abdankung, also eine Trauerrede. Währenddessen baute ich das Handauflegen, das Heilen auf. Das praktiziere ich nun seit mehr als 18 Jahren, seit 2005, um genau zu sein.

Das Heilen bereitet mir seit Beginn sehr viel Freude zu. So kann es geschehen, dass Klient:innen zu mir kommen und wir zusammen eine Riesenparty während der Behandlung haben. Dies ist der Grund, warum ich das weiterhin gerne und mit Verve verfolge. Es gibt nämlich auch mir so viel!

TV: Wunderbar. Hattest du einen Lehrer oder hast du es dir selbst beigebracht? Wo hast du dein Handwerk gelernt?

Matthias: Am Ende natürlich beides, aber ich hatte eine Lehrerin, Renée Bonanomi mit Namen. Sie war eine einfache Frau aus dem Kanton Bern. Leider ist sie 2022 verstorben. Auf sie bin ich gestoßen, als ich noch Pfarrer war und als solcher eine Weiterbildung hätte absolvieren sollen. Schon damals war mir klar, dass ich diese im Heilen machen wollte. Also ging ich zu meiner damaligen Chefin und erzählte ihr von diesem Lehrgang. Auch fragte ich an, ob mich die Kirche diesbezüglich unterstützen würde. Die Antwort war natürlich ablehnend. Ich aber meinte, dass ich jene Weiterbildung ohnehin machen und darum auch selbst bezahlen würde. Gesagt, getan. Übrigens war jene Ausbildung die beste, die ich je machen konnte, wobei sie jetzt natürlich nicht im Sinne von »Punkt 1, Punkt 2, Punkt 3, Punkt 4 etc.« ablief.

TV: Und die Abschlussprüfung war ein Multiple-Choice-Test, nicht wahr? 🙂

Matthias: Ja, genau. Nein, selbstverständlich nicht. Mittlerweile darf ich Heilen auch unterrichten und sage stets dazu: Bei anderen Aus- und Weiterbildungen hämmert man sich Dinge in den Kopf hinein, um jene womöglich bei einem Multiple-Choice-Test wiederzukäuen. Doch darum geht es – jedenfalls beim Heilen – nicht. Ich unterrichte nämlich das komplette Gegenteil. Dies tue ich vornehmlich, indem ich leere – also mit zwei »ee«. Ich lehre, indem ich leere. Leeren tue ich, weil bei den Lernenden bereits alles vorhanden ist. Hie und da gilt es noch, jenes zu bergen, das ist alles. Im Prinzip jedoch ist längst alles da. Um auf meine eigene Weiterbildung zurückzukommen: Dort durfte ich endgültig lernen, auf mich und meine Intuition zu vertrauen. Einfach gewahr und gewiss zu sein, dass alles, was ich wahrnehme, stimmig ist und dass es nichts zu hinterfragen gibt. Der Kopf möchte stets mehr erfahren, er kann aber schlicht nicht alles fassen.

»Ich lehre, indem ich leere. Leeren tue ich, weil bei den Lernenden bereits alles vorhanden ist.«

Vielleicht sind dir diese Etagenbrunnen bekannt: Oben befindet sich eine kleine Schale, daraus läuft das Wasser über in die mittlere, größere Schale und von dort in die unterste, noch größere Schale. Hierbei kann die oberste Schale unmöglich das Volumen der untersten Schale haben! Das ist mein Vergleich dazu.

Wenn nun die obere Schale dasselbe Volumen Wasser wie die untere Schale aufnehmen möchte, läuft das überflüssige Wasser aus der Schale raus, denn es hat dazu schlicht keinen Platz. Beim Heilen, wie ich es verstehe, anwende und weitergebe, geht es genau darum, solch einen Raum zu schaffen. Das funktioniert allerdings nicht mit Druck, sondern nur mit dessen Gegenteil. Es passiert, indem man es zu- und geschehen lässt. Heilen empfinde ich darum als äußerst rezeptiv. Ich sage jetzt einmal: »Heilen ist etwas sehr, sehr Weibliches.« Es geschieht, indem man (es) fließen lässt.

»Heilen empfinde ich darum als äußerst rezeptiv. Ich sage jetzt einmal: ›Heilen ist etwas sehr, sehr Weibliches‹.«

Um beim Bild des Brunnens zu bleiben: Die oberste Schale kann zwar krampfhaft versuchen, die untere Schale um ihr größeres Fassungsvermögen zu beneiden und dieses Bild von sich – dass sie gerne mehr Volumen aufnehmen können möchte – und diese Erwartung auch zu behalten, aber es geht schlichtweg nicht, weil sie anders gestaltet ist. Wenn das Fassungsvermögen kleiner ist, als die Menge, die hinein möchte, wird es nicht funktionieren. Dann geht es darum, fließen zu lassen. Eventuell ist das eine gute Überleitung zum Thema Trauma.

Matthias Weiss
International Youth day,12 August, Hand Drawn Sketch Vector illustration.

Zwar benutze ich dieses Wort praktisch nie, aber natürlich begegne ich vielen Traumata. Ich benenne es anders, denn ich bin der Meinung, dass es in der Regel nichts nützt, wenn man weiß, über welches Trauma man verfügt. Vielleicht nützt dies zwar dem einen oder der anderen, die Frage aber, wie ich wieder hinausfinde, was mir hilft, Perspektiven zu gewinnen und Lösungsansätze zu finden, ist damit noch lange nicht beantwortet. Diese halte ich jedoch für viel zentraler.

TV: Ich würde gerne deine Definition von geistigem Heilen erfahren, denn es gibt viele Arten und Möglichkeiten, zu heilen. Wie heilst du? Was ist deine Definition davon und was macht geistiges Heilen aus?

Matthias: Geistiges Heilen oder Heilen an sich ist für mich unser Urzustand. Wenn wir auf die Welt kommen, befinden wir uns (bereits) darin. Dort sind wir heil, da sind wir ganz. 

»Geistiges Heilen oder Heilen an sich ist für mich unser Urzustand. Wenn wir auf die Welt kommen, befinden wir uns (bereits) darin. Dort sind wir heil, da sind wir ganz.«

Das sind wir während einer lange, Zeit, und Tiere sind das ihr Leben lang. Wir verfügen aber über Bildungssysteme und/oder Eltern, die uns erziehen wollen oder meinen, solches tun zu müssen, und es auch tun. Und wir lassen uns erziehen! An dieser Stelle etwas einrücken und dort etwas verziehen. Auf diese Weise trauen wir unserer Natur immer weniger und nehmen sie in der Folge leider auch immer weniger wahr. Heilen ist im Prinzip »nur«, sich wieder in diesen Zustand zurückzubegeben.

Das merkt man übrigens, wenn man sich – neudeutsch ausgedrückt – at ease fühlt, wenn man also bei sich ist, wenn man in Frieden ist oder eben zuFrieden … Das ist Heilen, nichts weniger, aber auch nicht mehr. Einfach bei sich sein.

Denn, wenn man bei sich ist, weiß man, was der nächste Schritt ist. Ist man jedoch außer sich, so weiß man dies in den seltensten Fällen. Zunächst muss man wieder zu sich kommen und dann weiß man auch, wo es als Nächstes lang geht. Die Worte »Religion« und »Yoga« meinen und bezeichnen übrigens genau dies. Einfach zu sich kommen.

Zwar kann es vorkommen, dass ich, wenn ich wieder bei mir bin, den nächsten Schritt noch nicht unmittelbar wahrnehme. Ist dem so, lasse ich es in der Regel einfach sein, lasse fließen, und plötzlich offenbart er sich! Solches kann ich aber nur »tun«, wenn ich leer bin.

Electric bulb filled with water energy concept vector concept ecology, Hand Drawn Sketch Vector illustration.

Gerne komme ich zum Etagenbrunnen zurück. Ist jener leer, so kann er aufnehmen und Wasser fassen. Ist er hingegen voll, so kann er bloß überlaufen. Das kennst du, das kenne ich. Wenn wir im Stress sind, können wir nichts aufnehmen, da geht einfach nichts rein! Denn dann habe ich das und das vor, befinde mich – statt in der Gegenwart – in der Zukunft und spule mein Programm ab. Bin ich hingegen gegenwärtig, können Dinge zu mir kommen. Dies geschieht desto eher und stärker, je leerer ich bin, je gegenwärtiger und bewusster. Das geschieht in jenem Moment »einfach«, ohne Druck. Heilen ist glücklicherweise nicht verstellbar.

Heilen passiert, indem ich loslasse, „es“ geschehen lasse und mich öffne. Aber auch das geht nicht „aktiv“, sondern nur rezeptiv. Dann öffnen sich Räume (in mir), wo solches geschehen kann. Hierzu gibt es aber keine Garantie.

Gerne komme ich nochmals auf Religion und Yoga zu sprechen. Beides meint meines Erachtens dasselbe. Religere heißt wörtlich sich rückverbinden, sich wieder (zu) verbinden. In meinen Worten würde ich sagen, sich (wieder) »an den Ursprung anbinden«. Yoga bezeichnet das Gleiche. Zwar kann ich kein Sanskrit, ich habe mir jedoch einmal sagen lassen, dass dem so sei. Unabhängig davon, ob dies nun etymologisch zutrifft oder nicht, für mich ist das der Sinn des Ganzen. Wenn ich mich mit meinem Naturzustand rückverbinde, bin ich bei mir. Theoretisch könnte mir dann alles passieren, an jenem Ort aber geschieht mir nichts.

Ein weiteres Beispiel: Ich weiß nicht, ob du Katzen oder Hunde hast. Wenn man jene streichelt, vielleicht zu stark, dann schütteln sie sich früher oder später. Das nehme ich als Zeichen, dass sie (zu) viel Energie von der sie streichelnden Person aufgenommen haben. Dann schütteln sie sich kurz und ziehen ihres Weges, sie sind also wieder d’accord, wieder bei sich und wissen um den nächsten Schritt. Sollten sie jenen einmal nicht kennen, legen sie sich hin und warten, bis sie es wieder wissen, stehen auf und gehen ihres Weges.

TV: Das bringt mich zu meiner nächsten Frage: Wie schützt du dich vor Einfluss und Energien? Wenn du Menschen heilst, bist du ebenfalls in Berührung, und das ist ein intensiver Energieaustausch. So wie Hunde sich schütteln, musst du dich sicherlich auch schützen, so wie sich ein Arzt mit einer Mundmaske vor Keimen schützt? Was sind deine Methoden?

Matthias: Ich habe natürlich Methoden, doch mit einem solchen »sich schützen-Müssen« habe ich so meine Mühe. Meines Erachtens geht es nicht darum, sich zu schützen, denn wir sind immer heil und ganz. Aber ich weiß natürlich, was du meinst und gebe dir darauf auch eine Antwort: Was ich in jenen Momenten tue, ist, dass ich auf mich und meinen Körper höre und danach handle. Das kann heißen, dass ich mich in jenem Moment flach auf den Boden lege – Asana des Todes heißt es ,glaube ich, im Yoga. Früher ging ich häufig schwimmen, manchmal benetze ich mein Gesicht mit Wasser oder ich trinke generell viel Wasser. All das hilft mir. Das Ganze handhabe ich jedoch situativ. Ich höre einfach auf mich und handle dementsprechend. Möglicherweise esse ich etwas oder, wenn ich zu viel Energie habe, unternehme ich eine Bergwanderung. Da ich es situativ angehe, kann ich dir leider kein allgemeingültiges Rezept geben.

Ich hörte, dass du, Hanna, ebenfalls Erfahrungen im Heilen gemacht hast. Also stelle ich dir dieselbe Frage: Was tust du in jenen Momenten?

TV: Ich mache das ähnlich. Ich merke, wenn ich Menschen berühre – vor allem Menschen, die ich gerne habe – und ihnen zum Beispiel eine wohlwollende Rückenmassage gebe oder ähnliches, dass es etwas bei ihnen auslöst: Urzustand und Heilen. Dadurch, dass es meine Liebsten und Freunde sind, benötige ich so gut wie keinen Schutzmechanismus. Diese Energien habe ich ohnehin um mich, möchte sie um mich haben und lasse mich auch gerne von diesen beeinflussen.

Was mir hilft, und ich gerne mache, ist ebenfalls das, was du zuvor sagtest: baden, duschen, Wasser. Die mentalen Komponenten davon sind: Ich grenze mich jetzt ab, ich finde zu mir zurück, ich flicke meine Finger und habe damit die Energie wieder durchsortiert und kann infolgedessen einschätzen, was meines ist und ich will und was nicht und was nicht zu mir gehört.

Matthias: Danke fürs Teilen. Manchmal gelingt dies nicht sofort und dann ist das eben so. Dagegen anzukämpfen, wäre das Dümmste, das man in jenem Augenblick tun kann. Aber auch mir passiert es nach wie vor ab und an, bis ich merke, was ich tue, und es dann sein lasse.

Zum Bei-sich-Sein möchte ich noch anfügen: Auf meiner Homepage steht ein Satz, welcher stark nach Werbung klingt, es aber nicht ist, weil ich jenen tatsächlich so empfinde. Er lautet: Zu sich kommen – entspannen – genesen. Wenn ich bei mir bin, kann ich mich entspannen, und so besteht die Möglichkeit, dass ich auch genese. Eine Garantie dazu gibt es zwar nicht, aber bei jeder Behandlung, und mag sie noch so unterschiedlich sein, geht es darum, einen solchen Raum zu schaffen. Einen Raum wie für eine Katze, die sich an einen warmen Ofen anschmiegt. Sie braucht ebenfalls Entspannung und holt sie sich, wo sie jene eben erhält.

TV: Würdest du sagen, dass Heilung passiv ist oder aktiv oder beides?

Matthias: Ich würde sagen beides. Vielleicht wieder anhand eines Beispiels: Die Klientin, die mich gestern aufgesucht hatte, tat etwas Aktives, indem sie sich bei mir gemeldet hatte. Insofern ist Heilen aktiv. Als sie dann bei mir war, bestand die Heilung aus etwas Rezeptivem – in diesem Kontext mag ich das Wort »passiv« weniger. Sie hat sich einfach leer gemacht und aufgenommen, damit das Neue hereinkommen konnte.

Insofern nehme ich Heilung als beides wahr. Hätte die Klientin sich nicht gemeldet und den Weg zu mir auf sich genommen, wäre diese Heilung nicht zustande gekommen. Dito, wenn sie sich während der Behandlung nicht hätte öffnen können. Vielleicht am Beispiel eines Musikinstruments erklärt: Hast du einmal ein Instrument gespielt?

TV: Ich habe lange Violine gespielt.

Matthias: Wie erklingt Musik?

TV: Einerseits durch meine Aktion mit meinen Finger- und Handbewegungen.  Andererseits ist es aber auch die Aktion der Violine, welche diesen Ton über ihr Holz und Schwingung in sich gebären kann.

Matthias: Schön erklärt. Das wäre für mich ebenfalls die Antwort. Meines Erachtens ist es ein Zusammenspiel. Läge diese Violine beispielsweise auf dem Balkon und dabei pfiffe der Wind hindurch, könnte das zwar auch Musik erzeugen, wahrscheinlich aber kein Stück von Bach. Dazu braucht es schon dich, mit all deiner Erfahrung sowie deinen Fertigkeiten. 

»Auch als Theologe empfinde ich es als wertvoll, dass wir aufeinander angewiesen sind.«

Auch als Theologe empfinde ich es als wertvoll, dass wir aufeinander angewiesen sind. Manchmal bereitet uns dies selbstverständlich Probleme zu. Sodann fühlt sich das Aufeinander-Angewiesen- und Bezogen-Sein weniger angenehm an. Wenn man aber merkt, dass man jemand anderem etwas zu bieten hat und dieses Gegenüber einem ebenfalls – und man sich obendrein noch gegenseitig respektieren kann –, finde ich das wunderschön. Für mich bedeutet das schlicht der Himmel auf Erden, wo und wenn wir uns so und damit gegenseitig bereichern können.

TV: Wenn das Geben und Nehmen in Harmonie fließen kann.

Matthias: Genau.

TV: Möchtest du deine Einsichten zur Psychosomatik von Wunden – ich sage nun bewusst Wunden und nicht Traumata – teilen? Was ich meine, ist Folgendes: Mit einer Krankheit geht beinahe immer eine psychosomatische Geschichte einher. Hast du hierzu Einsichten gewonnen, die du teilen möchtest?

Matthias: Zunächst würde ich unterschreiben, dass dem beinahe immer so ist. Aber natürlich kann man auch hier das Haar in der Suppe suchen gehen. Meine Erfahrung sagt mir jedoch, dass Krankheit häufig psychosomatisch ist.

Wir empfangen Signale, die uns unser Körper oder unsere Seele oder auch unser Geist oder alle zusammen senden, und diese können wir wahrnehmen und empfangen oder eben nicht. Entweder hören wir darauf oder wir missachten sie. Je länger wir diese Signale ignorieren, desto stärker müssen sie sich bemerkbar machen, damit wir auf sie hören und danach handeln. Die letzte Möglichkeit bei diesem ganzen »Spiel« ist, dass sich diese Signale in der Materie manifestieren, also dass sich etwas in unserem Körper zeigt. In den meisten Fällen, würde ich sagen, spielt es sich so ab. Das ist jetzt keine Wertung! Selbstverständlich hätte ich es auch lieber, dass es sich anders verhielte, auch bei mir selber. Aber dem ist nicht immer so, und auch ich bin nicht ständig davor gefeit. Dann verhält es sich so, wie es sich eben gerade verhält: Im Körperlichen manifestiert sich etwas, bis wir es begreifen. Für diesen Prozess dürfen wir uns auch all die Zeit nehmen, die wir brauchen. Und wenn wir es schließlich erkannt und danach gehandelt haben, löst es sich auf.

TV: Du meinst, dass es hin und wieder ausreicht, eine Wunde oder einen »Fehler« zu erkennen, damit sie sich auflöst?

Matthias: Ich weiß genau, was du meinst, denn ich hänge am Wort »Fehler«. Für mich gibt es keine Fehler. Aber ich weiß selbstverständlich, was du intendierst. Ich bin auch so aufgewachsen: »Mach ja keine Fehler!« Wenn man diese Haltung an sich ändern kann und erkennt, dass alles Erfahrung ist und es schafft, diese nicht zu bewerten – was mir auch nicht immer gelingt –, dann geschieht Heilung.

Manchmal rege ich mich beispielsweise furchtbar über Menschen oder Situationen auf. Oder ich habe eine Fußverletzung und muss erkennen, dass ich jetzt langsam sein sollte. Dieses Erkennen, dass ich nun langsam sein muss, weil es einfach nicht schneller geht, reicht in den wenigsten Fällen aus. Doch es hilft, zu erkennen und nicht dagegen anzukämpfen, dass ich gerade nicht rascher kann und dennoch gleich wertvoll bin wie davor. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich etwas ändern kann. Daraufhin kann eine Wunde oder ein Trauma weggehen; mit der Betonung auf »kann«. Denn beim Heilen gibt es einfach keine Garantie und auch keine allgemeinen Regeln, weil jeder und jede seinen oder ihren eigenen Heilungs- und Erkenntnisweg hat, und jeder braucht so lange, wie er braucht, und präsentiert sich so, wie er sich im Augenblick gerade zeigt. Erkenntnis kann zwar einiges bewirken, die Umsetzung stellt aber ein anderes Paar Schuhe dar.

TV: Bewusstsein und Akzeptanz des eigenen Zustandes können bereits helfen und sind ein wichtiger Teil der Heilung?

Matthias: Ja, ich empfinde dies als die halbe Miete, wenn nicht sogar mehr. Gerne präsentiere ich dir ein weiteres Beispiel:

Einmal kam ein älterer Mann zu mir, der unheilbar Krebs erkrankt war. Dies war der schulmedizinische Befund. Ich aber merkte, dass er das Steuer noch herumreißen könnte, wenn er verschiedenes ändern würde. Zweimal habe ich versucht, mit ihm in diese Richtung zu gehen. Als ich jedoch merkte, dass er das nicht möchte und gar nicht braucht, ließ ich es sein.

In Bezug auf das Medizinische und das Körperliche war jener Mann zwar enorm krank, gleichzeitig aber gänzlich heil, denn er war völlig d’accord mit seinem Zustand und damit, dass es bald zu Ende gehen würde. Mühe hatten seine Frau und möglicherweise auch seine Kinder, letzteres weiß ich nicht.

Spannend war der Satz, den ich sagte, als er zur Praxis hereinkam: Es fragte nämlich spontan aus mir heraus, weshalb er zu mir komme. Selbstverständlich war mir bewusst, weshalb er mich aufsuchte, aber dies war die richtige Frage, denn er brauchte mich insofern nicht, weil er komplett heil war. Zwar war er äußerst krank, gleichzeitig aber auch völlig heil.

Matthias Weiss
Hand holds drop save water save life, Hand Drawn Sketch Vector illustration.

Was ich damit sagen möchte: Heilsein und Gesundsein ist nicht das Gleiche. Zwar möchten wir diese beiden Begriffe stets synonym verwenden und tun dies auch, sie sind es aber nicht. Du kannst nämlich todkrank sein und gleichzeitig völlig heil, wie es jener Mann war. Übrigens ist er kurz nach dem Besuch bei mir gestorben, das war einfach sein Weg.

Du kannst auch enorm unheil und gleichzeitig gesund sein, oder beides positiv oder beides negativ. Jenen Mann ließ ich ziehen, weil ich spürte, dass er mit seiner Situation im Einklang war. Er war mit seinem Weg in Frieden. Er war bei sich, und das ist mehr als genug.

TV: Hast du das Gefühl, dass du in einem besonderen Zustand bist, wenn du Menschen heilst? Kannst du dich selbst heilen?

Matthias: Zum ersten Teil der Frage: Ja und nein. Auf eine gewisse Weise befinde ich mich während des Heilens in einem leicht besonderen Zustand, denn ich bin dann einfach leer. Beim Heilen gelingt es mir am besten, in diesem rezeptiven Zustand zu verweilen. Insofern ist jener besonders, doch gleichzeitig völlig unspektakulär, da dieser komplett normal und eben unser Urzustand ist.

Und ja, ich heile mich selbst, denn jede Person tut das und heilt nur sich selbst. Wenn ich eine Heilerperson aufsuchte, um mich behandeln zu lassen, so würde diese auch »bloß« meine eigenen Heilungsenergien wieder anfachen. Aber ich gehe davon aus, dass du meinst, wenn ich an etwas leide.

TV: Ich schätze, dass du ein besonderes Bewusstsein dafür hast.

Matthias: Bei mir selbst nicht immer. Das darf so sein, weil auch ich auf andere Menschen angewiesen bin. Manchmal komme ich alleine nicht weiter und brauche Hilfe von außen, und das ist gut so. Heilen können wir uns alle nur selbst. Doch manchmal benötigen wir Gefährt:innen, welche uns den Weg zeigen oder uns ein Stück weit begleiten.

Um auf den Mann mit dem letalen Krebs zurückzukommen: Er hatte sich selbst geheilt! Zwar ist er kurz darauf verstorben, und von außen könnte man sagen, dass ich schlecht gearbeitet hätte oder dergleichen. Doch darum geht es nicht, denn sein Weg war es, zu sterben, er war damit völlig in Frieden. Wir heilen uns stets selbst.

TV: Heilt es dich, andere zu heilen?

Matthias: Ja, auf jeden Fall, deswegen mache ich das Ganze.

TV: Möchtest du mir noch etwas sagen, was dir persönlich wichtig erscheint? 

Matthias: Wir sind nicht dazugekommen, über Traumata zu sprechen. Wie erwähnt, benutze ich diesen Begriff so gut wie nie. Wenn mir aber solche begegnen, bezeichne ich sie viel eher als AufGabe und gehe sie auf diese Weise an, anstatt sie als ein Problem zu betrachten. »Problem« bedeutet auf Deutsch »vorgeworfen«.

So habe ich in jenem Moment ein Problem, das mir vor die Füße geworfen wurde, und muss nun irgendetwas mit diesem Stolperstein anfangen. Wenn ich dieses Trauma, diese Verletzung oder dieses Problem als AufGabe erkennen und annehmen kann –als etwas, das mir aufgegeben wurde –, findet mein Ego es zwar unangenehm, doch ich kann damit arbeiten. Solange ich es bloß unangenehm finde und dagegen anrenne, kann sich nichts ändern, denn der Brocken bleibt.

TV: Es gibt ein tolles Zitat von Captain Jack Sparrow aus dem Film Fluch der Karibik: »Das Problem ist nicht das Problem. Das Problem ist deine Einstellung zum Problem.«

Matthias: Sehr schön. Zwar habe ich den Film nicht gesehen, aber das gefällt mir. Wenn jemand vor einem Problem steht und du ihm oder ihr sagst: »He, das Problem ist nicht das Problem, das Problem liegt in deiner Einstellung«, wird sich wahrscheinlich nichts ereignen, außer dass er oder sie zornig wird. Obiges zu sich selber zu sagen, führt ebenfalls nicht weiter. Eine solche Analyse ist natürlich messerscharf, doch welche Schlüsse ziehst du im Anschluss daraus? Das ist für mich die alles entscheidende Frage.

Matthias Weiss

Doch ich gebe dir recht: Manchmal ist es einfach wichtig und schlicht notwendig, die Einstellung zu ändern. Dies kann bereits viel bedeuten, denn mir wurde diese AufGabe vor die Füße geknallt. Was also ist mir im Augenblick aufgegeben? Ich arbeite viel mit Worten und halte die deutsche Sprache in der Hinsicht für einmalig. Deshalb ein weiteres Mal: Was ist mir aufGegeben?

Womöglich mag ich diese »Gabe« aktuell nicht, doch dieser Brocken versperrt mir meinen Weg. Natürlich kann ich mich umdrehen und stampfen oder mit meinen Fäusten dagegen poltern – das alles kann ich tun –, auf diese Weise wird der Brocken aber nicht weichen. Wenn ich ein Trauma als AufGabe annehmen kann, ist das in meinen Augen bereits mehr als die halbe Miete. Denn es ermöglicht mir, aus dem Dagegenankämpfen und aus der Ohnmacht herauszufinden und wieder handlungsfähig zu werden. Das ist es, worum es meines Erachtens geht.

»Du, lieber Leser, liebe Leserin, kannst dir viel mehr vertrauen.«

Mein Schlusssatz ist folgender: Du, lieber Leser, liebe Leserin, kannst dir viel mehr vertrauen. Ich weiß, dass dies ein blöder Satz ist, denn wenn ich es zu mir selbst sage, wirkt er nicht. Doch wir alle werden geführt, wir dürfen uns hingeben und wir dürfen uns trauen. Das ist zwar nicht immer leicht, dessen bin ich mir bewusst, aber wir dürfen dies tun. Und wenn dies Entspannung bringt, freut mich das umso mehr. Hallelujah!

TV: Toller Schlusssatz. Mehr Urvertrauen hat noch keinem geschadet.

Das Interview führte Hanna Neuhold.

Matthias Weiss

Mehr zum Autor

Matthias A. Weiss, Heiler, Kursleiter und Autor. 1973 geboren, am Zürichsee aufgewachsen, studierter evangelisch-reformierter Theologe und ausgebildeter Seelsorger. Seit seiner Selbständigkeit im Jahre 2005 berät und begleitet er Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen, hält Kurse und Vorträge oder schreibt Bücher.

Und da Angaben wie Website und Termine:

Meine Heilen-Seite: www.geistheilen.ch
Seite mit den Daten zum Lehrgang Heilen (jeweils im Berner Oberland): www.kientalerhof.ch/geistiges-heilen
Beginn des vierteiligen Lehrganges im Jahre 2024 (ebenfalls im Berner Oberland)22.-24. November 2024
Mein Buch übers HeilenGeistiges Heilen. Fragen und Antworten, Neue Erde-Verlag, ISBN: 978-3-89060-670-5

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