Von der Rückgewinnung des Urvertrauens ins Leben
Als Betroffene hat sich Lea Loeschmann schon früh mit Therapieverfahren der Psyche auseinandergesetzt. Heute ist sie eine erfahrene Therapierte und Therapierende und hilft mit ihrer selbst entwickelten Methode »The Moment Experience« den Menschen, sich von den emotionalen Folgen der Traumata zu befreien.
Tattva Viveka: Lea, du bist Psychotherapeutin, Heilpraktikerin und seit sehr langer Zeit auf dem spirituellen Weg. Wir haben uns hier in Berlin im Park kennengelernt und vertieften uns gleich in sehr spirituelle und philosophische Gespräche.
Das Thema Trauma ist eines deiner Hauptthemen. Du bietest Traumatherapie an und hast einen eigenen Ansatz entwickelt, der eine Kombination aus Psychotherapie und Spiritualität ist. Es geht darum, wie Verletzungen, die in der Kindheit entstanden sind, Verhaltensweisen auslösen, die uns ins Erwachsenenleben begleiten und die wir nicht so einfach loswerden können.
Ich würde dich erst einmal bitten, uns deinen Werdegang zu schildern. Welche spirituellen Erfahrungen hast du gemacht? Und was hast du für Ausbildungen in deiner therapeutischen Arbeit?
Lea Loeschmann: Ich stamme aus einer Großfamilie, die immer weiter gewachsen ist. Ich bin die Zweitälteste. Es war eine der sehr frühen Patchworkfamilien mit Scheidungen, viel Drama, viel Chaos. Ich hatte kein wirkliches Gefühl für mich. Ich fühlte mich depressiv und abgetrennt. Deshalb habe ich schon im Alter von 21 Jahren angefangen, Therapie zu machen.
Die Gestalttherapie arbeitet mit dem Moment. Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu verändern, weil sie ja vorbei ist. Ebenso wenig geht es darum, sich auf die eigene Zukunft zu fokussieren, sondern darum, dass wir uns bewusst im Hier und Jetzt befinden, um in diesem Moment an unsere Blockaden heranzukommen. Wenn wir im Jetzt die Gefühle erreichen können, können wir sie auch auflösen.
Ich machte die Ausbildung zur Gestalttherapeutin im Therapeutischen Institut für integrative Gestalt- und Körpertherapie (TIB) in Berlin. Damit fing auch mein buddhistischer Weg an. Eine wichtige Qualität eines Therapeuten ist es, dass er bei sich bleibt und sich nicht in dem anderen verliert. Das lernt man in der Meditation.
Ich bin dabei auf das »Dzogchen« gestoßen, den mystischen Kern des Buddhismus.
James Low war mein wichtigster Lehrer. Ich erlebte tatsächlich auch erst sekundenweise und später über längere Zeit das Gefühl des Erwachens. Das bewirkte eine große Veränderung in mir, weil ich in diesem Moment völlig frei von Angst und Zweifeln war, ich fühlte mich angekommen im Hier und Jetzt. Ich stellte mich nicht mehr infrage, führte keine negativen Selbstgespräche mehr und erlebte eine Entspannung, die ich vorher überhaupt nicht gekannt hatte.
Natürlich, wenn ich dann aus den Retreats zurückkam und der Alltag wieder zuschlug, merkte ich, dass die alten Blockaden eigentlich alle noch da waren und dass sie immer noch leicht anzutriggern waren. Aber ich nahm eine andere Perspektive ein, weil ich erlebte, dass ich zutiefst geborgen bin und es nichts gibt, was ich fürchten muss. Was also triggert unsere Angst?
Die Angst wird immer mehr, je mehr Gefühle wir verdrängen, nicht ertragen und nicht zulassen können.
Die Gefühle, die ich als Kleinkind und bei meiner Geburt nicht ertragen konnte und die nicht aufgelöst werden konnten, musste ich verdrängen. Das ist das Wesen der Angst. Die Angst wird immer mehr, je mehr Gefühle wir verdrängen, nicht ertragen und nicht zulassen können. Oft wissen wir das gar nicht und dann kommt im Laufe des Lebens einfach eine riesige Erschöpfung.
Ich habe mit der Gestalttherapie, mit diesem Vertrauen, dass wir die Heilung in der Gegenwart erreichen können, eine Methode entwickelt, die tief bis zur Geburt geht und die ersten Angsteffekte, also dieses erste Trauma auflöst. Danach bearbeitet man die weiteren Verletzungen, die sich eigentlich aus diesem ersten Trauma ergeben, weil man in bestimmten Situationen immer das alte Muster anwendet.
TV: Wie sieht die Psychologie die Entwicklung des Menschen? Wir sind ja zunächst Kinder. Wir kommen gesund auf die Welt und dann passieren Dinge in unserem Leben, wie Gewalt, die uns beeinflussen. Du sprichst da von einer Angstmatrix, wie diese uns in Bann hält und wie wir von uns getrennt werden.
Lea: Gehen wir davon aus, dass wir allumfassendes Bewusstsein sind, das alles durchdringt. Körperloses Bewusstsein kann nicht sterben, unser Wesenskern ist unverletzbar. Wenn wir aber auf die Welt kommen, gehen wir in ein anderes Experiment. Wir kommen aus dem Tao, wie es oft genannt wird, hinein in dieses Feld von Yin und Yang: Wir haben Gut und Böse, Tag und Nacht, stark und schwach. Wir sind in einer Dualität auf dieser Welt und das können wir nicht ändern.
Wir kommen im Mutterleib an. Dann entwickeln sich unser Körper, unsere Sinne, das Nervensystem und so weiter und unsere Hormone, wie zum Beispiel Adrenalin und Cortisol. Es ist ein ganz intensives Erlebnis, in dieser Welt anzukommen.
Freud sagte, dass sich der erste Angsteffekt in jeder Angst wiederholt, die wir danach erleben.
Unsere Angst entsteht oft schon im Mutterleib, bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren, weil wir als »Frühchen« geboren werden. Menschenkinder müssen so lange versorgt werden wie kein anderes Wesen auf diesem Planeten. Wir sind so unglaublich abhängig von dem, wie unsere Eltern uns sehen, wie unser Umfeld uns sieht, wie wir versorgt werden, wie wir gespiegelt werden, dass es ganz leicht ist, die Überlebensängste zu triggern. Freud sagte, dass sich der erste Angsteffekt in jeder Angst wiederholt, die wir danach erleben.
Wie werde ich geliebt? Werde ich erwartet? Bin ich ein Wunschkind? Wollen sie einen Jungen oder ein Mädchen? Liegt auf mir schon eine Erwartung, obwohl ich noch gar nicht geboren bin? Und dann natürlich der Geburtsvorgang selbst, der sehr extrem ist.
Die Angst beschützt diesen Wesenskern und unsere Persona, unser Ego entsteht in Reaktion auf diese Angst.
Die Angst will auf der einen Seite unser körperliches Überleben sichern. Auf der anderen Seite fühlt es sich für unseren entstehenden Körper so an, als ob wir wirklich verletzliche, zerstörbare Wesen wären, einschließlich unseres innersten Kerns. Die Angst beschützt diesen Wesenskern und unsere Persona, unser Ego entsteht in Reaktion auf diese Angst. Wir bilden eine Struktur aus, mit der wir in dieser Umwelt überleben können.
TV: Das sind zwei Aspekte: Einmal sprechen wir von einer Angst, die eigentlich alle betrifft, weil jeder von uns geboren wird. Da können wir nichts dran ändern, das ist schon einmal eine Prädisposition, so ein erster Verletzungsmoment. Wenn in der persönlichen Biografie dann jedoch noch extremere Sachen passieren, dann schlägt dieser erst richtig zu Buche und es treten diese psychologischen Dysfunktionalitäten oder Probleme auf. Wie entwickelt sich das?
Lea: Wir haben Yin und Yang. Auch in unserem Körper. Das ist der Sympathikus und der Parasympathikus. Der Sympathikus ist unser Yang, dieses lebendige, spritzige, das ist die muskuläre Aktivierung. Aber auf jemanden, der einen zu hohen Adrenalinpegel hat und bei dem das Cortisol, das Angsthormon, schon aktiv ist, kann das eine negative Wirkung haben. Mit überladener Angstmatrix sind wir nicht in der Lage, Abenteuer zu erleben, weil wir damit beschäftigt sind, unsere Angst und die Gefühle, die dahinterstecken, in Schach zu halten. Ansonsten gibt es einen Wechsel von Sympathikus und Parasympathikus, auf den wir vertrauen können.
TV: Wenn jemand in irgendeiner Form ein Trauma https://members.tattva.de/thomas-huebl-kollektives-trauma-heilen/ erlebt hat – er wurde zum Beispiel als Kind verlassen, missbraucht, geschlagen oder emotional nicht gefühlt –, entsteht dieser hohe Adrenalinpegel, zum einen aufgrund der Angst, aber auch aufgrund dieser Alarmstellung, die wir einnehmen, da wir fürchten, es passiert vielleicht wieder etwas Ähnliches. Dann haben wir ständig diesen hohen Pegel. Und das führt dann unter anderem auch zu Erschöpfung.
Es gibt so viel Erschöpfung und so viel Depression, weil das Angstsystem überlastet ist.
Lea: Ja, genau. Wir verlieren unser Vertrauen in den ganz natürlichen Fluss von Yin und Yang und befinden uns in einer Daueranspannung, in einem Dauer-Hab-Acht, und dann ziehen wir auch Erlebnisse an, die letztendlich das System wieder mehr belasten. Es gibt so viel Erschöpfung und so viel Depression, weil das Angstsystem überlastet ist.
TV: Man kreiert auch wieder neue, ähnliche Situationen, weil man das schon so kennt und man denkt, man müsse es so machen, so dass man wieder dieses Adrenalin- und Cortisollevel hat, dieses Erregungs- oder Excitement-Level.
Lea: Genau, wir haben beinahe eine Art Sucht, den Adrenalinpegel immer auf einem ähnlichen Niveau zu halten, weil dann die Angstmatrix funktioniert. Aber je älter wir werden, desto weniger können wir diese Anspannung in der Muskulatur halten.
Das ist eine Anspannung in der Muskulatur, im Blutdruck, im gesamten System, die sich psychosomatisch äußert.
TV: Du betonst sehr stark das Gefühl oder die Gefühle. Welche Rolle spielt das Denken? Benutzen wir das Denken auch, um uns gegen diese Gefühle zu panzern?
Sowohl die Buddhisten als auch andere Traditionen sagen, dass das Denken eine Krankheit ist.
Lea: Absolut. Unser ganzer Körper, unsere ganze Somatik, unser ganzes Fühlen und Erleben, Emotionen, Sinne und Instinkte zählen. Wir sind ein multidimensionales System, das auf dieser Erde lebt. Unsere Gesellschaft ist leider auf Logik, auf dem Verstand aufgebaut und neigt dazu, ihn übermäßig zu fokussieren. Sowohl die Buddhisten als auch andere Traditionen sagen, dass das Denken eine Krankheit ist. Das Denken wird wirklich überschätzt.
TV: Genau. Das Gefühl ist eigentlich primär. Wir müssen an dem Gefühl arbeiten. Wir können doch nicht über die Gedanken die Gefühle verändern. Das geht auch, aber das sind nicht die Gefühle, die wir eigentlich ändern müssten: die echten Gefühle von damals.
Lea: Genau, es entsteht Urmisstrauen, durch frühe Verletzungen, oder es gibt Vertrauen. Vertrauen dürfen, dass ich versorgt werde und ein geliebtes Wesen bin, dass ich unverzichtbar bin, dass ich wirklich innig spüre, dass ich geliebt werde. Das kann man mit Gedanken nicht produzieren.
Unsere frühe Kindheit ist nicht mit Gedanken strukturiert, auch nicht mit Zeit. Wir leben in diesem Alphawellenraum. In dieses Feld kommen wir auch, wenn wir meditieren, wenn wir zur Ruhe kommen. Im Grunde kommen wir schon in der Entspannung in den unterbewussten Frequenzbereich.
TV: Du sagst, wir kommen in diesen Alpharaum und das ist auch der spirituelle Raum. Kann der spirituelle Raum diese verletzten Gefühle wie Misstrauen ins Leben oder Einsamkeit heilen? Oder müssen wir in den emotionalen Raum gehen, um da diese Gefühle noch mal anzuschauen und aufzulösen?
Lea: In der Erleuchtungserfahrung waren meine Traumata wirklich weg. Eine buddhistische Erklärung besagt, dass unser Geist wie ein Glas Wasser mit Schlamm ist. Sind wir aufgewühlt, gibt es viele Unsicherheiten, Gefühle und Gedanken. Das ist der aufgerührte Schlamm. Wenn wir meditieren, dann setzt sich dieser Schlamm unten ab. Aber er ist noch da, kann also wieder aufgewühlt werden. Im Buddhismus gibt es Praktiken, die man macht, um den Bodensatz immer mehr zu reinigen. Insofern denke ich, ja, es ist möglich, wir können einen rein spirituellen Weg gehen.
Aber meine Erfahrung ist, dass die Widerstände und Blockaden sehr stark sind, vor allem in unserer Gesellschaft. Geht es wirklich darum, uns aus der Alltagsrealität herauszubrechen, wenn wir sowieso schon spirituelle Wesen sind? Wir sind sowieso immer angekommen. Die Angstmatrix ist in der allumfassenden Matrix. Yin und Yang sind in der allumfassenden Matrix. Es gibt nichts, was sie nicht beinhaltet. Es stellt sich also die Frage: Sollten wir das Leben nicht so, wie es ist, genießen?
TV: Und wie lösen wir die Blockaden auf? Kannst du deine Methode etwas genauer vorstellen?
Lea: Wenn alles im Jetzt da ist, brauchst du nur die Augen schließen und dich erinnern. All deine Gefühle sind die ganze Zeit in dir. Ich führe dich durch einen Prozess, eine Art Wachhypnose und innerer Erfahrung. Der kritische Verstand wird in den Prozess integriert. Wenn wir den Verstand umgehen und ausschließlich im Unterbewusstsein arbeiten, dann haben wir nicht wirklich das Gefühl, dass wir am Prozess beteiligt waren. Ich gehe in meiner Arbeit bis zur Zeugung zurück. Wie ist es dir ergangen, was ist passiert, wie hast du es erlebt? Diese Zeit bildet die Matrix für all die anderen Lebenszyklen.
Du löst emotionale Belastungen dadurch auf, dass du buchstäblich in deinen Körper hineingreifst und sie rausholst. Das Übermaß an Gefühl wird abgebaut. Dadurch kannst du wieder mit deinen Gefühlen umgehen. Wenn ich zum Beispiel die alte Wut auf ein normales Maß entlastet habe, dann kann ich damit umgehen. Ich kann beispielsweise Grenzen setzen.
TV: Wir konnten diese Situationen als kleines Kind nicht bewältigen. Wir konnten auch aus der Situation nicht heraus, weil wir komplett abhängig von unseren Eltern waren. Daraufhin haben wir diese Erlebnisse tiefer gespeichert, abgepanzert in diese Angstmatrix. Trotzdem schwingt so eine Situation aber immer weiter mit, ohne dass wir es merken, weil wir schon so daran gewöhnt sind. Wenn in der Gegenwart dann ein Trigger auftaucht, jemand wütend auf mich ist oder mich beschimpft, werden diese alten Gefühle, die mit der Situation verbunden sind, ausgelöst. Wir können damit aber nicht umgehen, weil das Niveau des Angstlevels zu hoch ist.
Lea: Ganz genau. Das heißt, in dem Moment, in dem diese alten unerträglichen Gefühle entladen sind und das Vertrauen wieder da ist, kann ich wütend sein, aber ich weiß, dass ich dem anderen nicht gleich an die Kehle gehe. Das Vertrauen ist wieder da und die Angstmatrix ist entlastet. Das heißt, das Trauma wird nicht mehr so schnell angetriggert. Angst und Erregung gehören zusammen. Das Adrenalin steigt mit der Unterdrückung von Gefühlen. Mit dem Erschaffen von einem Ego oder einer Persona überleben wir. Aber in den lebendigen, kreativen Flow kommen wir, wenn wir Vertrauen haben.
TV: Dann kann wieder richtige Entspannung eintreten und zwanghafte Verhaltensweisen können sich auflösen.
Lea: Ja, zum Beispiel lösen sich negative Selbstgespräche, Ängste und Erschöpfung auf.
TV: Wie lange hat diese Veränderung bei dir gedauert?
Lea: Nachdem ich die richtigen Methoden hatte, ging es plötzlich ganz schnell. Es waren tatsächlich wenige Stunden. Bei mir waren es zehn, elf Themen, die ganz dringend bearbeitet werden mussten.
Die Methode funktioniert gut und nachhaltig. Aber wir haben Trauma erlebt, wir sind gewohnt gewesen, leicht angetriggert zu sein. Wir brauchen ein bisschen Übung, damit wir, wenn sich das Adrenalin beim Starten eines neuen Abenteuers erhöht, nicht in die Angst kippen und uns wieder in unser altes Muster zurückziehen, sondern neues Vertrauen in die Begeisterung entwickeln.
TV: Aber das kommt in diesem Fall nicht über Affirmationen oder positives Denken, sondern aus der Tiefenemotion, dass diese Übererregung weg ist und wir spontan diese Sachen fühlen können.
Lea: Richtig. Wir spüren schneller, ob wir noch einmal in diese alte Angst gerutscht sind. Statt Stress nehmen wir bewusst Aufregung wahr. Wir können dann so reagieren, dass es unserer Wahrheit, unseren Wünschen und unseren Bedürfnissen mehr entspricht.
TV: Normalerweise springt in der Angstmatrix und in dem Verteidigungsmodus immer dann der Kopf, das Prinzip, das Muster, das Konzept, was ich jetzt benutze, rein, um mich zu verteidigen, um sicher zu sein. Das hat nichts mit dem authentischen Gefühl zu tun. Das ist ein Verteidigungsmechanismus. Dann fange ich an zu lächeln, wenn ich so jemand bin. Oder ich fange an zu kämpfen, wenn ich so jemand bin. Fawn, flight, freeze and fight – diese vier Reaktionsmuster gibt es. Vielleicht magst du die vier kurz erklären.
Lea: Der Fight-Modus ist der Kampfmodus. Wir werden angegriffen und wir verteidigen uns mit Fäusten und allem, was wir haben. Menschen, die oft im Fight-Modus sind, sind eher Kämpfer und haben eine narzisstische Tendenz. Sie schreien eher, werden laut und ausfällig. Manchmal ist man erschrocken, wie sie reagieren.
Wir können alle vier Mechanismen nutzen. Auch jemand, der normalerweise sanft ist, kann ausrasten, wenn er genug provoziert wird.
Dann gibt es den Flight-Modus, den Fluchtmodus. Das sind Menschen, die eher die Tendenz haben, wegzurennen, sich zu entziehen, aus der Situation rauszugehen, nicht zuhören wollen und Suchttendenzen haben. Egal, weg, ablenken, etwas anderes machen.
Der Freeze-Modus bedeutet Erstarren. In diesem Modus frieren wir ein und wir stellen uns tot. Ich tue so, als wäre ich gar nicht da, ich sage nichts und verhalte mich unauffällig. Diese Menschen wirken eher kühl und zurückhaltend.
Der Fawn-Modus ist am wenigsten bekannt. Das ist das Unterwerfen. Dieser Modus wird mit dem Stockholm-Syndrom in Verbindung gebracht. Wenn ich dem Aggressor nicht ausweichen kann, dann werde ich alles tun, um ihn irgendwie zu befriedigen, weil ich nur so mein Überleben sichere. Ich kann weder kämpfen noch wegrennen. Der Aggressor ist viel stärker und brutaler als ich, also passe ich mich an. Dieser Modus ist die co-abhängige Struktur schlechthin, der perfekte People Pleaser, der, der es immer allen recht machen will.
Wir versuchen, uns hineinzufühlen. Was braucht der andere von mir? Was kann ich ihm geben? Und bloß nicht provozieren!
TV: Es jedem recht machen, sich um alle kümmern, aber eigentlich fehlt die eigene Identität. Die besteht nur daraus, dass man von dem anderen gebraucht wird. Wenn sie uns brauchen, können wir sie dadurch kontrollieren.
Lea: Genau. Es ist eine Persona oder eine Maske, die wir tragen. Man kann es auch Ego nennen. Aber zu wissen, dass das Bewältigungsstrategien sind, die dem Überleben dienen, finde ich ganz wichtig.
TV: Und als Überlebens- und Schutzmechanismen sind sie eigentlich menschlich.
Lea: Absolut. Sie beschützen unser Überleben. Die meisten Abenteuer, die wir erleben, sind eigentlich ziemlich cool, wenn wir uns darauf einschwingen können. Manche sind süchtig danach, die gehen auf den Everest oder machen gefährliche Sachen. Die wollen dieses Adrenalin. Manche brauchen den Kick und manche nicht so.
TV: Das kann also zu einer Sucht werden. Da muss man aufpassen.
Lea: Adrenalin hochzuhalten kann wirklich wie eine Sucht sein.
TV: Ich habe mich viel mit Suchttheorie und Suchtpraxis beschäftigt. Ich bin selber ein Süchtiger. Diese Adrenalinsucht gehört zu den Kernstrukturen dabei. Das kann sich in verschiedenen Formen, Handlungen oder Substanzen ausdrücken und hat immer dieses Muster dahinter.
Lea: Einerseits sind Menschen Fluchtwesen, wir sind eher wie Gazellen als wie Löwen. Wir mussten damals viel weglaufen vor irgendwelchen wilden Tieren. Auf der anderen Seite gibt es die Verwendung von Substanzen auch im Tierreich. Es gibt die Möglichkeit, das Bewusstsein zu verändern, wenn man bestimmte Drogen nimmt. Wir sehnen uns nach der Erfahrung der Verbundenheit und manche der psychoaktiven Drogen verbinden uns. Es kommt immer darauf an, in welchem Kontext sie gebraucht werden. Es ist viel besser, sie in einem Ritual zu nutzen als in einer Disco.
Aber die herrlichste Erfahrung ist, dass wir ohne Drogen, einfach von uns aus in unser wahres Selbst eintauchen können und uns in diese Glückseligkeit, in diesen Flow, in dieses Gefühl entspannen können.
TV: Die Zwölf-Schritte-Programme sagen auch »Happiness is an inside job«. Der spirituelle Kern ist unser wahres Wesen – oder, wie es in der indischen Spiritualität heißt, das Sat-Chit-Ananda: Als Seele sind wir ewig, allglückselig und voller Wissen. Das sind wir wirklich. Zusätzlich gibt es aber noch diese ganzen Schutzmechanismen und unsere irdische Existenz. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen. Deswegen ist es gut, diese pathologischen Phänomene anzugehen, damit wir dann in diesen normalen dualen Zustand zurückkommen, der aus Erregung, Entspannung, Abenteuer, Ausruhen, Sicherheit und Freiheit besteht.
Lea: Richtig. Das Besondere ist, dass das Erleuchten oder das Erwachen eine entspannte Wachheit ist. Das ist für uns ein totaler Gegensatz, weil wir gar nicht wissen, wie das gehen soll. Wenn wir uns entspannen, fallen wir oft in einen tiefen Schlaf, weil wir schon so erschöpft sind. Wir kommen da leichter hin, wenn wir Methoden haben, die Angstmatrix und die gestauten Gefühle zu entladen. Wir kommen dann leichter an unseren inneren Kern. Wir entwickeln mehr Vertrauen, dass es völlig in Ordnung ist, dass wir Menschen auf der Erde sind, dass wir einmal Angst haben, dass wir wütend sein können, verzweifelt, hilflos, hoffnungslos. Und wir wissen, wir können mit diesen Gefühlen umgehen und das Leben feiern.
TV: Das heißt auch, es ist gar nicht verkehrt, wenn man einmal Angst hat oder einmal wütend oder verzweifelt ist. Das sind alles normale Emotionen. Und es ist auch nicht der Sinn von Erleuchtung, das alles hinter sich zu lassen. Oder?
Lea: Ganz im Gegenteil. Der tibetische Buddhismus unterscheidet sich vom Hinduismus im Wesentlichen darin, dass er besagt, es geht nicht nur um eine einsgerichtete Konzentration. Wenn ich mich einsgerichtet konzentriere, dann kann ich diesen Zustand erreichen. Wie das Glas Wasser, an dem sich der Schmutz abgesetzt hat.
Anders ist es, wenn alles wirbeln kann und du immer noch die Klarheit darin spüren kannst. Das ist Erleuchtung, weil man nicht mehr herausfällt, wenn plötzlich das Wasser wieder aufgerührt wird. Wir sind durchdrungen von diesem Bewusstseinsfeld. Wir sind immer darin. Insofern ist Glückseligkeit kein »inside job«. Wir müssen die Glückseligkeit nicht herstellen, aber wir können alles andere beseitigen, was uns daran hindert, sie wahrzunehmen.
TV: Ja, genau, die Erleuchtung ist sowieso vorhanden. Unser Job ist es, das andere zu beseitigen.
Lea: Es ist unsere Aufgabe, das Gefühl zu entladen, die Welt sei gefährlich. Sie so wahrzunehmen, wie sie eigentlich gemeint ist. Wir leben in dieses Leben und haben das Urvertrauen, dass wir eigentlich sowieso immer zu Hause sind. Wir können aus diesem Feld nicht heraus, wenn es alles durchdringend ist. Wir dürfen dieses Vertrauen spüren, weil es ja schon da ist.
TV: Du beziehst dich jetzt auf das große Bewusstseinsfeld. Aber wir können auch aus dieser Dualität nicht raus. Oder?
Lea: Ja, beides gehört zusammen. Das Besondere ist, dass wir in der Erfahrung existieren. Es gibt in allen Völkern Rituale für Trauer, für Verzweiflung. Die Tatsache, dass wir Rituale aus unserer Welt herausdrängen, ist nicht gesund. Trauer ist auch ein Zyklus mit verschiedenen Stadien. Es ist gut, den Gefühlen zu vertrauen, weil sie dazugehören.
Im Buddhismus gibt es Übungen, in denen man sagt, ich bin der Buddha und so gehe ich jetzt durch Wut. Ich bin der Buddha und ich gehe jetzt durch Hilflosigkeit. Ich bin der Buddha und ich gehe durch Verzweiflung. Das sind die tantrischen Übungen, die eigentlich genau dasselbe machen: Sie wollen dieses Vertrauen wiederherstellen, dass wir so, wie wir sind, genau in Ordnung sind. Dann haben wir Mitgefühl mit uns selbst. Wir fühlen uns geborgen im Universum und strahlen das auch aus. Dann merken wir, wir haben mehr Mitgefühl mit anderen, sogar mit unserer Mutter, die vielleicht wirklich nicht gut zu uns war, oder mit unserem Vater, weil wir merken, auch die durften das Vertrauen nicht erleben. Diese Art und Weise heilt zutiefst – wenn wir nicht versuchen, mit unserem Verstand gute Menschen zu sein oder schlechte Menschen zu bekämpfen oder das Gute in uns zu fördern und das Schlechte von uns auszurotten, sondern wirklich in dieses Vertrauen kommen.
Alles in allem ist es ein unglaublich wohlwollendes, freudvolles, lebendiges Universum.
TV: Punkt. ☺
Das Interview führte Ronald Engert.
Seit 40 Jahren erforscht Lea Loeschmann das Bewusstsein und das Unterbewusstsein, um im Flow anzukommen und innere Blockaden und Widerstände aufzulösen. Mit »The Moment Experience« behandelt sie Urverletzungen, entlädt verdrängte Gefühle und entlastet die Angstmatrix.
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