Saleem Matthias Riek – Jederzeit innehalten können

Wegweiser für erfüllende Sexualität und Beziehung

Oft entsteht der Eindruck, Sex ist umso besser, je leidenschaftlicher und schneller er ist. Dass das nicht immer so sein muss, zeigt Saleem Matthias Riek in seinem Plädoyer für eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von zielorientiertem Sex hin zu bewusstem Wahrnehmen und Begehren im jetzigen Augenblick.

Jenseits von Schmuddelecke und Leistungssport

Auch mehr als 50 Jahre nach der sogenannten sexuellen Revolution ist Sex ein Thema, das eng mit Schuld und Scham verbunden ist. Obwohl Sexualität so natürlich ist wie Essen und Trinken, tun sich viele Menschen schwer, offen darüber zu sprechen und ihre Lust und ihr Begehren auf erfüllende Weise zu leben. Und dann soll Sex auch noch heilig sein? Ein heikles Unterfangen, denn Heiligkeit verbinden viele Menschen mit Religion und Kirche. Gerade letztere hat sich nicht gerade damit hervorgetan, zu sexuellem Glück zu ermutigen, ganz im Gegenteil.

Kaum der Schmuddelecke entronnen, ist Sex nicht selten zu einem Leistungssport geworden.

Die spirituelle Tradition des Tantra, mit der ich mich seit vielen Jahren verbunden fühle, bildet hier einen wohltuenden Kontrapunkt, indem sie sexuelles Erleben grundsätzlich bejaht. Darüber hinaus zeigt die tantrische Lehre Wege auf, wie wir Sexualität für unsere persönliche Entwicklung nutzen können, wie sie uns zu lebendiger innerer Reife und zum Bewusstsein existenzieller Verbundenheit führen kann. Die Krux dabei: Es gibt bereits mehr als genug Erwartungen an unser sexuelles Erleben, die schwer auf uns lasten. Kaum der Schmuddelecke entronnen, ist Sex nicht selten zu einem Leistungssport geworden, zum Statussymbol, zum Lifestyleprodukt, zu einem Bestandteil von Selbstoptimierung. In diesem Kontext geraten auch Tantra und heilige Sexualität in Gefahr, noch einen obendrauf zu setzen und die Erwartungen an unsere Sexualität in den Himmel zu schrauben.

Diese Tendenz möchte ich mit diesem Text nicht bedienen. Auch wenn Sexualität tatsächlich ein Weg zu Gott sein kann – Gott hier in einem weiten, undogmatischen Verständnis –, so führt die Erwartung, Sex müsse heilig sein, eher ins Fegefeuer oder in die Hölle als in den Himmel. Wir können daran nur scheitern. Je früher wir uns das eingestehen, desto besser. So können wir bescheidener werden und unsere Sexualität auf menschlichere Weise erkunden: ohne allzu großen Erwartungsdruck, ohne allzu fixe Vorstellungen von richtig und falsch, stattdessen mit einer üppigen Portion Entdeckerfreude, gepaart mit der Bereitschaft, auch Enttäuschungen zu erleben und an ihnen zu reifen.

Dem Begehren widerstehen?

Nicht ohne Grund gilt der Orgasmus als das höchste der Gefühle. Er kann sich einfach himmlisch anfühlen. Aus spiritueller Sicht steht er damit in direkter Konkurrenz zur Erfahrung der Transzendenz, der Allverbundenheit oder eines göttlichen Friedens, wie wir ihn vielleicht in tiefer Versenkung oder meditativer Praxis erleben. Die meisten Religionen raten davon ab – um es mal vorsichtig zu formulieren –, sich von sexuellem Begehren leiten zu lassen. Sex sei – so die Doktrin – eine gefährliche Versuchung des Teufels, der wir unbedingt widerstehen müssten (außer vielleicht innerhalb der Ehe zum Zwecke der Fortpflanzung). Das ist natürlich Unsinn. Repressive Sexualmoral hat viele Menschen ins Unglück gestürzt und tut dies auch heute noch, vom sexuellen Missbrauch durch kirchliche »Würdenträger« ganz zu schweigen.

Die meisten Religionen raten davon ab – um es mal vorsichtig zu formulieren –, sich von sexuellem Begehren leiten zu lassen.

Doch ist vielleicht doch etwas Wahres dran an der These, dass sexuelles Begehren und die Lust auf einen Orgasmus uns in die Irre führen können? Ich finde, ja. Nicht weil Sex unmoralisch oder verwerflich ist oder nur als Ausdruck wahrer Liebe zu legitimieren ist, nein. Das ist schäbige Propaganda. Sondern weil Sex enorm starke Kräfte entfalten kann, die uns unbewusst werden lassen und damit der Möglichkeit berauben, sexuelles Erleben zu steuern und zu gestalten. Dann hat der Sex uns, anstatt dass wir Sex haben. Tatsächlich kann eine überwältigende sexuelle Erfahrung enorm attraktiv sein. Was ist schöner, als im hemmungslosen Taumel der Sinne alles zu vergessen und uns in der Hingabe an – auf Dauer kaum auszuhaltende – ekstatische Lust vollständig zu verlieren?

Dazu kommt es allerdings gar nicht, wenn wir dem Sex nicht auch widerstehen können. Stattdessen landen wir mit jemandem im Bett, dem wir noch nicht mal in die Augen schauen wollen, erleben einen allzu schnellen Samenerguss oder begnügen uns mit 08/15-Sex, weil wir nicht genug Geduld aufbringen, unsere sexuellen Fähigkeiten kontinuierlich zu erweitern. Wie zwischen dem Säufer und dem Weinkenner Welten liegen, so liegen diese auch zwischen sexueller Zwanghaftigkeit und sexueller Erfüllung. Gerade weil dem Sex eine extrem starke Kraft innewohnt, sind wir gut beraten, mit dieser Kraft bewusst umgehen zu lernen. Ansonsten bleibt uns nur die Sucht auf der einen oder die Abstinenz auf der anderen Seite der Zwanghaftigkeit. Dass dies zwei Seiten einer Medaille sind, zeigt sich schon daran, dass sie oft innerhalb eines Paares aufeinandertreffen: Je mehr Sex der eine will, desto weniger Sex will die andere. Oder umgekehrt.

Saleem Matthias Riek

Sich aus der Zwanghaftigkeit lösen

Wie kommen wir aus der Zwanghaftigkeit unserer Sexualität heraus? Es gibt eine einfache Formel: jederzeit innehalten können. Das sind nur drei Worte, doch aus meiner Sicht eröffnen sie Welten. Allerdings stehen sie einer der mächtigsten sexuellen Normen diametral entgegen, nämlich dass Sex natürlicherweise auf einen Orgasmus zusteuere und darin die wesentliche Erfüllung liege. Auch wenn heutzutage immer öfter darauf hingewiesen wird, dass der Orgasmus kein Orgasmuss sei, lässt sich dieses Skript nicht so leicht ablegen. Ähnlich sieht es mit der Vorstellung aus, nur mit Penetration sei Sex echter Sex. Solange wir – bewusst oder unbewusst – von solchen Skripten geprägt sind, bleibt die Idee, jederzeit innehalten zu können, graue Theorie. Wir werden dazu erst in der Lage sein, wenn wir sexuelle Erfüllung neu definieren. Dazu gleich mehr.

Zunächst verdienen die zu erwartenden Hindernisse noch mehr Aufmerksamkeit. Sexuelle Fixierungen sind oft nicht leicht zu überwinden, sie erweisen sich als ziemlich beständig. Im Gegensatz zum weitverbreiteten Glauben an die Natürlichkeit menschlicher Sexualität haben wir unsere sexuellen Reaktionsmuster überwiegend erlernt, um nicht zu sagen: antrainiert oder konditioniert. Die Muster haben sich tief in unsere Psyche und in unsere Körper eingegraben, wir kommen ohne Weiteres kaum dagegen an. Wenn wir sie auch noch zu unserem Gegner machen, sitzen wir am kürzeren Hebel.

Wir können lernen, den Orgasmus hinauszuzögern, und den besonderen Reiz verzögerter Lust entdecken.

Wir können unsere Muster aber erkennen, uns in ihre Hintergründe und Entstehungsgeschichte einfühlen und sie dann langsam weiterentwickeln, sodass sich ihr Zugriff auf unser Verhalten relativiert. Wir können lernen, den Orgasmus hinauszuzögern, und den besonderen Reiz verzögerter Lust entdecken. Wir können uns auf das Begehren selbst konzentrieren anstatt nur auf dessen Ziel. Wir können erleben, dass verbale Kommunikation »mitten im Akt« den Sex nicht unbedingt stört, sondern ihn sogar bereichern kann. Wir können die Unverzichtbarkeit der Penetration hinterfragen und mit anderen Praktiken experimentieren.

Doch vielleicht beglücken uns wahrhaftiger Kontakt, echte Intimität und tiefe Verbundenheit tiefer als der geilste Kick.

Vor allem können wir der Frage nachspüren, was Sex tatsächlich erfüllend macht. Allein diese Frage zu stellen, bewirkt manchmal bereits neue Erkenntnisse. Vielleicht haben wir gedacht, Sex sei je geiler, desto besser. Doch vielleicht beglücken uns wahrhaftiger Kontakt, echte Intimität und tiefe Verbundenheit tiefer als der geilste Kick. Es geht allerdings nicht um ein Entweder-oder, Geilheit schließt Intimität keineswegs aus. Zum Hindernis wird sie erst dann, wenn wir auf sie fixiert sind. Der Weg zu tieferer Erfüllung besteht nicht darin, uns einen Orgasmus, eine Penetration oder auf was auch immer wir fixiert sind madig zu machen, sondern die Lust darauf zu würdigen und gleichzeitig über deren Tellerrand hinauszublicken. So können wir unser Erlebnisspektrum langsam aber sicher erweitern und ganz unmerklich fangen unsere Muster an, sich zu lockern, aus Fixierungen werden Vorlieben, die der Chance auf weitere Entdeckungen Raum lassen.

Saleem Matthias Riek

Unterbrechungen mit Potenzial

Jederzeit innehalten zu können, das scheint zunächst nicht besonders attraktiv, insoweit es den sexuellen Flow unterbricht. Hinter dieser Befürchtung steht oft die Angst, dass aus der Unterbrechung ein Abbruch wird, wir den Erregungsfaden nicht wieder aufnehmen können. Warum erscheint sexuelle Erregung so störanfällig? Aus meiner Sicht liegt das nicht daran, dass sexuelle Aktivität natürlicherweise keine Unterbrechung verträgt, sondern dass Unterbrechungen Themen zum Vorschein bringen können, die wir vor uns selbst und/oder vor unserem Partner verstecken. Oft weil wir uns ihrer schämen oder insgeheim doch daran glauben, dass es im Sex um Leistung ginge, darum, »es zu bringen«. Ob es sich um die Angst handelt, die Erektion einzubüßen oder dass die Lust sich verflüchtigt: Ängsten auszuweichen, macht uns tendenziell zu ihren Geiseln. Oft bezieht sich die Angst nicht nur auf das eigene Erleben, sondern auch darauf, den anderen zu stoppen, wenn dieser gerade richtig in Fahrt kommt. Vielleicht reagiert er oder sie sauer oder enttäuscht? Doch gerade wenn einer nicht mehr mitkommt, wird Innehalten umso wichtiger, zumindest insoweit der Sex eine gemeinsame Veranstaltung sein soll. Erst wenn wir uns all diesen Ängsten stellen und für die Auseinandersetzung mit ihnen eine tragfähige Basis entwickeln, verlieren sie ihre Macht.

Was könnte eine tragfähige Basis sein? Ergebnisoffene Neugier, Freude an wahrhaftigem Kontakt, womöglich sogar die Fähigkeit, lustvoll zu scheitern? Es gibt viele Möglichkeiten. Die Essenz dieser Möglichkeiten besteht darin, mit dem sein zu können, was ist, vor allem mit uns selbst und allem, was in uns vorgeht. Freundschaft mit uns selbst zu schließen, kann helfen, uns und unseren Sex nicht immer weiter optimieren zu müssen und mit Enttäuschungen kreativ umzugehen. Das Spannende daran: Genau dadurch wird der Sex besser, zumindest in meiner Erfahrung; besser aber eben in einem viel weiteren Sinne, als wir uns das anfangs vorstellen können. Deswegen ist »besser« meistens nicht der geeignete Wegweiser, sondern viel eher die Freude, Neues zu entdecken – auch wenn das Neue manchmal irritiert oder wehtut.

Unterbrechungen haben Potenzial. Sie helfen, auf Automatismen aufmerksam zu werden und aus diesen auszusteigen. 

 

Unterbrechungen haben Potenzial. Sie helfen, auf Automatismen aufmerksam zu werden und aus diesen auszusteigen. In einem Moment des Innehaltens können wir uns beispielsweise fragen: Sind wir wirklich in Kontakt miteinander oder ist jeder in seinem eigenen Film? Letzteres geschieht gerade beim Sex gar nicht selten. Wenn beide sich in einem attraktiven Film befinden, muss das kein Problem sein. Vielleicht sind beide damit zufrieden. Allerdings geht so auch etwas verloren, nämlich die Chance, kreativ mit unserer Differenz umzugehen. Angenommen, in dem einen Film geht es um animalische Instinkte, im anderen um emotionale Nähe. Vom äußeren Geschehen her ist beides nicht immer leicht zu unterscheiden, aber was, wenn einer den Mund aufmacht? Es müssen noch nicht einmal Worte sein, auch bestimmte Laute können einen aus allen Wolken fallen lassen, wenn sie zur eigenen Vorstellung partout nicht passen. Was dann? Bedauern wir das Ende unseres Kopfkinos oder begrüßen wir die Gelegenheit, wahrhaftiger miteinander in Kontakt zu kommen? Wie erleben und vor allem wie bewerten wir die Differenz unserer Bilder und der darin zum Ausdruck kommenden Sehnsüchte? Sind wir überrascht, empört oder beleidigt – oder eher begeistert, dass etwas ans Licht kommt, was vorher verborgen war?

Um was geht es beim Sex?

Hier stehen wir vor einer wichtigen Weichenstellung: Um was geht es uns beim Sex? Geht es um einen »wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane«, wie das Immanuel Kant seinerzeit mit unnachahmlicher Nüchternheit zum Ausdruck gebracht hat? Geht es primär um Lustgewinn? Um Intimität? Um Ekstase? Um ein erotisches Spiel mit offenem Ausgang? Je nachdem, was wir suchen und welche Richtung wir einschlagen, werden wir höchst unterschiedliche Erfahrungen machen, vor allem auf lange Sicht.

Ein bekanntes Phänomen in langjährigen Partnerschaften ist das langsame Nachlassen sexueller Attraktion. Handelt es sich dabei um ein Naturgesetz, wie es unter dem Namen Coolidge-Effekt bekannt geworden ist? Nach meiner Erfahrung hat das Phänomen vor allem mit der genannten Weichenstellung zu tun. Je mehr wir in unseren sexuellen Skripten, Präferenzen und Vorstellungen gefangen bleiben, desto weniger Raum geben wir der kreativen Spannung, die aus der Unterschiedlichkeit zweier Menschen entstehen kann. Wenn wir uns auf die Differenz einlassen, eröffnen wir gegenseitig Erfahrungsräume, die wir alleine kaum betreten könnten. Der skizzierte Prozess ist kein Selbstläufer, er braucht immer wieder unsere bewusste Entscheidung, Neues zu wagen und damit verbundene Risiken einzugehen. Dann und wann werden wir enttäuscht, aber auf lange Sicht bleibt so die Erotik lebendig, weil sie uns immer wieder überraschen darf.

Slow Sex und Edging

Manchmal helfen auch Anregungen von außen oder spezifische Methoden, um sexuelle Entwicklung zu unterstützen. So kann zum Beispiel die Praxis des Slow Sex erheblich zur Vertiefung sexuellen Erlebens beitragen. Slow Sex ist die konsequenteste Umsetzung von »jederzeit innehalten können«. Er geht sogar noch darüber hinaus: Slow Sex ist überwiegend innehalten. Meditative Präsenz im Hier und Jetzt ist zugleich die Basis und die Methode des Slow Sex. Wir brauchen dazu kaum mehr als die Bereitschaft, uns sexuell zu vereinigen – das ist mit etwas Know-how auch ohne Erregung und Erektion möglich – und miteinander präsent zu sein. Zu jedweden Zielen, zu allem Begehren, zu jeder Erwartung heißt es: Loslassen! Geschehen lassen!

Tatsächlich gehört es zu meinen beglückenden Erfahrungen im Sex, ganz ohne Anstrengung Zeuge zu sein, wie Penis und Vagina von allein anfangen, subtil miteinander zu kommunizieren, und was daraus in Körper, Geist und Seele entsteht. Wir müssen Sex nicht machen, wir sind bereits sexuell. Für diese Art von Sex ist es wesentlich, dass wir ihm mit unseren Absichten aus dem Weg gehen. Das ist allerdings einfacher gesagt als getan. Slow Sex ist selten von Anfang an beglückend, zumindest nicht für beide. Er kann langweilig sein, er kann mit alten Wunden konfrontieren, er kann uns unsere Unfähigkeit vor Augen führen, Sex und Präsenz zusammenzubringen. Genau darin liegt aber auch großes Potenzial, wenn wir nicht gleich aufgeben, bereit sind zu lernen und uns gegebenenfalls kompetente Unterstützung organisieren. Slow Sex gilt als bindungsfreundlicher Sex. Während der übliche Erregungs- und Orgasmus-orientierte Sex sich auf Dauer abnutzen kann, fördert Slow Sex Sensibilität, Präsenz und offene Kommunikation. Ich würde daraus jedoch kein Dogma ableiten wollen, wie das von Slow Sex-Fans teilweise geschieht, so als werde alles andere als Slow Sex früher oder später zu einem Liebes- und Beziehungskiller. Im Kern geht es um die Fähigkeit, innezuhalten, und die können wir auch auf ganz andere, sogar gegensätzliche Weise erforschen und kultivieren: zum Beispiel durch Edging.

Edging (von engl. »edge« = »Kante«) bedeutet, kurz vor dem Orgasmus – also auf einem sehr hohen Niveau unmittelbar vor dem Point of no Return – die Erregung zu halten. In höchster Lust innezuhalten und darin zu verweilen, will ebenfalls gelernt sein, es klappt selten auf Anhieb. Doch wer diese Fähigkeit erlangt, kann stundenlang auf orgastischen Wellen der Lust reiten. Gerade der innere Widerstreit der Gefühle – einerseits der unwiderstehliche Drang zu kommen und andererseits der Wille, diesem drängenden Wunsch zu widerstehen und die Lust zu verlängern – macht für viele den besonderen Reiz des Edging aus. Manche bauen es auch in ein Spiel mit Macht und Unterwerfung ein, indem die Entscheidung, wann jemand kommen darf, dem Partner übertragen wird. Auch das kann ein enormer Kick sein, auf allen Ebenen.

Sowohl Slow Sex als auch Edging fordern uns heraus, etwas als erotisch zu besetzen, was normalerweise nicht gerade als lustfördernd gilt: entweder nichts Besonderes für die Erregung zu tun oder nicht zum Höhepunkt kommen zu dürfen. Beides entspricht auch nicht unbedingt der biologischen sexuellen Programmierung. Doch wir Menschen sind eben nicht auf unsere biologische Mitgift festgelegt. Wir tragen die Fähigkeit in uns, sexuelle Lust bis hin zu vermeintlich unwiderstehlicher Geilheit zu genießen, sind aber zugleich frei, unsere Lust selbst zu gestalten und sie in einen ganz anderen Kontext zu stellen als den biologischen. Einen solchen Gestaltungsspielraum gewinnen wir nur dann, wenn wir beiden Seiten Aufmerksamkeit schenken: einerseits der lustvollen Eigendynamik unserer Sexualität und andererseits der Fähigkeit, unserer Begierde Grenzen zu setzen und sie bewusst auszurichten.

Nichtsexuelle Motive im Sex

Sex hat manchmal gar nicht so viel mit sexueller Lust zu tun. Es gibt viele nichtsexuelle Motive, die in unserer Sexualität wirksam werden. Um diese Motive genauer zu identifizieren, habe ich die Dreiecks-Theorie der Liebe weiterentwickelt und unterscheide vor allem drei Dimensionen des Liebeslebens: Sex, Herz und Bindung. Um Sex wirklich zu genießen zu können, ist es hilfreich, diese drei Dimensionen voneinander unterscheiden zu können (was nicht heißt, sie voneinander zu trennen!), um sie dann jeweils unserer Absicht und der Situation entsprechend ansteuern zu können. Bei einem One-Night-Stand wird sich eine andere Dreiecks-Figur ergeben, als wenn wir frisch verliebt sind oder 20 Jahre verheiratet.

Am Thema Sex, Herz und Bindung arbeite ich seit einiger Zeit für ein neues Buch, seine Komplexität sprengt den Rahmen dieses Textes. Aber so viel sei verraten: Je besser jede Dimension in ihrer eigenen Dynamik und Gesetzmäßigkeit verstanden wird, desto mehr entlastet das die Sexualität davon, nichtsexuelle Motive bedienen zu müssen, wie einen Liebesbeweis zu erbringen oder die Beziehung zu bestätigen. Solche Motive sind oft nicht bewusst und können sogar für das Selbstbild bedrohlich sein. Insofern stellen sie ein weiteres Hindernis dar, mitten im Sex innezuhalten, denn jedes Innehalten birgt die »Gefahr« einer Bewusstwerdung – aber eben auch die Chance dazu.

Die zwei Seiten der Bewusstwerdung

Bewusster zu werden, hat zwei Seiten: eine angenehme und eine unangenehme. Einerseits werden wir auf Phänomene aufmerksam, die wir zuvor – wahrscheinlich nicht ohne Grund – aus unserem Bewusstsein verbannt haben. Chronische Verspannungen, Zwanghaftigkeit, Vermeidungsverhalten, Gefühllosigkeit, Egozentrierung … oft fühlt es sich nicht besonders beglückend an, all dies bei uns selbst zu diagnostizieren. Andererseits steigert Selbsterkenntnis die Chance auf Veränderung. Vor allem aber ermöglicht uns größeres Bewusstsein einen wahrhaftigeren Kontakt: zu uns selbst, zu unserem Gegenüber und zu allem, was gerade geschieht bis hin zum Kontakt mit dem Leben selbst. Wahrhaftigkeit ist nicht ohne Risiko, doch sie besitzt das Potenzial, Begegnungen und Beziehungen erfüllender zu gestalten. Je weniger Widerstand wir dem entgegensetzen, was ist, also letztlich der Existenz selbst, desto tiefer können wir von ihr berührt werden. Wir fühlen uns am Puls des Lebens. Ich sehe darin einen Urgrund undogmatischer, lebendiger Spiritualität: Wir sind berührt und beseelt von Kräften, die das Leben hervorgebracht haben, es immer neu hervorbringen und durch uns hindurch wirksam werden. Indem wir uns darauf einlassen, gehen wir über die Begrenzungen unserer Persönlichkeit hinaus. Wie können wir mit diesen Kräften in Fühlung kommen? Wie lernen wir wahrzunehmen, wie sie in uns wirken?

Sexualität gibt uns eine unmittelbare Gelegenheit, elementare Kräfte des Lebens zu erfahren und zum Ausdruck zu bringen. Das Wollen und Begehren, das wir als sexuelle Lust verspüren, ist ein wesentlicher Teil dieser Kräfte. Mit dem zu sein, was ist, steht nicht im Gegensatz zu diesen Urkräften, sondern schließt sie mit ein. Pures Sein ist nämlich nicht statisch, sondern dynamisch. Das einzig Dauerhafte ist Veränderung.

Für unmittelbaren Seinskontakt braucht es allerdings eine innere Fokusverschiebung: Anstatt die Aufmerksamkeit auf die Objekte und Ziele unseres Begehrens zu richten, werden wir uns mehr und mehr des Begehrens selbst gewahr, mitsamt seiner ungestümen Dynamik. Das Ziel des Begehrens oder der Sehnsucht, das Gefühl der Erfüllung, liegt dann nicht mehr außerhalb dessen, was ist oder was wir hier und jetzt wahrnehmen. Erfüllung ist bereits im Begehren angelegt. Diesen Gedanken sollten wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Wir sind in unserer Kultur so sehr daran gewöhnt, auf Ziele hinzuarbeiten und den Kontakt zu uns selbst und dem, was gerade in uns lebendig ist, zu verlieren, dass uns der Gedanke fremd vorkommen mag: Begehren trägt Erfüllung bereits in sich, und zwar ganz besonders im Sex. Wir haben stets die Wahl, Begehren als Mangel zu interpretieren, von dem wir wegkommen wollen. Wir können es aber auch als Ressource betrachten, in die es einzutauchen sich lohnt, der wir uns hingeben, in die wir hineinatmen und uns hineinentspannen, die wir willkommen heißen. Auf diese Weise verbinden wir uns mit ihrer Dynamik und die schmerzhafte Trennung von dem, was ist, und dem, was sein sollte, löst sich langsam auf. Vor diesem Hintergrund werden Praktiken wie Slow Sex oder Edging zu Manifestationen einer inneren Haltung, mit der wir auch mitten im Begehren jederzeit innezuhalten vermögen – von seinem zarten Aufkeimen bis zur wilden Geilheit und überall zwischen diesen beiden Polen.

Innehalten konkret

Jederzeit innehalten können: Wenn das noch abstrakt klingt, führen wir uns am besten vor Augen, wie das in einer sexuellen Begegnung konkret aussehen kann:

  • Unserem Partner in die Augen schauen und im Augenkontakt verweilen
  • Aus heiterem Himmel die Frage stellen: »Was geschieht gerade in dir?«
  • Dem Auf und Ab der Erregung wohlwollende Aufmerksamkeit schenken, sowohl in der Aufwärts- als auch in der Abwärtsbewegung
  • Momenten aufkeimender Unsicherheit Raum geben, anstatt darüber hinwegzugehen
  • An Hürden und Schwellen verweilen wie bei der Kontaktaufnahme, beim Entkleiden, unmittelbar vor einer Berührung, beim Überziehen des Kondoms, zu Beginn einer Penetration, kurz vor dem Point of no Return, mitten darin oder direkt danach
  • Last, but not least am Ende einer sexuellen Begegnung oder beim Abschied

Die Momente, in denen es am schwersten fällt innezuhalten, bergen das größte Potenzial, etwas über unbewusste Muster und eingespielte Automatismen in Erfahrung zu bringen. Das erleichtert es uns, aus festgefahrenen Mustern und Gewohnheiten herauszufinden und Spielräume zu erweitern.

Den Lernprozess lustvoll besetzen

Lernen kann mühsam sein. Es wird aber vor allem dann anstrengend, wenn wir es uns verordnen, wenn wir es zum Pflichtprogramm machen, um beispielsweise unser spirituelles oder tantrisches Ego zufriedenzustellen. Wie schon mehrfach angedeutet, innezuhalten ist nicht immer angenehm, es kann auch Unangenehmes zutage fördern. Warum sollten wir das dann riskieren, und dann noch bei etwas so Schönem wie beim Sex? Ist das eigentlich nicht unnatürlich oder gar lustfeindlich? Ich finde nicht. Wenn wir dem natürlichen Streben nach Lust nicht zuweilen widerstehen können, werden wir unsere Fähigkeit, Lust zu empfinden und zu gestalten, kaum erweitern. Wenn wir immer nur dem folgen, was sich gut anfühlt, werden wir von unserer Lust gefangen genommen. Wenn wir uns andererseits den Genuss unserer Lust weitgehend verweigern – womöglich in der Annahme, dass dies unserer spirituellen Entwicklung zuträglich sei –, kippen wir das Kind mit dem Bade aus.

Die besten Erfahrungen mache ich damit, beide Pole zu verbinden, sie miteinander spielen, manchmal auch ringen zu lassen: den Wunsch nach spontaner Lust und Befriedigung auf der einen Seite wie auch den Wunsch nach erweitertem Spielraum für Gestaltung und Entwicklung auf der anderen Seite. Das Pulsieren zwischen diesen beiden Polen öffnet Räume für neue Erfahrungen. Je mehr es uns gelingt, den Lernprozess selbst lustvoll zu besetzen, desto bereitwilliger werden wir uns immer wieder auf diesen Prozess einlassen. Wir lernen, Unterbrechungen, Enttäuschungen und sogar Schmerz in unser Verständnis von erfüllender Sexualität zu integrieren, anstatt sie zu vermeiden. Wir entdecken, dass diese Integration unsere Lust nicht schmälert, sondern auf vielfältige Weise vertieft und bereichert.

Nichts muss, alles kann?

Es handelt sich um einen intensiven, oft herausfordernden und manchmal auch schambesetzten Prozess, in dem sich mehr oder weniger intensive Lust mit dem gesamten Spektrum unseres Fühlens verbindet. Angst, Wut, Trauer und Freude, sie alle nehmen wir am besten mit ins Boot, wenn wir Erfüllung suchen. Sie helfen uns, im Kontakt mit uns selbst und miteinander zu navigieren. Auch Scham gehört dazu, obwohl sie gerne als Gegenspieler einer erfüllenden Sexualität betrachtet wird. Es kommt jedoch darauf an, wie wir mit Scham umgehen. Gerade wenn Scham sich meldet, hilft es, langsamer zu werden, innezuhalten und ihr Raum zu geben, bis sie wieder abklingt und ihre Botschaft offenbart. Nicht selten lautet diese: Mache etwas langsamer, achte auf deine Grenzen, pass gut auf deine Verletzlichkeit auf, dann brauchst du dich nicht zu verschließen. Auch eine Prise Humor kann dabei helfen, dass wir Sex sogar mit Pleiten, Pech und Pannen genießen können, wie sie eben manchmal vorkommen. Wir verlieren die Angst, dass etwas schiefgehen könnte – einen der größten Lustkiller überhaupt –, und riskieren, uns gewohnten wie ungewohnten Impulsen gegenüber zu öffnen und zu sensibilisieren. Manchmal werden wir den Impulsen folgen, manchmal nicht. Diese Freiheit und die Unmittelbarkeit im Kontakt mit uns selbst, miteinander und mit dem Leben selbst macht Sex erfüllend.

Es gibt Momente, da empfinde ich Ehrfurcht gegenüber einer sexuellen Erfahrung, manchmal auch mittendrin. Ohne jeden Anspruch, heilig sein zu müssen, kann Sex zu etwas Heilendem oder gar Heiligem werden. Nichts muss, alles kann. Das sagt sich so leicht und findet sich als Motto auch in Swingerclubs oder auf Datingportalen. Meinen wir wirklich, wenn wir sagen: Nichts muss? Alles kann? Es klingt gut, aber sehr häufig stellt es eine Überforderung dar. Wie ehrlich können wir uns eingestehen, dass wir etwas unbedingt »müssen« oder dass etwas für uns partout nicht sein darf? Wir sind Menschen, wir sind vielfältig geprägt, wir haben unsere Begrenzungen, wir sind nicht immer heilig und unser Sex ist es auch nicht. Ideale können einen ziemlich entmutigen, vor allem wenn wir sie allzu ernst nehmen. Dann lassen sie auch den Sex allzu anstrengend werden. Also alles so lassen, wie es ist? Nicht unbedingt. Wir können uns auf den Weg machen und einer meiner liebsten Wegweiser heißt: jederzeit innehalten können.

Erfüllende Beziehung durch erfüllende Sexualität

Wenn wir diesem Wegweiser immer wieder folgen, bestehen gute Chancen, dass Sexualität nicht langweilig wird, auch nicht in langjährigen Beziehungen. Sex nutzt sich nicht von allein ab, sondern dann, wenn wir uns nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einlassen und dieser immer kleiner wird. Unbewusstes Vermeidungsverhalten lässt die Spielräume einer Beziehung immer enger werden. Innezuhalten und bewusst den Raum zu öffnen für wahrhaftigen Kontakt, das macht Sexualität zu einer kraftvollen Ressource für erfüllende Beziehungen.

Erfüllende Beziehungen leben natürlich nicht vom Sex allein. Doch bewusst gelebte Sexualität lässt uns reifen und lernen, mit Differenzen wohlwollender, lustvoller, spielerischer und intelligenter umzugehen. Je weniger wir die Gefangenen unserer sexuellen Skripte sind, desto wahrhaftiger können wir uns aufeinander beziehen und uns kreativ und immer wieder überraschend neu aufeinander einlassen. Jederzeit innehalten können offenbart uns den Weg in dieses Potenzial.

Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist Paar- und Sexualtherapeut, Tantralehrer und Buchautor und lebt mit seiner Frau bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 arbeitet er mit Einzelnen und Gruppen zu den Schwerpunkten Liebe, Sexualität und Beziehung. 2010 gründete er seine »Schule des Seins«. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. 

Schule-des-seins.de

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