Moritz Hermann

Moritz Hermann – Spiritualität des Kreuzes

Spiritualität von unten

Spiritualität von unten stellt die Erfahrungen und Subjektivität des Einzelnen in den Mittelpunkt. Im Fokus stehen nicht die Überflieger-Spiritualität oder die lichten Momente, sondern genau das Gegenteil. Die Praxis, die Suche beginnt im Alltag und führt in die eigene innere Dunkelheit. In ungeschönten Worten beschreibt der Autor, was ihm dort begegnete, und dass gerade diese Erfahrungen zu Freiheit und Gewahr-Sein führen. 

Spiritualität von unten

Dieser Artikel will Spiritualität als einen Weg von unten, also von innen und von der eigenen subjektiven Existenzweise im Jetzt ausgehend, darstellen. Egal, wo du gerade in deinem Prozess stehst, die Reise kann hier und jetzt beginnen. Natürlich sind Begriffe wie »Weg« hier als Hilfsmittel zu sehen. Vielleicht kämen Begriffe wie »Realisation, Bewusstwerdung, Waches Sehen, wirklich fühlen« der wahren Natur unseres Seins näher.

»Und eine Wahrheit ist nur dann für mich wirklich hilfreich und transformativ, wenn ich (!) sie in mir als wahr erlebt und erkannt habe.«

Es geht mir in dem Artikel um eine authentische Schilderung eigener Erfahrung. Denn mir wird auf meinem »Weg« klarer, dass letztlich die eigene Erfahrung, der eigene Forschergeist als Erkenntnismittel der Wirklichkeit besser taugt als das Übernehmen »fremder« Erkenntnisprozesse. Diese fremden Erkenntnisse sind dennoch wichtig, um Momente des Erkennens in uns auszulösen und den Prozess der Neugier und des Forschens zu inspirieren. Die innere Forschungsreise kann aber nur ich antreten; niemand kann das für mich tun. Und eine Wahrheit ist nur dann für mich wirklich hilfreich und transformativ, wenn ich (!) sie in mir als wahr erlebt und erkannt habe.

Ich will hier also keine künstlichen euphemistischen Beschreibungen spiritueller Natur von mir geben, sondern meine subjektive Erfahrung. Mögen diese Erfahrung und meine Botschaft dir im besten Fall als Inspiration dienen, deinen eigenen inneren Raum zu erkunden.

»Bei wahrer Spiritualität bin ich mir gewahr, wer ich bin, und ich sehe wach, was in mir und außerhalb meines Selbst vor sich geht.«

Ich definiere wahre Spiritualität als ein Gewahrsein, nicht als Denken. Konzepte über Spiritualität mögen für einen Übergang, einen Anfang hilfreich sein, doch die Gefahr ist, dass wir daran kleben bleiben und uns dadurch beschränken. Es besteht die Gefahr der Anhaftung oder Abneigung. Wahre Spiritualität wird entweder jetzt erlebt oder gar nicht. Sie kann nicht später einmal erlebt werden. Bei wahrer Spiritualität bin ich mir gewahr, wer ich bin, und ich sehe wach, was in mir und außerhalb meines Selbst vor sich geht. Ich erlebe mich dann als getrennt im Sinne der Individuation, aber nicht als völlig getrennt. Denn ich sehe, dass ein Sein in allen Dingen wohnt. Es ist also beides zugleich: Trennung/höchste Individualität und Einheit. Wie wunderschön und humorvoll der große Geist doch alles gemacht hat. Es ist tatsächlich zum Lachen.

Diese wahre erlebte Spiritualität muss zwangsläufig von unten aufsteigen, also von dem Bewusstseinszustand, der gerade meiner ist. Sie kann nicht oder nur schwer von oben kommen durch Konzepte, wie ich oben ausführte. Konzepte und Denken entbehren oft die Kraft, unsere »gefühlte Realität« (!) augenblicklich zu verändern. Langfristig ändert unsere Denke sicher auch unser Erleben, aber warum nicht Spiritualität, also Bewusstsein/Bewusstfühlsein (!) augenblicklich erfahren?

Doch wie geht das?

Indem ich lieben lerne, was ist, vorrangig in mir. Und dies beginnt damit, wirklich zu achten, was in mir ist, wertfrei (wenn Bewertungen oder Verurteilungen da sind, steht es mir frei, auch die Bewertung zu achten und zu akzeptieren). Praktisch bedeutet es, dass ich immer jetzt mit einem Forschergeist und einem Anfängergeist hinschaue (also hinfühle (!)), was in mir ist. »Ah, da ist der Heuschnupfen und die verstopfte Nase. Da sind die Kopfschmerzen. Da ist Angst, da ist Schmerz.« Wie fühlt sich das genau an? Gib dem Verstand die Aufgabe, es ganz genau zu beschreiben. Der Verstand will dem keinen Raum geben, er glaubt, Wichtigeres zu tun zu haben. »Warum sich um die Freiheit kümmern? Ich muss doch den Müll rausbringen und dann Facebook checken.

»Sein, Intuition kann nicht gedacht werden.«

« Ich meine wirklich, in der Hetze des Verstandes die Hauptwurzel dafür zu sehen, dass wir unsere wahre Natur nicht fühlen können. Meist denken wir, dass wir fühlen, aber es ist fühlbar, dass wir Denken. Sein, Intuition kann nicht gedacht werden. Hast du die Erlaubnis, in diesem Moment aus dem Gedankenstrom herauszutreten und DIR Raum zu geben? Wer entscheidet, ob du die Erlaubnis hast oder nicht? Dies gilt es, subjektiv zu erfahren. Es gibt keinen Ersatz für die eigene Erfahrung der Öffnung, die geschieht, wenn ich sie erlaube.

Moritz Hermann

Meiner Erfahrung nach wird die Emotion oder der körperliche Schmerz oder das Gedankenmuster kleiner, heller und weicher, wenn ich es mit liebender Güte und Aufmerksamkeit betrachte. Denn wie alles in der Schöpfung und vor allem wie auch wir wünscht sich nicht auch der Schmerz (stellvertretend für alles Unangenehme) Beachtung und Wertschätzung? Wenn ich den Schmerz ständig mit bösartigen Gedanken abweise, ihn versuche zu zerhauen, wie geht es wohl diesem Schmerz? Wie fühlt sich das an?

Ich muss für meine Wortwahl um Entschuldigung bitten, aber so ist es nun mal. Wenn ich die Scheiße und den Schlamm in mir wirklich umarme und hineingehe, mache ich eine Entdeckung. Die Scheiße ist ganz wundervoll. Sie ist Dünger! Welch schöne Blumen können daraus wachsen? Vielleicht sogar ein Lotus? Und sogar der Giftmüll in mir, die Eifersucht, die maßlose, wilde Gier, der Hass, der Groll, die schamhaften Geheimnisse sind Biomasse für ein schönes, großes, wärmendes, erhellendes Feuer. Also freue dich, wenn du viel Scheiße in dir hast oder es sogar in dir denkt »ich bin scheiße«. Wie wundervoll, welch ein Feuer!

»Wahre Spiritualität kommt also von unten und von innen, aus dem Schlamm und dem Morast der Worte, der Fehler und Begrenzungen.«

Wahre Spiritualität kommt also von unten und von innen, aus dem Schlamm und dem Morast der Worte, der Fehler und Begrenzungen. Sie steigt wie der Lotus aus dem Schlamm auf. Im Morast ist wirklich die Austernperle zu finden, wenn wir bereit sind, hinzuschauen und zu suchen. Schau in diesen Scheißhaufen hinein. Wühle. Schau. Was siehst du? Da ist Gott, nur sehr gut verkleidet.

Da wahre Spiritualität ganzheitlich und alles durchdringend ist, geht es ebenfalls darum, die Dinge in meinem Leben in Ordnung zu bringen bzw. eine neue und gesunde Ordnung anzustreben. Ich beäuge meine Finanzen und gehe die Schritte, die nötig sind, um hier Gesundung, Nüchternheit und Fülle zu etablieren. Ich schaue auf meinen Körper und seine erkrankten Stellen. Ich richte meine gesamte Aufmerksamkeit auch hier auf das Finden von Lösungen. Und dann geschieht Spiritualität, fast nebenbei. Denn wenn ich Dinge in die bzw. meine gute Ordnung bringe, kann das Licht besser durchscheinen. Wenn ich also auch die »unteren Ebenen« (die nicht unten sind) ausbalanciert habe, wenn der Körper, Geist und Seele und das Materielle angeschaut und geachtet werden, wenn die Psyche von Neurosen geklärter ist, der Mensch leichter in Intimität leben kann, kann das Spirituelle natürlich aufsteigen.

Und während wahre Spiritualität/Bewusstsein aufsteigt, steigt es aus anderer Perspektive hinab. Wir öffnen uns aktiv und werden dadurch geöffnet. Auf einmal ist ein Raum der Gnade da, wenn du einfach du selbst bist (du dir also der Konditionierungen jetzt bewusst bist und frei bist, sie nicht auszuleben). Ein ganz gewöhnlicher Mensch, so gewöhnlich, dass du »nicht viel erreicht hast bisher« oder sogar viel verkorkst hast, ist doch immer von der Potenzialität her in der Lage, jetzt aufzuwachen und wach zu sehen, was innen wie außen vor sich geht. Dieses Wach-Sehen ist kein voll entwickeltes Sehen, sondern ein Prozess, der sich vertieft, zumindest meiner Erfahrung nach. Es genügt, innezuhalten, und das Spirituelle steigt als Gnade herab und zeigt sich mitten im Leben, in der Banalität des Alltags, dem kleinen oder großen Schmerz und der Verzweiflung. Das ist immer wieder die große Lösung: Zu sein, zu erkennen, wer ich wirklich bin. Und diese Wahrheit befreit wirklich augenblicklich mit einem dickbäuchigen Buddha-Lachen.

Und wenn du wie ich einer der (scheinbar) hoffnungslosen Sorte bist, ein Angsthase ohnegleichen, dann rufe in der dunklen Nacht deiner Seele: Allah, ALLAH. Buddha-Christus, bitte hilf mir. Dieses Rufen und Sehnen nach Erlösung ist bereits die Antwort. Der da ruft, ist das Gerufene.

Wahre Spiritualität kommt durch die Pforte des Wissens, dass ich nichts weiß. Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt, spricht Jesus. Wer ist hier der Reiche? Es ist der vermeintlich Wissende. Wenn ich zugebe, dass ich die Trauer meines Lebens und die Sehnsucht meines Lebens nicht wegdenken und erdenken kann, nur wer also klein ist, in Demut, kommt durch das Tor. Alle anderen stoßen sich den Kopf an. Es ist Unterwürfigkeit. Der Verstand unterwirft sich dem Herzen, der Verstand dient wieder dem Herzen, nach der bedingungslosen Kapitulation des Verstandes als verschrobener Meister erfolgen die Friedensverhandlung und die Wiedergutmachung, die verstand-herzliche Freundschaft ist wiederhergestellt.

Moritz Hermann

Ich bin wieder verbunden mit dem Wald, dem blauen Himmel, den Wolken, dem Schmetterling. Ich bin die Welle und das Meer. Beides. Individualität, also bewusst erlebte Trennung und bewusst erlebte Einheit.

Wahre Spiritualität ist also auch oder gerade für den, der wirklich im Schlamassel sitzt. Wer hat es nötiger? Jesus sagt, ich komme zu den Kranken, nicht zu den Gesunden. Sei doch zur Abwechslung dankbar dafür, krank und geschunden zu sein. Es wird dich nicht umbringen, wenn du allem Schlamm erlaubst, da zu sein. Er ist ja bereits da. Eher wird er langsam abfließen können, das stehende Gewässer wird wieder in den Hauptfluss des Lebens fließen. Welche Gnade! Wie perfekt! Wie vollkommen die Unvollkommenheit mich gelehrt hat! Endlich bin ich aus der Komfortzone heraus (die wahrlich keine Komfortzone, sondern richtigerweise Schmerzzone heißen sollte). Dann weiß ich auf einmal wieder, dass ich weiß. Ich habe auch das Konzept der Konzeptlosigkeit hinter mir gelassen – und weiß. Einfach und natürlich schön weiß ich. »Ja, was weißt du denn?«, fragt der Verstand. Buddha hielt daraufhin eine Blume hoch, einer seiner Mönche erkannte mit dem Sein und lächelte.

Meiner gelebten Erfahrung nach kann mir dieses nicht-kognitive Wissen sogar im Bereich des Verstandes und der Welt helfen. So habe ich die Erfahrung gemacht, dass die richtigen Antworten z. B. bei Vorstellungsgesprächen, Tests und Ähnlichem aus dem großen Nichts, der Stillheit in mir kommen können – oder auch nicht. Und selbst wenn sie nicht kommen, ist Frieden da.

Um noch einmal auf die Spiritualität von unten zurückzukommen, es ist sehr spirituell, wenn ich das durch die Lieblosigkeit der Welt Gebrochene, z. B. das gekränkte Kind in mir, sehe, befühle und durch das liebevolle Sehen und Befühlen, Bemuttern, Bevatern auf- oder geradegerichtet werde.

Das Krishna-Christus-Licht braucht (Auf-)Gebrochene, damit es durchscheinen kann. Wer aufgebrochen ist durch das Leiden oder wer solche Sehnsucht nach dem Ur-Zustand in sich trägt, wird durch wahre spirituelle Einsicht hier sein in diesem Raum der Liebe. Ob ich mich durch die Kraft des anderen (z. B. Bhakti Yoga) oder durch die eigene Kraft (Zen) dem Ganzen öffne, die wahre Spiritualität beginnt in der Subjektivität.

Es braucht viel Mut und Gnade, viel Demut, um aus dem Traum des Denkens und der Geschäftigkeit aufzuwachen. Demut ist mehr als Mut. Demut bedeutet, unsere wahre Größe und unsere Kleinheit anzuerkennen, unser Licht und den dadurch entstehenden Schatten. Wir geben Kleinheit und Verletzlichkeit zu und lassen uns vom Atem, dem Atman, durch die Erfahrungen des Lebens tragen. Vielleicht sagen wir: »Ja, Gott, hier stehe ich, vollkommen unvollkommen. Ich sehe diese Begrenzungen, wieder und wieder falle ich in das Loch der Selbstbesessenheit hinein. Wenn ich selbst-besessen bin, bin ich SELBST-Vergessen. Hilf du mir! Reich mir die Leiter. Sei mir der Wegweiser, das Warnschild vor der Grube. Sei der Freund, der mich an der Schulter packt und hinauszieht. Sei die Grube.«

Und Gott antwortet: »tat tvam asi. Das bist du.« Und plötzlich wird dir wieder einmal klar, du bist der, der Gott angerufen hat, und du bist der Gerufene. Du bist die Antwort. Es geht hier nicht um Glaubensfragen. Nur Erfahrungswerte werden anerkannt.

Wahre Spiritualität von unten ist ohne Hochmut. Spiritualität von unten findet im normalen Alltag statt. Sie ist für den normalen Mann, für die normale Frau. Ja, ich meine diesen Alltag, der so verrückt erscheint und es auch ist, da er auf Leisten basiert anstatt auf Sein. Doch nur genau hier kann Veränderung stattfinden, wenn ich auf mich höre. Was heißt das? Die Bibel drückt es so aus: »Sei still, wisse, ich bin Gott.«

Im Alltag kann es also so etwas Kleines sein wie das Still-Sein, wie das Atmen. Etwas so Kleines wie der Atem kann mich jetzt und hier führen, in mein Fühlen führen. Keine andere Führung äußerer Autoritäten und Lehrer ist nötig, um ins Fühlen und Sein zu kommen, wobei natürlich auch äußere Führung für eine gewisse Zeit hilfreich sein mag. Der Atem führt mich. Ich kann folgen wie ein Kind, offen für den Moment, unvoreingenommen für meine Gefühle und Empfindungen. So empfahl uns Jesus, wie die Kinder zu werden.

Aber wann folge ich wirklich dem, der ich bin? Wann folge ich dem ICH BIN? Gewöhnlich wenn ich gebrochen bin, kapituliert habe, wenn nichts mehr geht. Oder wenn ich Einsicht in die Geheimnisse des Lebens hatte.

Von unten kommend, damit meine ich auch, von der Bodenständigkeit herkommend, aus der Ruhe und Geborgenheit. Unsere schnelllebige Zeit animiert uns zur Überflieger-Spiritualität, zu Selbstverwirklichung. Letztere kann leicht missverstanden werden und zur Ego-Verwirklichung führen. Dabei verlieren wir leicht die Bodenhaftung. Die Entscheidung zu treffen, wirklich die Entscheidung der Selbstliebe zu üben und nur noch zu tun, was mein Herz befiehlt, und als Resultat daraus in die Praxis (des bewussten Atmens, der Stille oder des Sehens) zu gehen und mich jeden Augenblick meines Lebens davon führen zu lassen, kommt aus der Ruhe, Einfachheit und Gewöhnlichkeit meines Seins heraus und nicht aus pompösen Schwüren, Ideen und Fantasien. Diese Entscheidung, bei mir zu bleiben und immer wieder zu mir zurückzukommen mit meiner Aufmerksamkeit, kam in mein Leben nicht mit Fanfaren, sondern ohne Kommentar, ganz leise. Ja, natürlich gab es die hitzigen Sturm- und Drangmomente, das heißt Leiden, die Dramatik und das heilige Gelöbnis, Gott zu verwirklichen und ihm zu dienen. Doch wie nachhaltig war das? Die wirkliche Entscheidung kam für mich in der Stille. Diese Entscheidung kommt immer wieder wie der Schnee an einem Dezembermorgen oder wie die Sonne bei Tagesanbruch: Still. Lautlos. Einfach. Ohne Tamtam. Einfach so. Und doch so heilig.

Das meine ich mit Spiritualität von unten. Sei wie das Tal des Universums, nicht wie ein Berg, sagt das Tao Te King.

Und dann, wie geht es dann weiter? Wenn ich durch die Praxis der Nicht-Praxis mich erkannt habe, lasse ich die Praxis los und bin. Liebe und tu, was du willst. Das ist das einzige Gesetz, das für diesen Verwirklichten gilt.

Alle Kongresse, Magazine, Bücher und all das soll dir helfen, Einsicht zu nehmen, dass du genug gelitten hast, dass es genug ist und dass du genug bist und nun Freude, Leichtigkeit, Friede und Liebe willst … und bist. Plötzlich gibt es kein unten und kein oben mehr. Kein Weg mehr, der zu gehen wäre. Ich sehe und bin frei. To see is to be free. Atman ist Brahman. Ich bin er, und er ist noch vieles mehr. So ham.

Spiritualität des Kreuzes

Diese Entscheidung (es ist genug, ich will wirklich bei mir sein) birgt die Handlung (der Nicht-Handlung, Aufmerksamkeit auf das Gesunde richten) in sich und damit auch das Aufwachen. Und dieser Erwachensprozess selbst entspringt bereits dem Aufwachen. Das Leiden, das Kreuz bringt mich dazu, aufzuerstehen, wenn ich das Leiden bejahend fühle. Von unten aufzuerstehen, ist eine Entscheidung. Habe ich genug gelitten? Ist es wirklich genug? Will ich wirklich hier sein? Oder weitere Zeit im Wartesaal, im Vorzimmer des Lebens verbringen und sterben, ohne je gelebt zu haben?

Auf der horizontalen Ebene des Kreuzes gibt es angenehm, unangenehm, gut und schlecht, rechts und links, Vergangenheit und Zukunft. Auf der vertikalen Ebene gibt es lichte und dunkle Kräfte, Gut und Böse.

Horizontales und Vertikales schneiden einander – und da ist die Wahrheit meines Seins im Brennpunkt des Jetzt. Da ist das Weder-noch. Da bin ich als einzigartiger Ausdruck des Seins, da ist mein liebendes Herz als höchste Autorität. Da treffe ich den Buddha und erschlage ihn, wie der Zen empfiehlt, und werde dadurch zum wahren Buddha, zum Erwachten.

An diesem Punkt, mitten im Kreuz, vertraue ich nur meiner Erfahrung, nehme bei niemandem Zuflucht außer bei mir selbst. An diesem Punkt brauche ich keinen äußeren Meister mehr, um mir bewusst zu sein, wer ich bin. Ich bin dann dieser Meister und meistere mein Leben. Gegebenenfalls kann ich dann auch Meister für andere sein und sie auf ihren eigenen Meister hinweisen.

An diesem Punkt im Kreuz geht es darum, auf niemanden zu hören und radikal das Eigene zu leben. Dies darf nicht im verblendeten, egoistischen Sinn von Freiheit verstanden werden. Natürlich bin ich dankbar für jeden Lehrer oder Meister, der mir bislang begegnete oder mir noch begegnen wird.

Es gibt aber letztendlich keine religiöse Schablone, nicht mal die Schablone eines anderen (erwachten) Menschen, die mir hier helfen könnte, nicht an diesem Punkt. Die Schablonen haben ihre Berechtigung, sie haben mir gedient. Sie haben mir gedient, um an den Punkt innerhalb des Kreuzes zu kommen, wo keine Schablone mehr anwendbar ist.

Der Buddha empfiehlt die Zufluchtnahme ausschließlich beim eigenen, wahren Selbst. Und wenn ich Buddha und seinen Rat ernst nehme, muss ich sogar diesen Rat missachten und meine eigene Entscheidung treffen, wo ich Zuflucht nehme. Es bleibt mir überlassen, Zuflucht in Drogen, Sex, Nervenkitzel, Geld, Anerkennung, Beziehungen, Arbeit, Religion, Spiritualität, Gurus zu nehmen. Oder aber radikal zu sagen: Danke für deine Hilfe, geliebter Lehrer. Ich wende deine Lektion so gut wie möglich an, indem ich meinen Weg gehe. Einen Weg, den niemand außer mir gehen kann. Ich gehe meinen Weg.

Moritz Hermann

Ich erlebe mich dann als Sein und sehe auch das kleine Ich, die Persönlichkeit. Gut, dass sie da ist. Gut, dass ich da bin. Das Eine durchdringt das Kleine. Ich sehe meinen Verstand mit inneren Augen. Ich sehe die Gefühle und Emotionen mit diesen inneren Augen. Ich sehe mein Geworden-Sein, die Persönlichkeit mit diesen Augen der Weisheit und des Mitgefühls. Ich sehe all dies innerlich und bin das Eine Sein, das sieht, das Individuelle und das Universale.

Der Sufi-Mystiker und Poet des 13. Jahrhunderts Moulana Jalaluddin Rumi erkannte diese Wahrheit für sich und drückte sie in seinen Gedichten aus. Er sprach davon, weder Hindu noch Christ oder Moslem zu sein, sondern dieses Atem atmende menschliche Sein.

Es steht mir in diesem Moment die Tür offen, jeder Atemzug ist eine Gelegenheit, wacher zu werden. Es verlangt allein meine bewusste Entscheidung bzw. wirkt hier wieder das Paradox von mich öffnen und geöffnet werden. Das kleine Ich wird sich dafür nicht entscheiden wollen. Und das ist in Ordnung so. Ich liebe das kleine Ich. Seitdem ich begonnen habe, es/mich zu lieben, erkenne ich mich selbst als Welle und als Meer, als das »große Ich«, und bin frei.

Denn wahrhaftig zu lieben, bedeutet nicht Anhaftung, sondern Anerkennen, Anschauen. Wahre Liebe schaut die wahre Natur der Dinge, ihr Sosein an. Wahre Liebe vergibt, gibt und empfängt. Jimmy K., der Gründer der Selbsthilfegruppe Narcotics Anonymous, sagte etwas Wunderschönes: »Wenn wir erkannt haben, wer wir wirklich sind, ist der Kampf vorbei.«

Wenn wir also am Kreuz hängen, in der inneren Folter des Schmerzes und des Wahnsinns der wirren Gedanken, und erkennen, sehen (!), was diesen Kampf, denn überhaupt die Existenz ermöglicht, dann sind wir frei. Wir sind nach Hause zurückgekehrt. Der verlorene Sohn, die verlorene Tochter ist wieder bei sich zu Hause. Im Kreuz trifft sich die Welle mit dem Meer.

Jesus sagte: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Wir erkennen, wer wir wirklich sind. Wir sind uns bewusst, wer wir wirklich sind. Wie schön. Welche Gnade. Alles hat gedient und ist perfekt arrangiert. 

»Der Buddhismus empfiehlt: Meditiere nicht, sei! Das ist die wahre Meditation. Das Tun, im Nicht-Tun. Und nichts bleibt ungetan.«

Ich folge im Kreuz niemandem mehr. Nur noch dem Ruf meiner Seele, meines Seins, dem Selbst.

Das ist die wahre Nachfolge, zu der uns Christus beruft. Denn es geht um aufdecken, entdecken und heilen, nicht um Nachahmung. Nachahmung ist eine große Hilfe für den Start, ein heiliges Werkzeug, eine Brücke, eine sehr hilfreiche Krücke. Wenn ich aber wieder leichtfüßig gehen kann, lasse ich so schnell wie möglich alle Krücken hinter mir.

Der Buddhismus empfiehlt: Meditiere nicht, sei! Das ist die wahre Meditation. Das Tun, im Nicht-Tun. Und nichts bleibt ungetan.

Moritz Hermann

Zum Autor

Moritz Herrmann wurde 1985 geboren. Nach einer Zeit der intensiven Selbsterfahrung und der Tiefpunkte begann er 2009 einen ganz neuen Lebensweg, begleitet durch Selbsthilfe und innere Arbeit. Krankenpflegehelfer, Bachelor Soziale Arbeit, heute Tätigkeit in der Hospizarbeit als Koordinator. Heilpraktiker für Psychotherapie in Ausbildung. 

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