Zur Rehabilitierung einer diskreditierten Wirklichkeit
Eine der wichtigsten Leitdifferenzen unserer Kultur ist Innen-Außen. Der Weg der Kultur war bisher vor allem ein Weg in die Innerlichkeit. Dies kommt in vielen Werken der Philosophie und Religion von der Frühzeit bis heute zum Ausdruck. Immer war das Innere das Wesentliche. Der Autor sieht in unserer Zeit nun die Möglichkeit, das Außen zu rehabilitieren und die Innenwelt des Subjekts wieder zu öffnen. Für das Fühlen und die Sensitivität des Körpers brauchen wir das Außen. So werden wir zu vollständigeren Wesen.
Wenn 63 Millionen Menschen 2018 in Deutschland nach einer Studie von ARD und ZDF regelmäßig online gingen, könnte sich die Frage stellen, wohin gehen sie eigentlich genau? Von welchem Ort sind sie gestartet und wo könnten sie angekommen sein?
54 Millionen Menschen nutzten das Internet im Jahr 2018 täglich, in welcher Absicht?
Statistisch bedeutet dies eine durchschnittliche Nutzung der Medien von ca. neun Stunden pro Tag. Diese Befunde, die auch Kinder und Jugendliche betreffen, besorgen nicht zuletzt auch Marlene Mortler, die Drogenbeauftragte der Bundesrepublik, und die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, in denen sich die Betroffenen gelegentlich als Patienten wiederfinden.
Dieser Informationsdruck aus dem Außen muss in Deutschland zur Frage führen, was das für den einstigen deutschen Kultbegriff »Innerlichkeit« bedeutet? Friedrich Gottlieb Klopstock beschrieb die Innerlichkeit in seinen Elegien (1771) und in den Gesängen des »Messias«. Die Erfindung der Innerlichkeit wurde so für die klassische deutsche Dichtung zu einem äußerst weittragenden Begriff.
»Diese Innerlichkeit wurde als ein Reflexraum gedacht, der Vernünftiges wie Emotionales zu einer Versicherung des Intimen zusammenführen sollte.«
Die Innerlichkeit ist hier als ein ganz individueller Raum reinsten Empfindens und Selbstfindung gemeint, der gegen ein rohes Außen abgegrenzt wird. Schon der alte Kirchenvater Augustinus hatte in seiner Schrift »De vera religione« formuliert: »Gehe nicht nach draußen, kehre in dich selbst ein; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.« Damit war eine Abgrenzung gegen das fordernde und drängende Außen vorgestellt. Ein Kampfbegriff, wie sich später herausstellen sollte, die Wahrheit kann entgegen allen fremden Bekehrungsversuchen scheinbar nur innerlich begründet sein. Diese Innerlichkeit wurde als ein Reflexraum gedacht, der Vernünftiges wie Emotionales zu einer Versicherung des Intimen zusammenführen sollte. Die weitere gesellschaftliche Entwicklung wird zeigen, wie strittig und wechselnd der Grenzstreifen zwischen dem in der Aufklärung erfundenen selbst denkenden Individuum und dem zivilisatorischen Außen werden wird. Die meisten alten demokratischen Verfassungen setzen diese Art des aufgeklärten Individuums, den Bürger als Dialogpartner und mündigen Leser ihrer Verfassung voraus.
Georg Lukács legte 1916 in einem Beitrag für die »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« den Begriff der Innerlichkeit erneut auf, in dem er ihn in seine Theorie des Romans aufnahm. In diesem elitären Anliegen ist er der Philosophie der Natur von Friedrich Schelling nahe, vorgetragen in seiner Antrittsvorlesung 1798 in Jena.
Innerlichkeit wird für Lukács zum Raum, in den sich ein durch die fremd gewordene Außenwelt verstörtes Subjekt zurückzieht. Nur der Dichter allein kann in seinem Roman den Eigenwert der Innerlichkeit wieder in sein Recht setzen, indem er die verlorene Totalität als regulative Idee im Sinne Kants gebraucht. Zu den Bewunderern dieses Textes, später von Lukács selbst als eine von tiefem Pessimismus erfüllte Schrift gekennzeichnet, gehörten Thomas Mann und Max Weber. Theodor W. Adorno sah in ihr einen Maßstab für die eigene philosophische Ästhetik.

Die feste Burg der Innerlichkeit sollte in den folgenden gesellschaftlichen Entwicklungen des weiteren 20. Jahrhunderts einige Stürme aus dem steigenden Druck des Außen erleben und versuchen durchzustehen.
Als die juristische Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg die gefundenen Schuldigen anklagte, zeigte sich in diesem gefundenen Recht, wie die Grenzen zwischen innen und außen, einem rechtlich verantwortlichen oder rein abhängigen Individuum verliefen. Hannah Arendt reiste 1961 als Berichterstatterin nach Jerusalem zum Gerichtsverfahren gegen den Obersturmbannführer Adolf Eichmann, einem Hauptverantwortlichen in Sachen Transporte von Juden in die Konzentrationslager. Sie musste paradoxerweise immer wieder, während der Lektüre der fast 4000 Seiten umfassenden Verhörprotokolle von Adolf Eichmann, eigenes unwillkürliches Lachen erleben, ohne es ersticken zu können. Diese unfreiwillige Komik resultierte aus dem, was sie später die Banalität des Bösen nannte. Die Innerlichkeit, die bei Eichmann zu finden war, entbehrte vollständig den von Friedrich Gottlieb Klopstock vorgestellten Grundlagen. Eine Restorganisation des Inneren, ein Gewissen schien so nicht auffindbar. Es gab keine fremd gewordene Außenwelt mehr, sondern ihre Durchgängigkeit für das Innen war die banale Antwort. Es fehlte vollkommen die innere Frage, ob die von ihm minutiös geplanten Transporte nach Auschwitz eigene Schuld bedeuten könnten. Eichmann entzog sich vollkommen einem innerlich nach Verantwortung suchenden Selbstgespräch. Diese für die amerikanische Zeitschrift »der New Yorker« geschriebene Reportage, die auch eine Verantwortung der jüdischen Zuständigen vor Ort nicht ausschloss, brachte ihr wenig Verständnis unter ihren Lesern ein. Der heute legendäre Begriff des banalen Bösen trug ihr nur den Vorwurf der anderen ein, sie habe versucht, Eichmann zu entlasten und dann sogar noch die Juden selbst zu belasten. Diese weitverbreitete Reaktion missverstand vollkommen die zur Diskussion gestellte Kontroverse zwischen der Innerlichkeit und dem Außen.
Wenige Jahre später, 1964, veröffentlichte Herbert Marcuse seine Schrift »Der eindimensionale Mensch«. Darin konstatiert er in eindringlicher Form den Einbruch des Außen in das Innen. Man könne nicht mehr von einer Bestimmung des Bewusstseins durch das Sein sprechen. Das Bewusstsein werde vom gesellschaftlichen System absorbiert, die Dimensionen innerlicher eigener, authentischer Reflexion gingen verloren. Konflikte zwischen dem Innen und dem Außen würden assimiliert durch fortschreitenden Konsum, der nur noch materielle Bedürfnisse befriedige. Das Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimese: eine unmittelbare Identifizierung des Einzelnen mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als Ganzem. Wo Lukács noch den Schriftsteller im Widerstand sah, erkennt Marcuse nur noch wenige Randgruppen, Außenseiter, Unterprivilegierte und Intellektuelle fähig zu subversivem Bewusstsein. Dem so seiner eigentlichen Dimension entkernten Menschen gelingt eventuell noch der Rückzug in die Randgruppen selber. Das von Marcuse geschilderte Sein erscheint hier als übermächtiger Einfluss.

Die ursprüngliche Suche nach der Wahrheit im Innern geschieht für Marcuse nur noch unter einem dominanten Reflex des Außen. Das Außen wird so zu einer großen Macht, deren Eindringen Michel Foucault in den 70er-Jahren einer genaueren Analyse unterzog, um deren Mikrophysik sichtbar werden zu lassen. Der moderne Staat ist für ihn das Ergebnis einer komplexen Verbindung »politischer« und »pastoraler« Machttechniken. Mit Pastoralmacht bezeichnet Foucault eine christlich-religiöse Konzeption der Beziehung zwischen Hirt und Herde, in deren Mittelpunkt die »Regierung der Seelen« – das heißt die Führung der Individuen in Hinblick auf ein jenseitiges Heil – steht. Entgegen der antiken griechischen und römischen Führungskonzeption liegt die Eigenart des christlichen Pastorats in der Entwicklung von Vorgehensweisen, Reflexions- und Führungstechniken, die die Kenntnis der »inneren Wahrheit« der Individuen und ihre Formierung zu Subjekten sicherstellen sollen. Neben der Institutionalisierung der Beichte etabliert das Christentum die Instanz des reinen Gehorsams. Anders als bei den Griechen und Römern fungiert Gehorsam hier nicht länger als ein Instrument, um bestimmte Tugenden zu erlangen, sondern wird selbst zu einer Tugend: Man gehorcht, um in den Zustand des Gehorchens zu gelangen. Dafür prägt Foucault den neuen Begriff der Gouvernementalität, der Regieren (»gouverner«) und Denkweise (»mentalité«) semantisch koppelt. Die so entwickelte Beschreibung der machtvollen Übernahme des Inneren durch das Außen könnte auf der anderen Seite ein bedrückendes und ohnmächtiges Empfinden hervorrufen. In den letzten Vorlesungen 1984 spricht Foucault über den »Mut zur Wahrheit« als ein unvermeidbares Hervorbrechen unveränderbarer Innerlichkeit, einem Willen zur Innerlichkeit. Diese unbeherrschbare Innerlichkeit bezieht er einerseits aus dem antiken Griechenland, aber immer wieder mit einem gegenwärtigen Blick.
»Das Risiko, auszusprechen, was sogar nur unter dem Einsatz des Lebens gesagt werden muss, begründet eine Philosophie für das Leben des bisher Unerhörten.«
Das Risiko, auszusprechen, was sogar nur unter dem Einsatz des Lebens gesagt werden muss, begründet eine Philosophie für das Leben des bisher Unerhörten. Und er erläutert an zahlreichen Beispielen die griechische Tradition der Parrhesia, des mutigen »Wahr-Sprechens«. Parrhesia wird zur verbalen Aktivität, in der ein Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit aufkommen lässt, weil er das Aussprechen der Wahrheit als Pflicht erkennt. In Parrhesia verwendet der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen.
Der Diskurs um die Innerlichkeit zum Außen legte schon aus der Spätantike stammend das Denken als Vermittlung des Außen und Innen zugrunde. Wenn Klopstock elegisch von der Innerlichkeit spricht, hat er das reine Denken insgeheim verlassen, ohne es zu benennen. Er möchte dem meist unerhörten Empfinden Ausdruck und Gestalt geben. Das Denken geht nach innen, es möchte energetisch erfüllt sein von diesem Augenblick.
Ludwig Feuerbach ist ein weiterer möglicher Dialogpartner in diesem fortdauernden Diskurs um die Innerlichkeit des Außen und die Äußerlichkeit des Innen. In der 1843 veröffentlichten Schrift »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« heißt es: Die neue Philosophie sei nichts anderes, »als das zum Bewußtsein erhobene Wesen der Empfindung – sie bejaht nur in und mit der Vernunft, was jeder Mensch – der wirklicher Mensch – im Herzen bekennt. Sie ist das zu Verstand gebrachte Herz.« (§ 34)
Die Innerlichkeit als ein Ort anderer Authentizität nimmt wohl immer Bezug zum Körper selbst auf. Der Körper aber steht in einer anderen Bezüglichkeit zu seiner zeitlichen Existenz, wo dem Denken immer wieder Vergangenes und möglich Zukünftiges meist sorgenvoll ins Haus steht, scheint es dem Körper immer nur um Homöostase zu gehen, dem augenblicklichen Gleichgewicht.
Der Körper selbst enthält sich des Unabsehbaren, er ist auf Balance gerichtet. Der Körper lässt sich im Gegensatz zum reinen Denken nicht in andere Zeiten verleiten, er beharrt auf das aktuell Fühlbare und das jetzt Existenzielle.
»Emergenz bedeutet ein zeitbegrenztes Aufscheinen eines sensuellen Inneseins.«
Gleichwohl ist das Fühlbare und innerlich Existenzielle an das Außen und daraus abgeleitete Vernünftige gekoppelt. Diese andere intermittierende Erfahrung findet sich in dem Phänomen der »Emergenz«. Emergenz bedeutet ein zeitbegrenztes Aufscheinen eines sensuellen Inneseins. In diesem Moment kann die eigene Lebendigkeit authentisch erlebt werden, der Augenblick wird zu etwas Ausgedehntem, aber doch Vergehendem. Emergenz ist nicht Achtsamkeit. Achtsamkeit zielt zu stark auf eine geistige Ebene, sie möchte zu einem körperfernen Beobachten abstrahieren. Emergenz dagegen ist ein ganzheitlich Aufscheinendes, sie gleicht, um es feuerbachianisch zu sagen, dem momentanen zum Verstehen gebrachten Herz.
»Simón Bolívar habe Alexander von Humboldt den wahren Entdecker Amerikas genannt, der nicht nur die politische Natur der neuen Welt sehen konnte, sondern die Natur als lebendige Ganzheit.«
Simón Bolívar habe Alexander von Humboldt den wahren Entdecker Amerikas genannt, der nicht nur die politische Natur der neuen Welt sehen konnte, sondern die Natur als lebendige Ganzheit. Diese Aufklärung durch Humboldt habe für Amerika mehr Gutes bewirkt als alle Konquistadoren zusammen.
Die Entdeckung der neuen Natur des Außen steht jetzt als Schwelle des anderen an, in der die Außenwelt so zu entwickeln wäre, als ob sie zu der Innerlichkeit des Außen werden würde. Diese Innerlichkeit geht aus dem hermetischen Raum heraus, in dem Außenwelt fremd geworden war und nur ein verstörtes und entkerntes Subjekt zurückließ. Man geht nach außen, um in den Zustand der Innerlichkeit des Außen zu gelangen. Das Außen könnte so zu einer Art Feng-Shui werden, indem es alle Merkmale in sich tragen kann, die dem Innerlichen bislang so vorkamen, als ob sie nur in der reinen Abgeschiedenheit zu entdecken wären.
Im Surfen in den sozialen Medien ist das existenziell Aufdringliche und doch gleich Vergehende die große Phänomenologie. Es verlangt nach dem gleichen mehr. Es muss zunächst als ein virtueller Körper verstanden werden, der Innerlichkeit virtuell kopiert und zugleich das Außen auflöst. Man geht ins Außen, um in den Zustand des neuen Innerlichen zu gelangen und das Außen so zu einer Mimesis werden zu lassen. Es geht nicht um Künstlichkeit oder den Romancier oder um die Scheinwelt. In Facebook, Instagram, Twitter, WhatsApp steht die Entdeckung und Gestaltung eines eingebetteten Schatzes an, dessen Hebung das Außen zu dem Innerlichen machen kann, indem wir so etwas wie emergenter Heimat innewerden als ein jetzt Außen menschlicher Natur.

Zum Autor
Klaus von Ploetz, Studium der Medizin, Philosophie, Politik, Geschichte und Kunst in Tübingen (Schüler von Ernst Bloch), Aachen, Heidelberg und Berlin. Facharztausbildung in Neurologie und Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie psychotherapeutischer Medizin. Psychotherapeutische Ausbildung in Transaktionsanalyse, systemischer Familientherapie und Psychoanalyse. Mitarbeit in der Freeclinic Heidelberg, Arzt bei den Flying Doctors of South-Australia. Seit September 2017 Chefarzt der Psychosomatischen Gezeitenhaus Klinik Schloss Wendgräben.
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