Lebendige Organisation und die Suche nach dem Eigenen, Teil 2
Im zweiten Teil des Interviews gibt Lucas Buchholz einen Einblick in die lebendige Organisation des Volkes der Kogi, in der sowohl das Wissen um die menschliche Natur als auch die Förderung der friedlichen Kommunikation zu einem harmonischen Zusammenleben beitragen. Des Weiteren wird die Verbindung zwischen dem Menschen und bestimmten Orten thematisiert – eine Vorstellung, die vielen in der urbanen Moderne mittlerweile fremd ist, doch von den Kogi als Voraussetzung für eine gesunde Beziehung zur Erde angesehen wird.
Tattva Viveka: Die Kogi verstehen sich selbst als Hüter der Erde. Können wir alle Hüter der Erde sein?
Lucas Buchholz: Die Kogi sind ein ordnungsliebendes Volk. Ich spreche manchmal scherzhaft darüber, dass sie spirituelle Bürokraten sind, weil es ihnen sehr wichtig ist, die Dinge zu ordnen, zu kategorisieren und klarzustellen.
Wenn es darum geht, das Gleichgewicht zu halten oder wiederherzustellen, müssen wir zuerst die einzelnen Teile dessen kennen, was sich im Gleichgewicht befinden soll, so die Kogi. Demnach achten sie sehr auf Zuständigkeiten. Sie sagen beispielsweise, dass nur sie, das Volk der Kogi, für die Sierra Nevada de Santa Marta zuständig seien. Gleichzeitig bestehen in jedem Flusstal andere Zuständigkeiten. Bestimmte Weise sind nur für bestimmte heilige Orte zuständig. Für sie wäre es fatal, wenn sie anfangen würden, zueinander zu sagen: Ich arbeite jetzt woanders oder ich gehe jetzt dahin oder dorthin.

Ein gutes Beispiel dafür ist ein Ökosystem: Jede Art hat eine spezifische Funktion inne und trägt zu diesem lebendigen Ökosystem bei. Wenn der Affe aber jetzt lieber im Fluss schwimmen würde, würden die Dinge aus dem Ruder laufen. Genauso sehen die Kogi das auch für den Menschen. Für sie kommen uns allen konkrete Aufgaben zu, und das gilt auf verschiedenen Ebenen, beginnend mit der des Individuums. Es wird gefragt, was für ein Individuum dieses sei und wo es hingehöre im Sinne von seinem Platz im Leben. Sie sagen, dass es einen Grund gebe, wieso man an einem bestimmten Ort geboren wird und die Vorfahren aus bestimmten Regionen stammen. Anders als wir es tun gehen sie von einer engen Verbindung zwischen Mensch und Land aus. Wir können oder sollten nicht irgendwo leben, sondern es gibt bestimmte Orte, zu denen wir gehören und an die wir eine Anbindung haben. Wir können woanders hingehen, aber das Land hat dann nichts mehr mit uns zu tun. Nach Ansicht der Kogi ist dies die Grundlage dafür, dass die Umweltzerstörung, wie wir sie momentan erleben, möglich ist.
»Sie sagen, dass jeder die Aufgabe habe, einen bestimmten Ort zu hüten.«
Die Menschen haben sich von einem bestimmten Land entkoppelt. Um zu der Frage zurückzukommen: Sie sagen, dass jeder die Aufgabe habe, einen bestimmten Ort zu hüten. Doch keiner habe die Aufgabe, die ganze Erde oder den ganzen Kontinent zu hüten. Die Idee einer globalen Lösung ist ihnen völlig fremd, und sie halten sie für absurd. Wir können uns nur um Dinge kümmern, zu denen wir einen Bezug haben und in Beziehung treten können.
»Menschen schützen das, was sie lieben.«
Sie sagen ganz platt: »Menschen schützen das, was sie lieben.« Das kennt jeder aus seiner eigenen Familie, denn wenn dieser etwas passieren würde, würden die meisten Menschen sie schützen. Das Gleiche trifft auf das Land zu. Wenn wir lesen, dass sich in Australien oder im Amazonasgebiet Feuer ausbreiten, können wir das zwar mental und kognitiv wahrnehmen, aber es bedeutet de facto nichts für unser Leben bzw. nicht direkt. Es hat zwar eine Bedeutung, aber wir spüren es nicht. Es ist nicht sichtbar, fühlbar und erlebbar.
TV: Es berührt nicht unseren innersten Kern. Das ist etwas anderes als unsere Familie oder unser unmittelbares Umfeld, zu denen wir eine liebevolle Beziehung pflegen.
Buchholz: Es ist wichtig, zu Orten zu gehen, zu denen wir eine konkrete Beziehung haben, ob das Waldstück, der Fluss oder der Bach nebenan ist. Ein Ort, von dem wir sagen, dass wir ihn wirklich kennen und eine Beziehung zu ihm haben.
Dort kennen wir vielleicht sogar einen bestimmten Baum, zu dem wir immer gehen. Wenn auf einmal Menschen kommen und beispielsweise sagen würden: »Wir hacken hier das Holz ab«, entstünde eine völlig andere Motivation, das zu verhindern.
Wir stehen für diesen Ort ein und schützen ihn. Wir können uns wieder bewusst machen, dass Orte eine Bedeutung für unser Leben haben können und dass man sich für eine bestimmte Tätigkeit an einen bestimmten Ort begeben kann. Wenn man beispielsweise in einer Beziehung ist, die kriselt, und ein Konfliktgespräch mit dem Partner oder der Partnerin führen muss, kann man sich fragen, welcher Ort passend sei, um dieses Gespräch zu führen. Führen wir es in unserem Schlafzimmer, im Wohnzimmer oder gibt es einen konkreten Ort, zu dem wir bewusst hingehen, um über dieses Thema zu sprechen.
»Natürlich sind wir alle Hüter der Erde, aber wir sind nicht alle für alles zuständig.«
Das ist etwas, was die Kogi häufig tun. Dies können wir für uns mitnehmen und uns fragen, welcher Ort geeignet sei, um bestimmte Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Wo treffe ich mich am besten mit meinem Finanzberater? Wo ist ein guter Ort, um über Geld zu sprechen? Muss ich mich zwangsläufig mit ihm im Besprechungsraum treffen, oder gehen wir vielleicht einmal miteinander spazieren? Kurzum: Natürlich sind wir alle Hüter der Erde, aber wir sind nicht alle für alles zuständig.
TV: Du erzähltest, dass einige Kogi in der Vergangenheit bereits Europa besucht haben. Wie sehen sie die Industrienationen? Welches Bild haben sie von der Gesellschaft, in der wir leben?
Buchholz: Die Kogi halten uns, wie anfangs erwähnt, für die jüngeren Brüder und Schwestern. Sie blicken generell mit einer Art wohlwollender Gutmütigkeit auf uns. Zwei Erklärungen für unser Verhalten führen sie an: Die eine ist, dass wir Freude an Zerstörung haben, die zweite, dass wir akut suizidal sind. Das sind ihre einzigen Überlegungen, die ihnen erklären, wieso wir so handeln, wie wir eben handeln.
TV: Das ist eine harte Diagnose.
Buchholz: Ja, das sind sehr harte Diagnosen, und dementsprechend wird man auch behandelt, wenn man zu den Kogi geht: wie der letzte Depp. Sie lassen einen spüren, was sie von einem und seinem Verhalten halten. Da machen sie keine individuellen Unterschiede, sondern sehen einen selbst als Repräsentanten der globalen Moderne. Man kommt nicht unbedingt gut dabei weg. Es braucht Arbeit, bis sie einen kennenlernen und merken, dass man es nicht unbedingt gut findet, wenn mit einem Bulldozer der Regenwald plattgemacht wird. Aber das muss man erst mal klarstellen. Denn sie sagen: »Wenn ihr es nicht gut findet, warum tut ihr es dann?« Diese Art von Gespaltenheit und Getrenntheit, die wir haben, kennen sie nicht. Wenn ich Baggerfahrer in einem Kohletagebau wäre, würde ich nicht unbedingt gutheißen, was ich da tue, aber ich tue es, weil ich Geld verdienen muss. Die Kogi können sich das nicht vorstellen. Diese Art von Unauthentizität oder nicht nach den eigenen Wertevorstellungen zu handeln ist etwas, was sie nicht kennen. Zudem ist ihnen schleierhaft, wieso man dies tun sollte. Es braucht Zeit, bis man ihnen das erklärt hat. So ganz verstehen sie es immer noch nicht, aber irgendwann akzeptieren sie es halbwegs.
TV: In ihren Augen bist du die Gesellschaft, aus der du stammst. Du bist ein Repräsentant der Industrienationen, wenn du bei ihnen bist.
Buchholz: Ja, so sehen sie einen, aber man muss ihnen erklären, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass es Unterschiede gibt. Das finden sie zunächst dubios, weil sie es nicht kennen und ihre Art, Entscheidungen zu treffen, eine ganz andere ist.
»Die Kogi sind keine Demokratie, es geht also nicht um die Mehrheit. Sie haben auch kein Oberhaupt, sie sind keine Hierarchie, sondern eine Konsensgesellschaft.«
Die Kogi sind keine Demokratie, es geht also nicht um die Mehrheit. Sie haben auch kein Oberhaupt, sie sind keine Hierarchie, sondern eine Konsensgesellschaft. Sie treffen Entscheidungen so, dass sie sich alle in Einklang bewegen. Das klingt in unseren Ohren erstmal ganz süß, aber wenn man bedenkt, dass dies 27.000 Menschen betrifft, ist es nicht mehr so süß. Wenn wir zum Beispiel ein Unternehmen mit 50 Mitarbeitern nehmen – wie schwierig oder einfach ist es dort, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen? Oder noch kleiner gefasst, eine Familie mit fünf Mitgliedern. Es in diesem Umfeld zu schaffen, eine Konsensentscheidung zu treffen, zeigt uns, dass die Art und Weise, wie die Kogi ihre Kultur entwickelt haben und wie sie in der Lage sind, mit so vielen verschiedenen Menschen Konsensentscheidungen zu treffen, einen sehr hohen Grad an gesellschaftlicher Entwicklung oder an Zivilisation beinhaltet. Um noch einmal zu der Frage zurückzukommen: Ich fragte die in Europa gewesenen Kogi, was das Absurdeste für sie gewesen sei, das ihnen bei uns begegnete. Sie besprachen sich kurz und kamen zu dem Schluss, dass es die Tunnel seien. Die Idee, ein Loch durch einen Berg zu graben, um schneller ans Ziel zu kommen, ist ihnen völlig schleierhaft. Sie verstanden nicht, wieso man das tun solle. Ich fragte sie: »Warum denn? Es macht doch Sinn. Du brauchst weniger Zeit, du kommst schneller an.« Sie antworteten mir: »Wieso möchtet ihr denn schneller ankommen? Was habt ihr davon? Wozu schneller?« Das konnte ich ihnen nicht beantworten, denn es gibt keinen triftigen Grund dafür.

Noch eine Anmerkung zu ihrer sozialen Organisation – etwas, was wir von den Kogi lernen können: Die Kogi sind vorausschauend und weise in Bezug auf viele Dinge, die das Menschsein ausmachen. Sie wissen, wie man damit umgeht. Ein Beispiel sind die Emotionen. Die Kogi wissen, dass menschliche Emotionen potenziell Gefahren bergen, wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten. Sie sind in Hinblick darauf ein extrem präventives Volk. So haben sie, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Institution oder ein Ritual, in dem sie sich alle zwei Wochen treffen, um gemeinsam – Männer und Frauen getrennt (das ist ihnen auch sehr wichtig) – über alles Gute und alles Schlechte, was sie über andere in den vergangenen zwei Wochen gedacht oder gesagt haben, zu sprechen und dies öffentlich zu machen. Das wird von den Mamos und den Sakas, den Weisen, moderiert, die wiederum mit diesen Gedanken arbeiten. Sie gehen dem nach, wo diese Gedanken entstanden sind und wie sie ausgeglichen werden können.

Die Kogi identifizieren und lösen Konflikte bereits in einem Stadium, lange bevor diese zu einem ernsthaften Problem geworden sind und lange bevor die Menschen anfangen, zu handeln oder jemandem etwas anzutun. Sie haben das Bewusstsein, dass die Dinge nicht unter den Teppich gekehrt werden können. Mit Blick auf Arbeitsplätze in der westlichen Welt heißt es oft, dass man das Private bitte zu Hause lassen solle nach dem Motto: Das hat hier keinen Ort. Doch es braucht vielmehr die Einsicht, dass diese Dinge ihren Raum benötigen und man souverän mit ihnen umgehen kann. Denn diese Emotionen und Gedanken entstehen nun mal – und können dennoch ausgeglichen werden. Das finde ich sehr schön, und es ist für mich ein Zeichen von hoher Entwicklung, die die Kogi ausmacht. Wenn wir nur ein solch kleines Detail integrieren und uns – zumindest in der Familie oder am Arbeitsplatz – den Raum nehmen würden, ehrlich über die guten und schlechten Dinge zu sprechen, die man über andere gedacht oder gesagt hat – was würde das bedeuten? Was würde es im sozialen Zusammenhalt verändern und in der Art und Weise, wie wir in Beziehung miteinander treten?
TV: Das stimmt, obwohl es wiederum auch etwas sehr Herausforderndes ist. Ich glaube, in unserer Gesellschaft ist es häufig gar nicht erwünscht, dass die Menschen so ehrlich zueinander sind. Ehrlichkeit sollte etwas Positives sein – aber wenn es darum geht, seine innersten Gefühle und Gedanken zu äußern, die dem anderen gegenüber nicht wohlwollend sind, sollte man sie am besten für sich behalten.
Buchholz: Genau, und das ist eben das Interessante. Die Kogi unterscheiden nicht. Sie befolgen das Prinzip der Annahme. Es gehe nicht darum, nur positive Gedanken zu haben, sondern dass das Positive und das Negative im Ausgleich sein müssen. Wenn es nur Positives gäbe, gäbe es keinerlei Entwicklung. Das Resultat wäre absoluter Stillstand. Es braucht das Negative, aber im Gleichgewicht, in dem Maße, wie es gut ist und wir damit umgehen können. Das ist etwas, was Lebendigkeit letztendlich ausmacht. Wenn wir diese Dinge nicht besprechen, werden sie größer, stärker und mächtiger über uns. Sie üben dann viel mehr Kraft auf uns aus, als sie es tun würden, wenn wir sie identifiziert hätten. Wir sollten uns diesen Raum nehmen, um zu verstehen, dass da ein Kraftpotenzial ist, das stärkt und uns helfen kann. Die Kogi schaffen hierfür einen neutralen Raum, in dem so etwas stattfinden kann, ohne dass sich der andere angegriffen fühlt. Es wird auf eine Art und Weise moderiert, die friedlich damit umgeht. Für mich ist das ein Zeichen von unglaublich hoher Zivilisation und hohem Entwicklungsgrad.
TV: Könntest du die Botschaft der Kogi für uns zusammenfassen? Du sagtest, dass sie dich in dem Wissen eingeladen haben, dass die Menschen in den Industrienationen durch Bücher und Filme lernen. Welche Botschaft haben sie dir vermittelt, was sollst du an die Welt weiterleiten?
Buchholz: Die Botschaft lässt sich in mehrere Teile untergliedern. Zuvor erwähne ich noch einen Aspekt, der den Kogi wichtig ist. Sie nutzen einen Begriff, »jegonezi«, der vielfältig übersetzt werden kann. Ich beziehe mich auf eine Übersetzung, die sie mir als die zentrale beschrieben: »Jegonezi« bedeutet »der eine Gedanke«. »Der eine Gedanke« ist das, was den Kern des Lebens, aller Lebendigkeit, allen Lebens auf diesem Planeten ausmacht. Alles Leben funktioniert nach dieser grundlegenden Lebendigkeit, nach diesem grundlegenden Prinzip. Eine ihrer Kernbotschaften lautet, dass wir Menschen uns mit unserem individuellen Handeln, mit der Art, wie wir unsere Gesellschaft, unsere Technologien und unsere Entscheidungen gestalten, in dieses grundlegende Lebendige wieder einfügen müssen und sollen. Anders geht es nicht. Wir müssen unsere Gedanken wieder in die Natürlichkeit einfügen. Dies ist den Kogi übrigens sehr wichtig, denn sie sagen, dass es mit den Gedanken beginnt. Erst infolge kann sich unser Handeln ändern. Wir müssen das tun und wieder mit uns selbst, mit anderen, aber auch mit allem nicht-menschlichen Leben in Beziehung treten. Das ist unvermeidbar.

Künstliche Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie von außen mit Energie versorgt werden müssen. Das ist ein Symptom, das wir zutage legen. Das sehen wir am Ressourcenabbau und daran, wie wir den Planeten ausplündern, um diesen Energiebedarf zu decken, den das künstlich sich selbst versorgende System erfordert. In dem Moment, in dem wir wieder in ein natürliches System kommen, werden wir nicht mehr darauf angewiesen sein, den Energiebedarf, der auch emotionaler Art sein kann, oder die Energie innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen und ähnlichen zu decken. Daraufhin wird es vielmehr wie in einem Ökosystem sein, in dem sich das ganze Leben gegenseitig nährt.
Die Bäume werden von Mizellen und Pilzen unterstützt, das wiederum hilft den Tieren und so weiter. Alle tragen etwas bei. Das brauchen wir wieder, auf individuellem, gemeinschaftlichem und territorialem Level.
Ein weiterer Teil ist, dass wir unseren eigenen Zugang zu diesem einen Gedanken, zu dieser Lebendigkeit wiederfinden müssen. Das Schlimmste, was wir tun können, ist, uns kulturell woanders zu bedienen, weil wir uns dann nur Formen nehmen, ohne einen Inhalt zu bekommen, so die Kogi. Es geht darum, zu erforschen, was wirklich zu mir passt – und das gilt für jeden, egal wo sich derjenige oder diejenige befindet. Was ist das Eigene? Als ich die Kogi traf, erzählten sie mir nichts über ihre eigene Kultur, bis ich begann zu erzählen, wie wir die Dinge tun. Wir sprachen über ein bestimmtes Thema. Ich berichtete ihnen, wie wir es angehen oder wie es früher bei uns getan wurde, oder über bestimmte Dinge, die bei uns überliefert sind. Dann sagten sie auf einmal, dass sie mir jetzt auch etwas von sich erzählen, weil sie jetzt sichergehen könnten, dass ich nichts von ihnen klaue, übernehme und kopiere.
TV: Sondern, dass du etwas Eigenes hast?
Buchholz: Ja, das ist sehr wichtig. Ich verstehe, dass das für uns nicht einfach ist. Wir haben beispielsweise die Tendenz, zu sagen: »Yoga ist das, was wir jetzt alle unbedingt machen müssen.« Kann sein, aber es ist wichtig, für sich selbst zu überprüfen, ob das zu einem passt. Was ist es, was hinter der Yogapraxis, als Beispiel, jenseits der Praktik und der Form, hinter dem Asana, steht?

Was bedeutet es für mich und wozu bekomme ich wieder einen Zugang? Wenn wir das anders machen, ist es so, dass diese Dinge uns weiter von uns wegführen können als wieder zu uns hin. Das ist der Kern, den es braucht: Das Eigene wiederzufinden, das uns zu uns selbst führt und uns mit uns selbst, als wer wir sind, verbindet, jenseits der Vorstellungen, die andere von uns oder wir von uns selbst haben. Oft haben auch wir als spirituelle Menschen bestimmte Vorstellungen, wie wir sein sollten oder die Dinge zu tun seien. Dass man zum Beispiel bestimmte Kleidung oder Kristalle tragen muss. Kann sein, muss aber nicht. Das ist etwas, was den Kogi sehr wichtig ist. Denn nur das, was uns wirklich verwurzelt und stärkt, versetzt uns überhaupt wieder in die Lage, uns um den Planeten zu kümmern.
TV: Das sind ermutigende und optimistische Worte an die jüngeren Brüder und Schwestern.
Buchholz: Die Kogi sind sehr pragmatisch. Wenn es keine Hoffnung gäbe, würden sie nicht mit uns reden. Ganz einfach. Denn das wäre reine Energieverschwendung.
»Die Kogi sind sehr pragmatisch. Wenn es keine Hoffnung gäbe, würden sie nicht mit uns reden. Denn das wäre reine Energieverschwendung.«
TV: Ich habe noch eine letzte Frage an dich und zwar, was hast du für dich persönlich aus diesem dreimonatigen Aufenthalt bei ihnen mitgenommen? Was hast du danach ganz konkret in deinem Alltag, deinem Handeln und deinen Gewohnheiten verändert?
Buchholz: Für mich hat sich sehr viel verändert. Ich kam zurück und war erst einmal aufgeschmissen, weil ich nicht wusste, was ich mit dieser Erfahrung anfangen sollte. Ich war vorher viel gereist, habe viele Orte kennengelernt. Ich war in Afrika, in Pakistan, in Südamerika. Ich hatte bereits viele Länder kennengelernt, aber bei den Kogi machte ich eine Erfahrung, die anders als alles andere war. Es zeigte mir, wie weit die gedankliche Globalisierung auf der Welt bereits vorangeschritten ist – unabhängig davon, ob ich in Islamabad, Jordanien, Marokko, Südamerika oder Europa bin, wie weit die Gleichschaltung der Gedanken, Ziele und dessen, was die Menschen ausmacht und wonach sie streben, in der urbanen Moderne bereits fortgeschritten ist, und wie sehr sich dieses indigene Volk unterscheidet. Am Anfang wusste ich überhaupt nicht, was ich damit machen sollte. Ich war hier und fragte mich, wie ich diese beiden Welten, die der urbanen globalen Moderne und die der Kogi, zusammenbringen sollte. Was sollte ich damit machen? Deswegen dauerte das Schreiben meines Buchs länger. Denn es war ein Prozess für mich, bei dem ich herausarbeiten musste, was es für mich heißt, diese Welten zusammenzubringen. Ist dies überhaupt möglich?

Danach änderten sich viele Dinge. Momentan produziere ich gemeinsam mit einem Team einen Kinofilm, in dem es um die Kogi und die Frage geht, wo wir diese Prinzipien und Sichtweisen der Kogi heutzutage in den Industrienationen bereits wiederfinden. In dem Film wird thematisiert, dass bereits hier und jetzt – im Arbeitskontext, in Unternehmen – bestimmte Prinzipien umgesetzt werden. Denn das sind die Orte, die wir benötigen, um Geld zu verdienen. Das ist nun mal der Status quo. Die Menschen müssen irgendwo arbeiten und Geld verdienen. Das macht das kapitalistische System aus. Zudem halten wir uns unendlich viel Zeit an diesen Orten auf, ein erwachsener Mensch verbringt durchschnittlich acht Stunden seines Tages an seinem Arbeitsplatz. Wenn sich dort Dinge wandeln, angefangen von dem Umgang miteinander bis hin zur Produktion und dem Umgang mit der Natur, hat dies eine große Bedeutung im Leben der Menschen. Es gibt bereits Beispiele von Menschen, die die Dinge anders angehen. Dieser Film, der gerade am Entstehen ist, ist ein In-Beziehung-Treten mit dem Gefühl, das ich bei den Kogi bekommen habe. Wo finde ich es in unserer westlichen Welt und wie lässt es sich hier umsetzen und anwenden mit dem, was wir hier im Moment haben? Das ist etwas, worum sich jeder Tag bei mir dreht.
TV: Vielen herzlichen Dank, Lucas, für dieses Interview voller Impulse und Inspirationen, die den Weg in die Lebendigkeit und Natürlichkeit des Lebens weisen, und danke, dass du die Botschaft und die Weltsicht der Kogi mit uns geteilt hast.

Zum Autor
Lucas Buchholz schloss sein Studium mit dem Master in Friedens- und Konfliktforschung ab. Er schrieb das Buch »Kogi – Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert« und zeigt in Seminaren und Vorträgen auf, wie das Natürliche und Lebendige uns Zugänge zu Erfolg in unseren Leben und unseren Unternehmungen ermöglicht. Derzeit führt er Co-Regie bei dem Kino-Dokumentarfilm »Success«, der gelingende und inspirierende Beispiele eines neuen lebendigen Verständnisses von Erfolg darstellt.
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Bildnachweise: © alle Bilder: Lucas Buchholz