Lidia Schladt

Lidia Schladt – Das Erwachen der neuen Weiblichkeit

Ein Plädoyer für einen Paradigmenwechsel durch eine Versöhnung zwischen den Geschlechtern

Die Zeit ist reif für das Aufblühen einer neuen Weiblichkeit. Sie erlaubt Frauen, aus den alten, patriarchalen Strukturen auszubrechen und den Weg zu einem selbstbestimmten Leben zu gehen. Dies umfasst auch die Versöhnung zwischen den Geschlechtern, deren langes Gegeneinander ein klares Hindernis für eine friedliche Gemeinschaft darstellt. Um diese Versöhnung zu verwirklichen, müssen auch weiblich zugeordnete Qualitäten wie die Intuition und Emotion in beiden Geschlechtern integriert werden und sich im Denken, Fühlen und Handeln äußern. 

Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe (Anfang Dezember 2019), gingen am Wochenende Hunderttausende von Frauen in Süd- und Mittelamerika auf die Straße. Sie protestierten lautstark gegen die Gewalt an Mädchen und Frauen vonseiten der Männer. Es wurde laut gerufen: »Der Vergewaltiger bist du.« Diese Proteste gingen mir und vielen anderen Menschen durch Mark und Bein. Die Frauen in Mexiko, in der Karibik und in Chile sprachen weiter: »Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt, weil wir geboren wurden. Und die Gewalt ist die Strafe, die du siehst. Es ist Frauenmord, es ist Straffreiheit für meinen Mörder. Es ist das Verschwinden. Es ist Vergewaltigung. Die Schuld haben weder ich noch der Ort, an dem ich war, noch meine Kleidung. Der Vergewaltiger bist du. Es sind die Polizei, die Richter, der Staat, der Präsident. Der Unterdrückerstaat ist ein Mann, der vergewaltigt.« Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich bei YouTube die Bilder der vielen Frauen sehe, die schwarze Augenbinden tragen und sich Blut an den Mund oder den Rest des Körpers gemalt haben. Ich habe mich ein paar Wochen zuvor bereits gefragt, was passieren würde, wenn die Frauen dieser Welt sich organisieren würden, um das Patriarchat infrage zu stellen, und sich klar FÜR weibliche Werte und Rechte positionieren würden.

Die Gewalt an Mädchen und Frauen ist in den lateinamerikanischen Ländern besonders hoch. Laut WHO wurden in den Jahren zwischen 2011 und 2016 in Brasilien sechs und in Argentinien drei Frauen je 100.000 Einwohner nur aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Unfassbar grausame Verbrechen, teilweise durch die eigenen Ehemänner, Ex-Partner oder ihre Freunde begangen. Warum schreibe ich hier darüber? Weil es einen direkten Zusammenhang zwischen der patriarchalen Kultur, der Unterdrückung der Weiblichkeit weltweit und gleichzeitig dem Erstarken der Weiblichkeit gibt. Diesen möchte ich durch meinen Artikel aufzeigen.

»Es wurden Göttinnen verehrt und das weibliche Prinzip galt als das Prinzip der Fülle.«

Mittlerweile wissen wir, dass das Zeitalter des Patriarchats vor ca. 3000–5000 Jahren begann. Es ging mit der Unterdrückung und der Entwertung des weiblichen Prinzips einher. Das vorher gelebte Zeitalter des Matriarchats verehrte die Große Mutter als Sinnbild für Fruchtbarkeit, für ein friedliches Miteinander zwischen den Geschlechtern und einer freien Sexualität. Es wurden Göttinnen verehrt und das weibliche Prinzip galt als das Prinzip der Fülle. Macht oder Hierarchien spielten überhaupt keine Rolle. Es war eine Verehrung der Großen Mutter als ein lebensgebendes Naturprinzip. Sexualität wurde gefeiert und zur Stärkung eines Stammes eingesetzt. Doch es war keine beliebige Sexualität, sondern hatte rituellen Charakter. Sie wurde als die Kraft des Eros eingeladen, um die Fülle zu rufen und die Lebenskräfte eines Dorfes zu erwecken. Frauen und Männer haben einander nach einem natürlichen Instinkt ausgesucht und wussten darum, wie sie ihre Sexualenergie halten können und sie zum Wohle des ganzen Stammes einsetzen konnten. Es gab keine Gewalt und daher keine Vergewaltigungen.[1]Dies änderte sich, als die Griechen begannen, die damaligen Stämme zu überfallen, zu unterwerfen und damit auch die Frauen zu vergewaltigen. Das Zeitalter des Patriarchats begann und die Weiblichkeit wurde gewaltsam unterdrückt. Die Auswirkungen dieser Epoche sehen und spüren wir bis heute. Mir als Frau tut es weh, darüber zu schreiben und mich in diese Zeit hineinzuversetzen. Doch es tut auch vielen Männern weh, die um das Erbe wissen, dass sich die Männlichkeit auf diese Art und Weise auch von ihrer eigenen Quelle abgeschnitten hat.

Wenn ich hier über Weiblichkeit und Männlichkeit schreibe, dann meine ich die archetypische weibliche Kraft der Anima und die archetypische männliche Kraft des Animus. Carl Gustav Jung hat sehr ausführlich über diese beiden geschlechtlichen Pole geschrieben und zu ihnen geforscht. Daher geht es hier nicht um einzelne Frauen und Männer, sondern um die gegensätzlichen Kräfte, die in jedem Menschen vorhanden sind. Natürlich gibt es auch weitere Geschlechter, doch auf diese gehe ich der Einfachheit halber an dieser Stelle nicht weiter ein.

Lidia Schladt

Aus einer Meta-Ebene heraus betrachtet herrschte zunächst einmal viele Jahrtausende lang das weibliche Prinzip des Matriarchats vor. Diese Kraft wurde aufgrund der evolutionären Entwicklung vom männlichen Prinzip abgelöst. Bisher weiß keiner genau, durch was der Wechsel des damaligen Paradigmas (aus dem Griechischen für Weltsicht, Weltanschauung, Erklärungsmodell) verursacht wurde. Manche behaupten, dass Frauen ihre Macht gegenüber den Männern missbraucht hätten und die Männer sich aufgelehnt hätten. Ich selbst glaube aber eher an eine weitere Erklärung: dass Frauen sich in ihrer Sehnsucht nach einem ebenbürtigen Gegenüber selbst dem männlichen Prinzip unterworfen haben. Für mich macht es aus einer evolutionshistorischen Ebene heraus Sinn. Denn das männliche Prinzip verkörpert vor allem die Ratio des Geistes. Das weibliche Prinzip ist die Emotio mit einer starken Emotionalität und Intuition. Da das Leben nach Gleichgewicht strebt, ist es für mich mehr als nachvollziehbar, dass diese starken archetypischen Kräfte in ein Tauziehen gekommen sind.

»Beide Geschlechter sind verunsichert und wissen nicht mehr weiter. Die alten Rollenbilder brechen auf, und es gibt noch keine neuen Rollenmodelle.«

Wenn wir uns die gesellschaftlichen Bereiche anschauen, dann herrscht bis heute Krieg zwischen den Geschlechtern. Ob es Witze über die Frauen seitens der Männer sind oder die Abwertung des Männlichen aus einer Verletzung heraus seitens der Frauen. Überall, wo ich hinschaue, wird die Angst vor dem gegengeschlechtlichen Prinzip auf ein Subjekt projiziert. Viele Frauen brechen derzeit aus den alten Rollenmodellen aus und werden autonom. Teilweise aber auch in ein anderes Extrem kippend, wie es im Feminismus geschehen ist, indem Frauen zu den »besseren Männern« wurden. Viele Männer sind gegenwärtig tief verunsichert, weil die Ratio allein sie nicht mehr weiterbringt und sie sich auf der kollektiven Ebene nach der Komplementierung durch ihre Gefühle sehnen. Beide Geschlechter sind verunsichert und wissen nicht mehr weiter. Die alten Rollenbilder brechen auf, und es gibt noch keine neuen Rollenmodelle.

Wer die Bewusstseinsstufen der Spiral Dynamics nach Don Beck und anderen integralen Forschern kennt, weiß, dass an einem solchen Punkt ein Paradigmenwechsel eingeläutet wird. Wenn eine Bewusstseinsstufe mit den erarbeiteten Lösungen nicht mehr weiterkommt, entwickelt sich ein neues Bewusstsein. Für mich ist dieses neue Bewusstsein das Erwachen einer neuen Weiblichkeit. Nicht nur für Frauen, sondern auch für die Männer. Für uns alle. Wir stehen alle derzeit an einem »Turning point« unserer bisherigen Paradigma-Muster. Das kollektive Weibliche lässt sich nicht mehr unterdrücken. Es bricht sich massiv Bahn, wie wir es anhand der Proteste in Süd- und Mittelamerika mitbekommen. Es ist ein wichtiges Momentum für uns alle, da ich uns alle miteinander verbunden ansehe. Es gibt eine kollektive Ebene, auf der wir alle miteinander interagieren und auf der sich Bewusstsein entwickelt. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich keine Wertigkeit zwischen dem weiblichen und dem männlichen Prinzip sehe. Nicht das Weibliche ist besser als das Männliche oder umgekehrt. Beide Prinzipien habe ihre eigenen Qualitäten und möchten in Einklang gebracht werden. Erst in jedem einzelnen Individuum und dann auf einer kollektiven Ebene.

Meine Forschungsfrage als moderne Mystikerin ist: Wie kann es uns auf einer kollektiven Bewusstseinsebene gelingen, den »Shift« zu einem neuen Paradigma friedlich zu vollziehen? Ich möchte als Erstes dazu einladen, die weiblichen und männlichen Kräfte zu erkunden. Ich lade dich zu den folgenden Forschungsfragen ein:

* Wie sehen diese archetypischen Kräfte der Weiblichkeit und Männlichkeit in mir aus?

* Kann ich ihnen Namen und Qualitäten zuordnen?

* Was möchten sie mir sagen?

* Was würde es bedeuten, wenn ich als Frau die urweibliche Kraft noch mehr in mein Leben einladen würde? Was würde es bedeuten, wenn ich als Frau die urmännliche Kraft noch mehr einsetzen würde?

* Was würde es bedeuten, wenn ich als Mann die urweibliche Kraft noch mehr integrieren würde? Was würde es bedeuten, wenn ich noch mehr meine urmännliche Kraft leben würde?

Wenn ich von der Urweiblichkeit oder der Urmännlichkeit schreibe, dann meine ich die lichtvolle, ursprüngliche, friedliche, ermächtigende Seite eines Pols. Denn es gibt auch jeweils eine Schattenseite der beiden Pole, die wir gegenwärtig oft antreffen. Wenn sich Frauen z. B. zu sehr für die Familie aufopfern und eine Über-Mutter verkörpern oder wenn Männer abwesend sind, sich nur um die Karriere kümmern oder gewalttätig werden, wobei sie ihre Kraft missbrauchen. Die Urweiblichkeit ist für mich mit Hingabe, nicht mit Aufgabe verbunden, kann mütterlich sein, jedoch nicht zwingend, und kennt ihre innere intuitive Führungsnatur. Die Urmännlichkeit ist für mich die beschützende, kraftspendende und lebenserhaltende Natur des Mannes, die die Einheit mit dem Weiblichen sucht.

In unserer westlichen Kultur sind die Pole gegenwärtig so in Extremen gelagert, dass ich z. B. viele sehr männlich betonte Frauen erlebe und auf der anderen Seite stark weiblich geprägte Männer. Dabei dürfen wir differenzieren, was Weiblichkeit und Männlichkeit jeweils individuell definiert bedeutet. Doch jeder spürt intuitiv, wie sich eine Person anfühlt, die ihre weiblichen und männlichen Anteile ausbalanciert hat. Ganz gleich, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Wir spüren, wie sich ein mütterliches und ein väterliches Prinzip in einer Person vereint, fühlen uns in der Gegenwart dieser Person sicher und geborgen. Ähnlich dem Gefühl, wenn die inneren Eltern als integrierte Anteile in uns zu Hause sind. Dann beginnt der Frieden zwischen den Geschlechtern in uns, in jedem Einzelnen, und beginnt von hier aus den Siegeszug auf die kollektive Ebene.

Für mich bedeutet das Erwachen der neuen Weiblichkeit, die gerade überall geschieht, die Rückkehr zur Emotio. Emotio kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Gefühls- und Gemütsbewegung. Es ist mit dem ursprünglichen Begriff »emovere« eine Bewegung gemeint. Ein »Herausbewegen« und »Herauserschaffen«, um etwas zu bewegen, zu erschüttern, aufzuwühlen. Zusammen mit der Ratio, aus dem Lateinischen für »Berechnung, Erwägung, Vernunft«. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn beide Kräfte einander nicht mehr bekämpfen würden. Wenn sie miteinander kooperieren oder ko-kreieren würden. Wie sähe unsere Welt aus, wenn die vernünftige Ratio und die intuitive Emotio einander die Hände reichen würden? Ich stelle mir vor, wie die rationale Wissenschaft die Komponente der Gefühle und Intuition als ein selbstverständliches Messinstrument in ihre Überlegungen miteinbezieht, so wie es derzeit in der Quantenphysik passiert. Kein »Entweder-oder« mehr, sondern ein »Sowohl-als-auch«.

»Das Problem in unserer Kultur besteht darin, dass wir eine Bewertungsskala unserer Gefühle in uns verkörpert haben.«

Wir leben hier im Westen in einer stark rational betonten Gesellschaft. Gefühle und Körper-Bewusstsein sind noch für beide Geschlechter fern ihres alltäglichen Erlebens. Meine Annahme lautet daher, dass das Erwachen der neuen Weiblichkeit demnach bedeuten würde, dass wir uns unserer Gefühle und ihrer Bedeutung für unser Leben bewusst werden. Gefühle fühlen wir im Körper. Daran wäre erst einmal nicht zu rütteln. Welches Gefühl sich auch zeigt, ob Trauer, Wut, Angst, Freude oder Begeisterung, es ist einfach da. Das Problem in unserer Kultur besteht darin, dass wir eine Bewertungsskala unserer Gefühle in uns verkörpert haben. Trauer, Traurigkeit, Ängste, Wut, Neid, Schmerz sind per se negativ und werden oft als unangenehm empfunden. Sie werden oft in den Schatten unseres Bewusstseins verdrängt. Spaß, Freude, Leichtigkeit, Ekstase, Begeisterung werden als angenehme Gefühle erlebt und als positiv bewertet. Damit fängt das menschliche Drama an. Denn wir spalten uns von wichtigen Empfindungen ab und möchten stets auf der Sonnenseite der Gefühle bleiben. So werden bestimmte Gefühle unterdrückt. Es ist eine Prägung unseres kulturellen Werte-Systems, das die Ratio überbetont und die Emotio abgewertet wird. Damit trennen wir uns von einem wichtigen Teil unseres gesamten Körpersystems, denn Schmerzen und Wut können wir unmittelbar im Körper fühlen.

Wenn wir von einem neuen Paradigma sprechen möchten, dürfen wir die neue Weiblichkeit mit der Wichtigkeit der Emotio, unserer Gefühle, verbinden. Das gilt für die Frauen genauso wie für die Männer. Denn wir alle stecken noch in den Kinderschuhen, was das Fühlen von Gefühlen anbelangt. Das Fühlen ohne Bewertung in »negative« und »positive« Gefühle möchte geübt und trainiert werden. Das Fühlen ohne Festhalten, sondern im lebendigen Fließen, in der Körperempfindung, ist noch ungewohnt. Doch es lässt sich lernen, und das ist wohl der Zustand und Wunsch, den Jesus als »Werdet wie die Kinder« beschrieben hat. Kinder fühlen, ohne zu werten. Sie sind traurig und weinen, wenn sie hinfallen, um im nächsten Augenblick zu lachen, wenn ihnen ein Hund begegnet oder sie ein Eis bekommen. Es ist ein unmittelbares Sein mit dem, was in der Gegenwart im Hier und Jetzt geschieht. Ein Kind empfindet ein Körpergefühl und lässt es durch sich hindurchfließen. Das haben wir spätestens mit dem Eintritt in die Schule durch unser vieles Still-Sitzen und Tadel-Bewertungssystem verlernt. Wir werden starr und unbeweglich, unflexibel und der Verstand wird überbetont. Körper- und Gefühlswahrnehmung werden entwertet, genauso wie das Weibliche, die Emotio in uns.

»Viele Frauen spüren bereits, dass sie stark an die Naturzyklen angebunden sind und zu bestimmten Zeiten sehr kreativ sind, an anderen Tagen aber viel Rückzug brauchen.«

Wir dürfen also alle lernen, wieder in den Körper und damit in die Welt der Gefühle zurückzufinden. Das Weibliche wird dabei vielleicht als eine irrationale, bedrohliche Tiefe in uns empfunden. Das, was wir bisher in den Schatten unseres Unterbewussten verdrängt haben. Doch sitzt im Weiblichen auch die Stimme der Intuition, der feinen Wahrnehmung und der Sensibilität. Was könnte es für die Frau in der heutigen Zeit bedeuten, in ihrer Weiblichkeit zu erwachen? Es könnte sein, dass sie anfängt, die Zyklen ihres Lebens und ihrer Menstruation zu beobachten. Sie würde spüren, dass sie ein Teil der Natur ist und ihr Körper über alle Weisheit verfügt, die sie braucht, um sich ganz unabhängig davon, ob ein Mann an ihrer Seite ist oder nicht, genährt zu fühlen. 

»Doch sitzt im Weiblichen auch die Stimme der Intuition, der feinen Wahrnehmung und der Sensibilität.«

Viele Frauen spüren bereits, dass sie stark an die Naturzyklen angebunden sind und zu bestimmten Zeiten sehr kreativ sind, an anderen Tagen aber viel Rückzug brauchen. Es wäre wünschenswert, wenn immer mehr Frauen in der Selbstfürsorge auf die Zyklen ihres Körpers achten und ihnen folgen würden. Eine andere Möglichkeit des Erwachens der neuen Weiblichkeit besteht für Frauen darin, sich mit anderen Frauen wieder zu verbinden. Das kann z. B. in einem Frauenkreis oder Frauenretreat geschehen, um die Urwunde der Konkurrenz unter Schwestern zu heilen. Aber auch, um zu merken, wie nährend die Gemeinschaft unter Frauen sein kann. Schließlich sind wir als Frauen Schwestern und allein diese Haltung würde viel Heilung der Weiblichkeit mit sich bringen.

Das Urweibliche ist ein verbindendes, sich gegenseitig unterstützendes und ermächtigendes Prinzip. Konkurrenz hat darin keinen Platz, wurde den Frauen jedoch im Patriarchat durch Angst eingeimpft. Denn Frauen haben sich in matriarchalen Strukturen ganz natürlich miteinander verbunden, um sich zu stärken. Mit dem Beginn der patriarchalen Werte war es plötzlich gefährlich, da das Männliche die Herrschaft über das Weibliche für sich beanspruchte. Das ging so weit, dass Frauen, die sich miteinander im Austausch über Kräuter und Urwissen trafen, als Hexen betitelt und gefoltert, verbannt oder verbrannt wurden. Es steckt uns Frauen daher noch im System und in den Knochen, dass es gefährlich ist, uns mit anderen Frauen wieder auf eine neue Art und Weise zu verbinden. Diese Wunde darf nun in die Heilung kommen und damit auch den Gedanken der Konkurrenz unter Frauen wandeln. Eine echte Schwesternschaft freut sich darüber, wenn eine andere Frau in ihre wahre Größe hineinwächst, und unterstützt sie in ihrem Wachstum. Vor allem aber ehrt die Haltung einer echten Schwesternschaft die Männlichkeit und schließt sie nicht aus. Wohl wissend, dass auch die Frau über einen inneren Mann in sich verfügt.

Doch was bedeutet es für den Mann der heutigen Zeit, das Erwachen der Weiblichkeit zu fördern? Und ist es überhaupt erstrebenswert für die Männer, die Weiblichkeit in sich zu entdecken und zu leben? Viele Männer kommen gegenwärtig an ihre Grenzen, da das bisherige Paradigma des Patriarchats auch für sie zu einer modernen Sklaverei geworden ist. Das Prinzip der Leistung und des damit verbundenen Drucks und der Zielerreichung führt viele in einen Burn-out, eine Depression oder andere psychische Krankheiten. Das Thema des männlichen Suizids aufgrund eines Jobverlusts oder einer persönlichen Krise wird zusätzlich tabuisiert, spielt hier aber eine große Rolle. Das starke Unterdrücken der eigenen Gefühle und damit der eigenen Weiblichkeit in sich kostet Männer viel Kraft. Da dieses Thema noch keinen Raum in unserem Wirtschaftssystem hat, wird seitens der Männer viel über Zigaretten, Alkohol und andere Suchtmittel kompensiert. Viele Männer spüren, dass sie an eine Belastungsgrenze kommen und nicht mehr so funktionieren können, wie es ihnen die evolutionäre patriarchale Entwicklung beigebracht hat. Solche Grenzmomente sind die Sternstunden der Bewusstwerdung. Chancen, um sich als Mann die Sinnfrage zu stellen. Diese enthält auch die Ausrichtung des Spürens, des Fühlens. Viele Männer werden sich ihrer Gefühle und der Wichtigkeit dieser bewusst. Sie besuchen Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung, meditieren und merken, wie wichtig Ernährung, ein Selbstliebe-Mindset ist, und hinterfragen ihre bisher gelebten Werte. Die Frage danach, ob gesellschaftliche oder familiäre Werte unhinterfragt übernommen wurden und was die eigenen, gefühlten Werte sind, wird somit elementar.

Mit dem Erwachen der neuen Weiblichkeit im individuellen Umfeld stellt sich auch die Frage nach der kollektiven Ebene der neuen Weiblichkeit. Für mich bedeutet das neue Paradigma eben kein altes goldenes Zeitalter aus dem Matriarchat, sondern ein neues versöhntes Friedensbild zwischen den Geschlechtern. Eines, das bewusst Vergebungsarbeit betreibt und eine Art Aufräumen der alten Programme zwischen Frau und Mann initiiert. Wir brauchen Räume in unserem Umfeld, um auf der Beziehungsebene alte Verletzungen anzuschauen, um sie fernab jeder Schuldfrage zu heilen. Wenn es uns gelingt, nüchtern hinzublicken, was wir in der Vergangenheit als Frauen und Männer einander angetan haben, ohne mit dem Zeigefinger aufeinander zu zeigen, werden wir frei. Wir fühlen in einer verletzlichen Betroffenheit, was in der Vergangenheit alles geschehen ist, und bleiben nicht dabei stehen, sondern richten uns auf ein neues Miteinander aus. Auch wenn die Bilder, Vorbilder und Referenzpersonen noch nicht da oder nur wenige sind. Es bedeutet, in der Unsicherheit des weiteren gemeinsamen Weges einer Art neuer »kosmischer Hochzeit« zwischen dem weiblichen und männlichen Prinzip weiterzugehen. Bis sich der Weg durch die Integration der Weiblichkeit und Emotio immer mehr von selbst zeigt.

Lidia Schladt

Zurück zum Ausgangsszenario der Frauen-Proteste in Süd- und Mittelamerika halte ich diesen drastischen Schritt seitens der Frauen zwar für mehr als nachvollziehbar und wichtig, vor allem auf die Regionalkultur der dortigen Staatengefüge bezogen. Andererseits halte ich es für kein gutes Signal, dass die Männer und die Männlichkeit pauschal als »Täter« verurteilt werden. Denn es ist die Urwunde des Mannes, von ihren Großmüttern, Müttern und anderen Frauen als »Täter« angesehen zu werden. Ich wünsche mir eine Differenzierung im Mitgefühl für beide Geschlechter. Auf allen Seiten hat es immer Opfer und Täter gegeben, genauso wie Viktor Frankl, ein Wiener Psychologe, der das Konzentrationslager während des Nationalsozialismus überlebte und beschreibt. Es gab auf der Seite der deutschen Besatzer und aufseiten der jüdischen Bevölkerung alles: Opfer und Täter. Er war jüdischer Herkunft und sprach sich zeit seines Lebens als Begründer der sinnzentrierten Logotherapie für die Versöhnung zwischen den Völkern aus. Genauso plädiere ich dafür, die Opfer- und Täterbrille hinsichtlich des Patriarchats abzunehmen und klarer zu differenzieren.

Wie können wir heute ohne Anklage als Frauen und Männer einander in die Augen blicken, um uns miteinander zu versöhnen? Wie können wir eine aktive Friedensarbeit zwischen den Geschlechtern fördern und damit ein neues Paradigma kreieren? Die Müdigkeit des Kampfs zwischen Frau und Mann steht uns allen ins Gesicht geschrieben. Warum hören wir nicht einfach auf, einander zu bekämpfen und zu bekriegen? Vor allem aber auch damit, das andere Geschlecht als Projektionsfläche für die eigene Unzulänglichkeit zu missbrauchen?

Meine Überzeugung ist, dass das neue Paradigma bereits im sogenannten Nullpunktfeld zu spüren ist, auch wenn wir es noch nicht sehen können. Das Entstehen eines neuen Bewusstseins braucht Zeit und viel Mut. Ich setze mich aktiv für den Frieden zwischen Frau und Mann ein, in meinem ganz persönlichen Umfeld, aber auch in meiner heiltherapeutischen Arbeit. Es ist meine Vision, dass wir nach einer Phase des Aufräumens wieder zurück in ein neues weibliches Bewusstsein eintreten werden. Niemals so, wie es im Matriarchat war, sondern in einem Bewusstsein für die Balance zwischen der Weiblichkeit und der Männlichkeit IN UNS. So, wie es im Tantra oft beschrieben wird, dass es den Tanz zwischen Frau und Mann gleichermaßen braucht, um ein neues drittes Schöpfungsmoment zu kreieren. Ich nenne diesen Schöpfungsweg den der Ko-Kreation.

Wenn die Weiblichkeit wieder geehrt wird und Gefühle als Ressourcen angesehen werden, wird eine neue Ebene des Miteinanders möglich. Eine Zusammenarbeit, die auf Frieden, ein echtes Miteinander und ein neues Fundament zwischen Frau und Mann ausgerichtet ist. Um diese Welt zu einem friedlichen Ort für Heilung und Wachstum werden zu lassen. Vor allem aber haben wir keine Zeit mehr, um die alten Spiele zu spielen, da die Erde deutlich zeigt, wie wichtig die Versöhnung zwischen den Geschlechtern für sie und unsere gemeinsame Zukunft ist. Den Luxus des Abwartens, bis die Erde im patriarchalen System weiter zerstört wird und damit die Weiblichkeit in den Frauen und Männern weiter leidet, können wir uns kollektiv betrachtet nicht mehr leisten. Lasst uns er-wachsen werden und die Weiblichkeit wieder als eine Qualität für ein organisches Sein auf der Erde und in uns Menschen begreifen. Damit auch unsere Kinder uns als Vorbilder ansehen und vererbt bekommen, dass Weiblichkeit und Männlichkeit in Wahrheit eine Einheit sind. Weil Weiblichkeit und Männlichkeit aus einer Quelle stammen und einander im neuen Paradigma wahrhaftig in Frieden begegnen können.

Literaturtipps

Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm: »Und sie erkannten einander – Das Ende der sexuellen Gewalt«, Verlag Meiga

Andrea und Veit Lindau: »Königin und Samurai«, Verlag Kailash

Lidia Schladt

Zur Autorin

Lidia Schladt ist Logotherapeutin nach Viktor E. Frankl, Heilpraktikerin für Psychotherapie und integraler Coach in Bremen. Sie versteht sich als Emotionshebamme und moderne Mystikerin. Lidia Schladt schreibt für verschiedene Print- und Online-Magazine über die Themen Weiblichkeit, Partnerschaft auf Augenhöhe, Gefühle als Ressource, Hochsensibilität, die Arbeit mit dem inneren Kind, das Enneagramm und die Bewusstseinsstufen der Spiral Dynamics.

Homepage: lidia-schladt.de

Facebook: facebook.com/lidia.schladt

Instagram: lidia.schladt

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen