Dr. Martin Spiegel

Dr. Martin Spiegel – Das Geheimnis des wilden Menschen in uns

Gnostisch-christliches Tantra als ›Spiritualität von unten her‹

Der Mensch hat verschiedene Seelenkörper, die untereinander verflochten sind. Besonderes Augenmerk gilt der Körperlichkeit und dem »wilden Menschen in uns« – zwei Aspekte des Menschen, die lange Zeit von den spirituellen Traditionen unterdrückt bzw. sogar verleugnet wurden, aber dennoch für die innere Entwicklung und Freiheit unverzichtbar sind. Für den Autor ist es an der Zeit, uns unseren Seelenanteilen vertrauensvoll zu öffnen, um jenseits von inneren Spannungen und Spaltungen dem Mysterium Leben auf die Spur zu kommen. 

Heißt spirituell sein so viel wie ›seelisch‹ sein, also tief sein, im Herzen sein, in Liebe, Mitleid etc.? Oder sprechen wir von ›höheren Bewusstseinszuständen‹ – ›Erleuchtung‹, ›kosmisches Bewusstsein‹, ›unity consciousness‹ oder so? Sprechen wir von Bewusstseinsveränderung oder Seinsveränderung? Für all das wird heute der Begriff Spiritualität benutzt. 

Für die einen bedeutet es, anders, besser, ›seelischer‹ im Leben zu stehen, zu meditieren, Yoga zu machen, humanistisch zu sein o. ä. Für die anderen bedeutet es, sich mit ›geistigen Dingen‹ zu beschäftigen, ›spirituelle Bücher‹ zu lesen, von den klassischen religiösen Schriften bis hin zu den modernen Esoterikern (Theosophie, Anthroposophie, Rosenkreuzer etc.). 

Aber eben auch nicht nur lesen, sondern irgendwie umsetzen – bis dahin, ein ›Erwachter‹ zu sein, ein ›Eingeweihter‹, ›Erleuchteter‹, ›Heiliger‹, Mystiker, Magier, Medizinmann etc. Oder auch ein ›Befreiter‹, der das Rad von Tod und Wiederverkörperung überwunden hat, befreit von Karma, freigesprochen von Sünde o. ä.!?!

Geht es um Persönlichkeitsveränderung oder Verbesserung? Oder geht es um das Ende der Persönlichkeit, des Egos und die Verwirklichung des Überpersönlichen, Göttlichen in uns?

Noch nie war das Wort spirituell so sehr in aller Munde – gleichzeitig wird aber teilweise sehr wenig hingeschaut, was es denn wirklich bedeutet oder bedeuten kann …

Das Bild von der Kutsche

Es gibt dieses wunderbare esoterische Bild des Menschen als eine Pferdekutsche: Die Kutsche ist der ›physische Körper‹; die Deichsel (Kraftüberträger) ist der pranische oder ›Ätherkörper‹, Lebensleib o. ä.; das Pferd ist der ›Begierdenkörper‹, unsere ›Säugetierseele‹, siderischer oder Astralleib, unser ›Gefühlsleben‹; die Zügel sind unser ›Gedankenleben, Mentalkörper, Vernunft‹ o. ä.; der Kutscher ist das ›höhere Selbst‹, die Seele – aber der, der uns sagt, wo es langgehen soll: In der Kutsche ist das (bei den meisten Menschen noch schlafende) Baby als Fahrgast, der »Gott in Windeln« (Mikhail Naïmy)!

»Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam!«, sagt Goethe (Egmont II).

Dr. Martin Spiegel

Und es ist ja derselbe Goethe, der von den ›zwei Seelen‹ in unserer Brust spricht: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen: / Die eine hält in derber Liebeslust / Sich an die Welt mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen.« (Faust I, »Vor dem Tor«)

Ich sage, wir haben nicht nur zwei, sondern vier ›Seelen in unserer Brust‹ – heißt: die sich alle gern unseres ›Seelen-Apparates‹ = der Seelenfähigkeiten des Hauses unserer Seele einschließlich unseres Sprechens bedienen würden:

  1. Der ›wilde Mensch in uns‹, die animalische oder (Säugetier-)Körperseele, mehr oder weniger traumatisiert, vergleichbar einem Haustier, Hund oder Pferd: körperliche Befriedigung aller Art; im hawaiianischen Huna-Schamanismus geht man von zwei Voraussetzungen aus: die Verbindung zum Göttlichen außerhalb von mir kann nur durch das Göttliche innerhalb von mir, das sogenannte höhere Selbst hergestellt werden; und die Verbindung zu meinem ›höheren Selbst‹ kann ich nur durch mein niederes oder unteres Selbst herstellen: den Geist oder das Seelenwesen meines Säugetierkörpers, in der Huna-Philosophie Unihipili genannt = ›meine höher entwickelte Tierseele‹, der ›wilde Mensch in mir‹, der sich als ein Glied der Deva-Evolution meiner Mensch- oder Persönlichkeitsseele gegenüber verhält wie ein Hündchen zu Frauchen oder Herrchen.
    In esoterischen Quellen wird beschrieben, wie dieser Körpergeist als eine eigene, eigenständige Wesenheit in meinem Leber-Milz-System im Bauch-Bewusstseinszentrum wohnt, gorillaähnlich wie eine Art Steinzeitmensch aussieht und Astralwesen, Mondenwesen oder aurisches Wesen genannt wird, in der modernen therapeutischen Szene oft auch mit ›innerem Kind‹ verwechselt. Es ist das, was in uns ›traumatisiert‹ ist und durch unsere inneren ›Spannungen und Spaltungen‹ aus dem Körper hinausgedrängt wird. Wo aber ein Bereich im ›Haus unserer Seele‹ vernachlässigt wird, sammeln sich Schmutz und ›Ungeziefer‹ an.
  2. Eingebettet in unsere Körperseele oder ihr ›aufgepfropft‹ ist unsere Persönlichkeitsseele: »alles wissen wollen, alles fühlen wollen, alles können wollen, alles tun wollen, alles sein wollen, alles haben wollen«; auf der anderen Seite aber auch ihre Sehnsucht nach dem ›Nicht-Seinmüssen‹: wie der Tropfen aufzugehen im Meer oder der Funke im Feuer – und alles Begehren in ›Heilsbegehren‹ zu verwandeln, christlich gesprochen. »Sich aufzugeben ist Genuss.« (Goethe)
  3. Das göttliche Wesen in uns, der ›himmlische Mensch‹ (Bibel) oder die Lichtseele in uns: die das Haus unserer Seele in einen Lichtpalast verwandeln will, um darin wohnen und sich ausdrücken zu können (vereint und verschmolzen mit unserer gereinigten Persönlichkeitsseele in der ›heiligen Hochzeit‹);
  4. Der Gegenspieler, die Gegenseele oder die Schattenseele = Die Art und Weise, wie wir auf Leben reagieren, aber nicht reagieren wollen. Es ist die zu einer eigenständigen Wesenheit gewordene ›Verdichtung, Veredelung oder Kultivierung‹ bestimmter Reaktionsweisen und ›emotionaler Quittierungen‹, die wir beim Versuch erzeugen, individuelles Überleben, Kraftzufuhr = Ernährung und Schutz zu optimieren; im Unterschied zu gewöhnlichen oder natürlichen Reaktionsweisen, wie sie auch das Tier – und damit unser ›wilder Mensch‹ – kennt, handelt es sich hier um Reaktionsmechanismen, die durch ›innere Reflexion‹ entstanden sind, zu der ein entwickeltes Säugetier nicht fähig ist: »Ein wenig besser würd er leben [der Mensch], / Hättst du [Gott] ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.« (Goethe, Faust I, »Prolog im Himmel«)
    Diese Gegenseele oder Schattenseele entsteht – wie bei den gefallenen göttlichen Hierarchien, die zu Dämonen geworden sind –, wenn wir auf Leidenserfahrungen (Mangel-Defizit / Bedarf-Bedürftigkeit / Bedrohung / Nicht-Erfüllung etc.) nicht mit Demut, Annahme und Gebet reagieren, sondern mit Wut, Weigerung und Widerstand

Das Geheimnis des Schatten- oder Dämonen-Ichs

So wie die positiven Bewusstseins- oder Seelenräume in unserem Mikrokosmos globale / makrokosmische positive Kraftfelder ernähren (Engel / Devas / Götter und Göttinnen‹) und ihrerseits Ableger / Filialen von ihnen sind (= Göttinnen der Liebe, des Friedens, des Mitleids, der Freude – »schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium« – etc.), so ernähren negative Eigenschaften und Verhaltensweisen gleichfalls, wie Gebete, globale / makrokosmische negative Kraftfelder (Dämonen und Dämoninnen) als deren gleichfalls Ableger / Filialen, und werden von ihnen angestachelt, sie zu ernähren, wie die Alten wussten (z. B. durch Massenhysterien der Euphorie, des Fanatismus, der Angst, der Aggression, des religiösen Rausches etc.). So heißen z. B. die drei Gehilfinnen König Maras, des Herrschers der Dämonen im Buddhismus, TANHA: die Gier, RATI: die Lust, ARATI: die Unlust / Unzufriedenheit = Gott oder Dämon gewordene Seelenräume ›Satans‹.

»Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit«, singt Wolf Biermann, aber genau das geschieht:

  • Unterdrückung / Verdrängung von Impulsen und Bedürfnissen; 
  • Unterdrückung / Verdrängung von Gefühlen des Leidens wie Schmerz, Angst, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Aggression / Autoaggression, ›seelischer Selbstmord‹, Hass (kalt oder glühend‹), Verzweiflung, Traurigkeit, Bitterkeit etc. –
  • mit den Folgen seelischer Empfindungsunfähigkeit, Fühl- und Seelenlosigkeit, Verurteilung anderer, die sich nicht so gut unterdrücken können / ›sich gehen lassen‹ etc.; 
  • oder Ignoranz (Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit, Motivationslosigkeit), Seelenkälte, Seelenhärte, Empathie- / Mitleidlosigkeit, Erlöschen aller seelischen Dynamik;
  • oder Flucht in ›innere Filme‹, Verrücktheit, Abheben-Abdriften, Ungeerdet-Sein (nicht im Körper sein‹), Gespaltenheit, Phobien, Flucht in den Wahnsinn etc.;
  • ›Trübsinn‹, Hoffnungslosigkeit, Defätismus, Negativität;
  • Suchtverhalten / Verhaltenssucht als ›Ersatzbefriedigung‹ (offensiv) oder weil man die selbst geschaffenen oder aufgerufenen Dämonen nicht mehr aushalten kann (defensiv);
  • Bosheit, Rachsucht gegenüber allem und jedem, was unser Sein-Können behindert, Hadern mit Gott, der Welt, anderen Menschen, dem Schicksal etc. – und wenn ich den wahren Feind nicht identifizieren kann, dann projiziere ich alles auf einen von mir auserwählten ›Sündenbock‹ … 

Wer kann / will denn reagieren wie der sprichwörtlich gewordene ›geduldige Hiob‹ aus der Bibel? »Und Fluch vor allem der Geduld!«, ruft Goethes Faust. (»Der Tragödie erster Teil, Studierzimmer«)

Wir können gut verstehen, dass und warum eine ›Psychologie‹, die diese Zusammenhänge nicht kennt, niemals wirklich heilen kann. 

Von Kindesbeinen an: der Pakt mit den Mechanismen = Dämonismen

All diese beschriebenen Bewusstseins- oder Seelenräume und Seelentätigkeiten in unserem Mikrokosmos, bei den einzelnen unterschiedlich verteilt und gewichtet, generieren also von frühester Kindheit an unser Schatten- oder Dämonen-Ich, das sich wie ein Firnis auf alle ›körperlichen, seelischen und geistigen‹ Bedürfnisse legt und auch unser Seelenwesen – ›mittleres Selbst‹ oder Persönlichkeitsseele – in seiner Not verführt oder erpresst, von Kindheit an ein Bündnis mit ihm zu schließen, und solche Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ihm eigentlich zuwider sind, als Pseudo-Hilfen zu charakterlichen und seelischen Qualitäten und ›Mechanismen‹ zu machen.

Zusätzlich können sich natürlich im Leben auch die verschiedensten Fremdwesenheiten auf uns legen, verstorbene ›erdgebundene‹ Seelen oder ihre ›Astralfragmente‹, Naturgeister, Elementale oder Wesenheiten größeren Kalibers, die dann alle Aspekte, Bestandteile oder Konstituentia meines Schatten- oder Dämonen-Ichs werden können.

In den ›inneren Wissenschaften‹ ist die Schatten- oder Dämonenseele auch als aurisches Wesen oder ›Luzifer-Ich‹ (›Ahriman-Ich‹) bekannt, so wie man die Lichtseele christlich gern auch Christus-Ich nennt. Die Schatten- oder Dämonen-Seele bildet sich unter dem Einfluss der Familienfelder (Familiendämonen‹) bereits in frühester Kindheit heraus und versucht, im Laufe des Lebens immer mehr die Kontrolle über uns zu gewinnen und zu verhindern, dass wir den Weg der Heilung und Befreiung gehen. Ihre Macht besteht in unseren selbstschädigenden Reaktionsweisen auf Lebens- / Leidenserfahrung, durch die sie genährt und aufgepäppelt wird. Die Kraft, die wir da hineinstecken, fehlt uns dann für unsere Lebensbewältigung bis hin zum völligen ›Burn-out‹. 

Raffinierterweise wird dieses Schatten- oder Dämonen-Ich traditionell gern mit dem wilden Menschen in uns gleichgesetzt oder ›verwechselt‹, den wir eigentlich bräuchten, um uns gegen es zu wehren. Denn so wie geschwächte Tiere sich schwerer gegen Parasiten wehren können, so ist der Mensch, der aufgrund seiner Spannungen und Spaltungen nicht ›im Körper‹ ist, anfälliger gegen seine selbst geschaffenen oder ›eingefangenen‹ Krafträuber, ›Ätherparasiten‹ aller Art. 

Dr. Martin Spiegel

Normalerweise unterdrücken wir den ›wilden Menschen in uns‹ und wollen ihn / sie nicht wahrhaben und unterstützen durch unsere ›Grundspannungen und Grundspaltungen‹ eher noch dessen Hinausgedrängtwerden aus seinem / unserem Körper.

Deswegen ist die Wiederherstellung und Unterstützung des ›wilden Menschen in uns‹, des Hüters unserer Lebenskraft, mit seinem Temperament, seiner Leidenschaft und Begehrenskraft, der Schlüssel auch zur Verstärkung unserer Spiritualität, unserer Liebe, unseres Dienstes, zur Unterfütterung unseres Seelenlebens, unseres ›Heilsbegehrens‹, unserer Sehnsuchtskraft für die Freiheit. 

Und Jan van Rijckenborgh, der Begründer der modernen Gnosis in unserer Zeit (gnostisches Rosenkreuzertum), betont, dass dieser wilde Mensch in uns als ›Astralwesen‹ durch dieses Hinaufziehen ins Herz nicht nur fähig ist, an der Spiritualität teilzuhaben, sondern die Basis unserer ›Transfiguration‹ darstellt (spiritueller ›Persönlichkeitswechsel‹) und selbst daran teilhaben kann und muss.

Brauchen wir es auf dem Weg der Spiritualität, ›im Körper zu sein‹?

Was kann dann heißen: »Spiritualität von unten her«? Nicht vom Kopf her, sondern vom Herzen? Besonders in der Sozialisation in den ›fortgeschrittenen‹ Ländern haben wir uns von frühester Kindheit an aus unserem Herzen herausgedrückt in den Kopf und ein ›OBERFLÄCHEN-SELBST‹ gebaut, auch ›STRATEGISCHES SELBST‹ genannt, durch das wir uns ausdrücken, und können nun nicht mehr authentisch sein, »direkt zu sich, direkt zu anderen«.

Oder auch nicht vom Herzen (oder nicht nur), sondern aus dem Bauch – nach seinem BAUCHGEFÜHL gehen? Wenn Odysseus auf seinen Irrfahrten seine Intuition bemühen wollte, befragte er sein Bauch-Bewusstsein im Zwerchfell, altgriechisch phrên (davon das Wort schizophren = ›Bewusstseinsspaltung‹).

»Heißt Spiritualität Überwindung der Körperlichkeit oder Einbeziehung der Körperlichkeit? Oder Überwindung der Körperlichkeit durch Einbeziehung der Körperlichkeit?«

Wir sprechen hier von eben jenem wilden Menschen in uns, der seinen Platz im Bauch-Bewusstseins-Zentrum hat; wir haben drei Bewusstseins-Zentren: Kopf, Brust, Becken-Bauch-Raum, in den inneren Wissenschaften auch als Tempel oder Heiligtümer bezeichnet: Haupt-, Herz- und Beckenheiligtum, aus denen die »Händler und Wucherer« (Jesus), »Diebe und Räuber« (Mani) ausgetrieben werden müssen.

Für die ›Spiritualität von unten her‹ im Sinne der Höherhebung des individuellen und kollektiven Seins ›Welt‹ stellt sich dann aber auch die Frage: Welche Bedeutung kommt meinem ›Körperwesen‹ in der Spiritualität zu? Heißt Spiritualität Überwindung der Körperlichkeit oder Einbeziehung der Körperlichkeit? Oder Überwindung der Körperlichkeit durch Einbeziehung der Körperlichkeit?

Mit der Natur, nicht gegen die Natur

Der asketische und der tantrische Weg

Hier finden wir den Unterschied des klassischen ›asketischen‹ Wegs der Körperentsagung oder auch Körperfeindlichkeit zum ganzheitlichen Weg in seinem modernen Verständnis, der in gewisser Weise auch tantrisch genannt werden kann. Das Sanskritwort Tantra = ›Gewebe‹ könnte man dann so übersetzen: »Der Weg über etwas hinaus führt nicht darum herum, sondern durch es hindurch.«

»Der Weg über etwas hinaus führt nicht darum herum, sondern durch es hindurch.«

Klassisch ist es immer noch so, dass viele Wege davon ausgehen, dass Sexualität in ›Spiritualität‹ sublimiert werden müsse, um frei werden oder höhere, ›übernatürliche‹ Bewusstseinszustände und -fähigkeiten (Siddhi, sanskrit) erreichen zu können. 

Oder muss ich erst durch alles hindurchgegangen sein, sagen können: »Nichts Menschliches ist mir fremd«, um mit dem Körper, der Natur, dem Leben in der Welt abschließen zu können? Oder kann gerade das Körperliche wie im ›Tantra‹ als Methode, als Weg benutzt werden, um ›Göttliches‹ zu realisieren?

»Heute sagen wir, dass wir auf dem Weg zu Gott oder zu höherem Bewusstsein die Natur nicht vernachlässigen dürfen; bis dahin, dass man sagt: Die Natur ist Gott!«

Welche Rolle spielt das Körperliche in der Spiritualität, oder welche Rolle kann es spielen? 

Heute sagen wir, dass wir auf dem Weg zu Gott oder zu höherem Bewusstsein die Natur nicht vernachlässigen dürfen; bis dahin, dass man sagt: Die Natur ist Gott! Aber die allererste Natur, mit der unsere ›Seele‹ konfrontiert ist, ist unser Körper! Es ist verständlich, wenn schon das kleine Kind sich vom Körper eingeschränkt fühlt. Es möchte spielen oder abends ewig fernsehen, aber der Körper ist müde. Es möchte stundenlang daddeln, aber der Körper will auch mal ein bisschen Coke und Fastfood. Es ist seinem Körper immer ein paar Schritte voraus und dadurch kommt es ins Stolpern, fällt hin und tut sich weh (anders als ein junges Tier). Es ist so weit weg von seinem Körper, gefangen / gebannt in seinen Seelenräumen, dass es nicht mehr fühlt, ob es kalt oder warm ist etc. 

Noch nie hat der Mensch so schmerzlich wie heute gespürt, wie wichtig es ist, im Körper zu sein, runterzukommen, sich zu erden, in der Gegenwart zu sein – gerade als gesunde Basis für ein Seelenleben, das sich von inneren Filmen, Abgezogensein, Verträumtsein, Unbewusstsein etc. befreien will.

Versuche nicht, dich zu verändern, denn damit verfestigst du dein Gefängnis

»Sich treiben lassen gegen den Strom führt zur Quelle.«

Der asketische Weg der Spiritualität in der Geschichte der inneren ›Befreiungsbewegungen der Menschheit‹ auf dem Weg der ›Selbstbeherrschung‹, der Herrschaft des Geistes über die Materie, ist eine unerlässliche Stufe unserer seelischen und geistigen Entwicklung gewesen, die aber heute nicht mehr funktioniert. Aber ›Spiritualität von unten her‹ bedeutet noch mehr als die Einbeziehung der Körperlichkeit und damit unseres Körperwesens, die Einbeziehung des wilden Menschen im Kampf gegen die selbst geschaffenen und ›eingeladenen‹ energetischen Fesseln. 

Die Esoteriker sagen, dass in der ›lemurischen‹ Epoche der Menschheit mit Müh und Not das ›Ich‹ des Menschen gezwungen werden musste, durch eine Art Einweihung nach unten in den Körper zu gehen (siehe die auch heute noch rudimentär bestehenden Praktiken der Selbstverletzung, z. B. den Marterpfahl oder sonstige religiöse Riten), damit sein ›Schlaf- oder Traumbewusstsein‹ sich hier unten verankern konnte. Mit Gewalt und ›schwarzer Pädagogik‹ sollte nun das Ich- oder Seelenbewusstsein lernen, die verschiedenen Ebenen seines Seins zu koordinieren und zu kontrollieren. 

Heute sind wir an dem Punkt angekommen, wo wir wissen, dass Selbstunterdrückung im Sinne von Selbstzwang, Gewalt gegen sich selbst, nicht zur Souveränität der Seele über ihr System führt, sondern durch die Verstärkung der inneren Spannungen und Spaltungen zu körperlichen und seelischen Krankheiten und Verwerfungen, zu neuen ›Dämonen, Dämönchen, Dämonismen‹ besonderer Art. 

»Dagegen stelle ich das Zauberwort des Loslassens und Annehmens: »Nichts begehren, sich gegen nichts wehren« als Schlüssel zur inneren Freiheit.«

Dagegen stelle ich das Zauberwort des Loslassens und Annehmens: »Nichts begehren, sich gegen nichts wehren« als Schlüssel zur inneren Freiheit. 

Es bedeutet auch, sich nicht gegen die inneren Seeleneinflüsse zu wehren, ob sie aus dem wilden Menschen kommen, aus dem Schatten-Ich, aus dem Seelen-Ich, aber auch aus dem Licht-Ich.

»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«, sagt der Volksmund, und Jesus in der Bergpredigt: »Widersteht nicht dem Bösen!«

»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«, sagt der Volksmund, und Jesus in der Bergpredigt: »Widersteht nicht dem Bösen!« 

Wenn ich aber im Modus des Loslassens und Annehmens bin, haben gerade die Impulse aus dem Schatten-Ich keine Macht mehr über mich, die ja an meiner Bedürftigkeit ansetzen. Und die Impulse aus dem wilden Menschen sind eher noch geeignet, mich in den Körper zu bringen und mein Seelenleben mit Lebenskraft zu unterfüttern.

In der gnostischen Esoterik sagt man: Wenn ich innerlich ruhig werde, alles stehen und liegen lasse; wenn ich alles loslasse und mein Leben, mein Sein ganz in die Hände des Göttlichen Seins lege, also ›gegen den Strom schwimme‹, dann beruhigen sich auch meine Chakras: Die inneren Energie-Turbinen werden still und beginnen sich dann, nach meiner inneren Kehrtwendung oder ›Bekehrung‹, in die rechte Richtung zu drehen.

Auf der einen Seite erkenne ich, dass ich nicht der Macher bin, dass sich die ›Resultante meiner Vektoren‹ = das jeweilige Resultat oder Ergebnis aus dem Gesamt des Gegeneinander und Miteinander meiner inneren Einflüsse und Reaktionen sowieso durchsetzt: 

»Der ganze Strudel strebt nach oben, / Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.« (Goethe, Faust I, »Walpurgisnacht«) »Wir leben nicht, wir werden gelebt.« (Jan van Rijckenborgh)

Auf der anderen Seite: Wenn ich loslasse, verändert sich die ›Resultante der Vektoren‹, mein höheres oder wahres Ich, meine Lichtseele, der ›Gott in Windeln‹ erwacht, und die Gewichtung / Konstellation meiner ›Vektoren‹ / Einflüsse verändert sich.

Einerseits ächzen unsere ›wilde Seele‹ und unsere Persönlichkeitsseele im Verbund unter einer verstärkten Auseinandersetzung zwischen den Einflüssen aus meiner Licht-Seele und meiner Schatten-Seele, die auch von außen durch die entsprechenden jeweiligen globalen oder kosmischen, universellen Kraftfelder verstärkt werden (»Licht und Finsternis«); andererseits führt dieser wohlverstandene Weg des Gegen-den-Strom-Schwimmens durch diese immanente Dynamik zur ›Quelle‹, zum sogenannten göttlichen Urgrund – wenn es nicht unterwegs zu einer Erlahmung unseres Nicht-Bemühens kommt, die andere Seite siegt und das innere Licht wieder erlischt, wie es ja schon tausendmal in der Evolution meiner Seele der Fall gewesen sein mag – was auch immer auf meinem Weg liegt.

Warum ist es heute möglich und nötig, durch eine neue Form des Umgangs mit unseren Emotionen und Bedürfnissen den ›tantrisch-ganzheitlichen‹ Weg zur inneren Freiheit und / oder spirituellen Entwicklung zu gehen?

Wenn wir das Wesen des Seins richtig verstehen, dann verstehen wir auch, dass und warum alles, was es gibt, sichtbar oder unsichtbar, ein sich selbst heilendes System ist, auch die ›Seele‹, die weder ›Therapie‹ bräuchte noch ›Erziehung‹ (»We don‘t need no education«), so wenig, wie eine Blume braucht, dass man an ihr zieht, damit sie wächst – es geht nur darum, die besten Bedingungen für körperliches, energetisches und seelisches Sein zu schaffen!

Wir verstehen, dass und warum wir uns selbst zu jeder Zeit vertrauen dürfen; dass und warum wir alles in uns geschehen lassen können / dürfen, ohne in uns eingreifen zu müssen, ohne ›an uns arbeiten‹ zu müssen. Es ist das Wesen aller Wesen, und damit auch ›Gottes‹, »falls es ihn / sie gibt«, zu allen Zeiten alles zu wollen und zu betreiben, was zu wollen ihnen gegeben ist: unendliche Entfaltung ihres Potenzials. 

Dr. Martin Spiegel

In Wahrheit ist es doch so: dass die höchsten Götter = Gotteskinder, kaum dass sie aus dem Geburtenschoß ›Gottes‹ herausgeschlüpft, besser: hervorgerufen sind, kein anderes Bedürfnis haben, als (wieder) mit ihrem Wurzelgrund eins zu werden (und ›mit Mühe‹ davon abgehalten werden), weil der Grund für ›Gottes Schöpfung‹ »LEELA« (sanskrit) ist: das göttliche Spiel zu spielen und dazu ›Spielgefährten‹ ins Sein zu rufen, wie es so schön in einer deutschen Fassung von »Auld Lang Syne« am Ende heißt: »Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, / Das Leben ist ein Spiel, / Nur wer es recht zu spielen weiß, / Gelangt ans große Ziel.« (Claus Ludwig Laue)

So finden wir in allen Wesen das Wissen, dass das Bedürfnis, sich im Sein unendlich auszuweiten, identisch mit dem Bedürfnis ist, nicht zu sein, im Sinne: nicht als Einzelnes zu sein, sondern aufzugehen im Ganzen (wenn ich mich unendlich ausweite, vereint sich ja mein Raum mit dem von allem). Das ist der Ursprung allen Bedürfnisses nach Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, sei es in der Familie, im Clan, im Verein, in der Vereinigung, Partei, Religion etc. Und das scheint wohl auch die Bewegung des Universums oder Multiversums selbst im Lichte der Wissenschaften zu sein. Was macht es mit uns, das zu spüren?

So bezeichneten wir oben als das Kennzeichen unserer Mensch- oder Persönlichkeitsseele das Streben nach unendlicher ›Persönlichkeitsentfaltung‹ im Sinne von: »alles wissen wollen, alles können wollen, alles haben wollen, alles sein wollen«; auf der anderen Seite aber auch ihre »Sehnsucht nach dem ›Nicht-Seinmüssen‹«: wie der Tropfen aufzugehen im Meer oder der Funke im Feuer – und alles Begehren in ›Heilsbegehren‹ zu verwandeln, christlich gesprochen, und zitierten Goethe: »Sich aufzugeben ist Genuss.«

So, wie wir im tiefsten Herzensgrunde keine größere Sehnsucht haben, als durch unseren Dienst an (einem) anderen uns zu verschenken, zu verströmen, lieben zu dürfen mehr, als geliebt zu werden – und nur dadurch glücklich werden können: So geht die Grundsehnsucht aller Wesen überhaupt dahin, im Ganzen (wieder) aufgehen zu dürfen (selbst der ›dunklen Seite der Macht‹).

Hineingeworfen ins Sein – ins Sein auf dieser Existenz-Ebene, die wir ›Welt‹ nennen, die von Not gekennzeichnet ist –, sind wir unablässig zerrissen zwischen unserer Defizit-Orientiertheit und unserer Dienst-Orientiertheit.

Auf der einen Seite müssen wir uns darum kümmern, dass unser System funktioniert (Ernährung / Kraft / Gesundheit / Befriedung und Befriedigung ›körperlicher, seelischer und geistiger‹ Bedürfnisse); auf der anderen Seite spüren wir aber, dass bei aller ›Erfüllung‹ der Drang in uns immer stärker wird, zu lieben und zu dienen, weiterzugeben, anderen Menschen zu helfen etc.

Es ist wie der Kreislauf in dieser berühmten Touristen-Anekdote von dem italienischen Fischer am Strand, dem der Tourist Ratschläge gibt, mehr Fische zu fangen, mehr Boote zu kaufen, Leute einzustellen, eine Fischfabrik zu betreiben, reich zu werden, um … – um was? Beispielsweise um sich mitten am Tag an den Strand legen zu können. »Aber das ist doch genau das, was ich jetzt mache!?!« 

So bewegen wir uns unablässig zwischen diesen beiden Grundmotiven hin und her, die im Grunde eines sind, und die ich die »Flamme des Egos« (unbewertet) und die »Flamme des Dienens« nenne.

Wenn wir dieses beides nicht erkennen – sowohl die Auseinandersetzung als auch die Einheit dieser beiden »Willens-Flammen« – werden wir weder uns selbst noch andere Menschen wirklich verstehen. 

Mit diesem Grundwissen, diesem Grundverständnis – »dass es uns also immer nur um das Eine geht« – können wir Schluss machen mit allen Selbstverdächtigungen – und Vertrauen gewinnen in dieses große Grundgeheimnis des Seins, wie wir oben sagten, dass alles ein sich selbst heilendes System ist, also auch die Seele des Menschen, was immer das sein mag.

Wir wissen, dass alle unsere Schuld in dem liegt, dass wir uns wie gezwungen fühlen, in der Not unseren täglichen oder stündlichen ›Pakt mit dem Teufel‹ zu schließen, dass es aber nichts gibt, was man nicht wiedergutmachen kann (siehe das Mysterium der Sündenvergebung, esoterisch Karmalöschung).

Mit diesem Wissen können wir uns nun in unsere Selbstheilung stürzen, besser, auf der Position des inneren »ZEUGEN« geschehen lassen, dass wir uns ›ändern‹, um ›geheilt und befreit‹ zu werden; wenn »ICH«, der / die ich so unter Einfluss aller Vektoren (Einflüsse) aus meinen ›Seelen‹ stehe, dieses mein wahres Motiv in jedem Augenblick spüren würde, würde sich alles verwandeln. 

Dr. Martin Spiegel

Zum Autor

Dr. Martin Spiegel, geb. 1952, Studium der Germanistik, Philosophie und Sinologie an der FU Berlin, M. A. 1977, Dr. phil. 1988. Arbeitet als Lehrer und Dozent in verschiedenen Institutionen, u. a. im Gefängnis Moabit Berlin. 2012 Gründung der AGAPE Lebensschule P 2000. Verheiratet, mehrere Kinder.

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