Analytische Psychologie und Spiritualität

Ein neuer Zugang zu C. G. Jungs psychologischer Annäherung an die Religion

In unserer heutigen säkularisierten Welt wird immer stärker nach einem überzeugenden inneren Gottes- und Religionserlebnis gesucht, das unabhängig von Dogmen und Glaubensbekenntnissen ist. Der tiefenpsychologische Zugang C. G. Jungs zur Religion stößt dabei auf wachsendes Interesse und Zustimmung. Seine Betonung der persönlichen religiösen Erfahrung scheint dem modernen spirituell orientierten Menschen entgegenzukommen.

Anders als Freud und Adler, die in der Religion eine Art sekundäre seelische Aktivität sehen, wertet C. G. Jung die Religion als eine höchste Form geistiger Betätigung und nennt religiöse Einstellung »eine psychische Funktion von kaum absehbarer Wichtigkeit«. Das Interesse C. G. Jungs an Spiritualität und Religion kann biografisch erklärt werden. Seine Mutter stammte aus einer traditionsreichen Pfarrersfamilie. Er war also von Kindesbeinen an mit religiösen Themen konfrontiert. Es verwundert nicht, dass Jungs erster erinnerter Kindertraum (im Alter von drei bis vier Jahren) von einer verborgenen religiösen Problematik berichtet: Ein unterirdischer Gott als phallusartiges Gebilde mit Auge sitzt auf einem Thron und stellt ein Gegenstück zu Jesus Christus dar.

Im umfangreichen Gesamtwerk C. G. Jungs nehmen die kulturpsychologischen Untersuchungen einen besonderen Platz ein. Insbesondere hat sich Jung in seinen späteren Lebensjahren intensiv mit christlicher, aber auch mit alchemistischer Symbolik beschäftigt. In der Alchemie fand Jung seine Psychologie »endgültig in die Wirklichkeit gestellt und als Ganzes historisch untermauert«.

Analytische Psychologie und Religion

Die Analytische Psychologie betrachtet Religion über die christlichen Konfessionen hinaus als Einstellung der Psyche gegenüber dem Göttlichen und Heiligen, dem Numinosen, als persönliche Erfahrung des Überpersönlichen. Sie ist eine der allgemeinsten Äußerungen der menschlichen Seele. C. G. Jung meint dazu:

»Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten oder stärksten Wert, sei er nun positiv oder negativ. Die Beziehung ist sowohl eine freiwillige als auch eine unfreiwillige, das heißt, man kann von einem Wert, also einem energiegeladenen psychischen Faktor, auch unbewusst besessen sein, oder man kann ihn bewusst annehmen. Diejenige psychologische Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt, wirkt als Gott, weil es immer der überwältigende psychische Faktor ist, der Gott genannt wird.« (GW 11)

»Religiöse Bilder und Symbole entspringen der Urschicht unserer Seele.«

Allerdings erhebt die Analytische Psychologie nicht den Anspruch, über die Existenz Gottes oder eines anderen religiösen Faktums urteilen zu wollen. Die Wirklichkeit des Glaubens ist als solche der Psychologie nicht zugänglich. Die Analytische Psychologie befasst sich also nicht mit der Frage nach der Wirklichkeit Gottes, sondern mit der Tatsache eines seelischen Erlebnisses, das als Gott verstanden wird. Spricht sie zum Beispiel von der jungfräulichen Geburt, so beschäftigt sie sich nicht mit der Frage, ob diese Art von Mutterschaft wahr oder falsch ist. Die Idee ist psychologisch wahr, indem sie existiert. Die reflektive, bewusste Haltung des Menschen bedeutet Unterscheidung, und Unterscheidung bedeutet Trennen und Auswählen.

Bewusstsein ist deshalb ebenso sehr ein Fluch wie ein Segen. Ein wichtiger Aspekt der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist nach C. G. Jung die Zurückziehung der Projektionen: »Wenn der historische Prozess der Weltentseelung, eben der Zurücknahme der Projektionen, so weitergeht wie bisher, dann muss alles, was draußen göttlichen oder dämonischen Charakter hat, zur Seele zurückkehren, in das Innere des unbekannten Menschen, von wo es anscheinend seinen Ausgang genommen hat.« (GW 11, Seite 102) Damit kann auch das Gottesbild im Inneren des Menschen gesehen werden, wie wir dies auch bei unseren christlichen Mystikern erfahren.

Das Bild der Gottheit – ein Archetyp

Religiöse Bilder und Symbole entspringen der Urschicht unserer Seele. Echtes religiöses Gefühl ist – wie die Kunst – immer in dieser tiefen Schicht unserer Seele verwurzelt. Große Beispiele für die sprudelnde innere Quelle sind die Offenbarungen, die in den großen Weisheitsbüchern der Menschheit aufgezeichnet sind. Große Religionsstifter (zum Beispiel Mohammed) erfuhren über Visionen und Auditionen ihre Weisheit und ihre Lehren aus den Tiefen ihrer Seele.

Im Alten Testament wiederum wird von Träumen berichtet, in denen sich für den Träumer Gottes Wille oder seine Gegenwart kundgab. Neben diesen großen Träumen, Visionen und Offenbarungen gab es zu allen Zeiten die Erfahrung der vielen Einzelnen. Sie kommen aus einer tiefen Schicht des Unbewussten, sammeln sich zu kollektiven Träumen und kommen gebündelt in Märchen, Legenden und Mythen zum Ausdruck. In ihnen spielen Bilder und Symbole eine wichtige Rolle.

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Die Menschheit hat seit jeher Bilder der schöpferischen Kraft der Gottheit hervorgebracht. Diese Bilder weisen überraschenderweise überzeugende Gleichförmigkeiten auf. Jung nannte die gemeinsame Struktur der menschlichen Seele das kollektive oder überpersönliche Unbewusste. Aus ihnen tauchen die archetypischen Urbilder auf. Dabei ist die stärkste archetypische Erfahrung des Menschen die der Gottheit. Es ist die Erfahrung eines überindividuellen Zentrums des Daseins und einer Macht, die Leben gibt und Leben nimmt.

Tiefenpsychologisch betrachtet findet im archetypischen Erlebnis der Gottheit eine Synthese zwischen bewusster und unbewusster Psyche statt. Die Spannung wird in einer vollkommenen Vereinigung der Gegensätze gelöst. Diese psychische Tatsache ist nach C. G. Jung die Erfahrung des »Archetyp des Selbst«. Verkörperungen des Selbst finden sich in den großen Gottfiguren wie Jahwe, Christus, Buddha, aber auch in Ganzheitsbildern, die Orientierung und Heilwerden symbolisieren (zum Beispiel Mandala, Kreis, Lingam-Yoni).

Gottesbild als Imagination

Vom tiefenpsychologischen Standpunkt aus kann das Selbst ein Erlebnis des Gottes in uns ermöglichen, während für die Religionen der Gott eine Manifestation an sich wäre (Gottesbild innen, Gottfigur außen).

Die Analytische Psychologie kann das Dasein Gottes weder beweisen noch belegen. Was sie beweisen kann, ist jedoch die Existenz eines archetypischen Gottesbildes. Weiter könnte man mit C. G. Jung sagen, dass der religiöse Mensch eine Bewusstseinseinstellung besitzt, die durch die Erfahrung des Numinosen verändert wurde. Starke Mächte wie Geister, Dämonen, Götter, Gesetze, Ideen und Ideale wurden vom Menschen seit jeher als gefährlich, mächtig oder hilfreich genug erfahren, um sie im religiösen Sinne sorgfältig zu beachten, anzubeten und zu lieben.

Im Jungschen Sinne wäre letztlich das Gottesbild, das sich die Menschen in ihrer Vorstellung machen, ein Werk der Imagination. An dieser Nahtstelle zwischen Tiefenpsychologie und Religion nimmt sich die Analytische Psychologie das Recht, die Möglichkeit anzuerkennen, dass der »Gott in uns« einer transzendenten Realität entspricht. Das grundsätzliche Problem der bösen beziehungsweise der dunklen Seite des Gottesbildes hat bekanntlich in den Überlegungen Jungs breiten Raum eingenommen. Er geht davon aus, dass unsere Einstellung und unser Umgang mit dem Dunklen und dem Bösen in unseren religiösen Mythen und im Gottesbild dargestellt sind.

Christus als psychologische Gestalt

In Band 9/11 (Aion) sagt Jung: »Psychologisch betrachtet stellt Christus als Urmensch (der Menschensohn und zweite Adam) eine den gewöhnlichen Menschen überragende und umfassende Ganzheit dar, welche der bewusstseinstranszendenten totalen Persönlichkeit entspricht. Diese bezeichnen wir (…) als das Selbst.«

Das Leben Christi sieht Jung vom psychologischen Standpunkt aus als ein persönliches und einmaliges Leben. Es habe aber in wesentlichen Zügen archetypischen Charakter. Wie andere große Gestalten der Geschichte begegnen wir im Christus-Mythos dem Archetypus des heldischen Lebens mit seinen charakteristischen Anteilen. Das Mythologem der Geburtslegende zeigt beispielhaft, dass die Geburt des Gotteskindes die Geburt eines neuen Zeitalters, aber auch psychologisch für den Einzelnen Neubeginn bedeuten kann. Unendlich viele Träume mit Neugeburten beweisen diese archetypische Idee der psychologischen Neugeburt.

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Dogmen aus dem Unbewussten

Ursprüngliche religiöse Erfahrungen werden von den Konfessionen oftmals in dogmatischen Formen kodifiziert. Ein Dogma, an dem Jung seine Kulturkritik besonders deutlich macht, ist das Trinitätsdogma der katholischen Kirche. In vielen seiner Schriften vertritt Jung die ganzheitliche Symbolik der Quaternität (der Vierheit) gegenüber der göttlichen Dreifaltigkeit. Der männlichen Dreieinigkeit sollte zum Beispiel die Weiblichkeit als irdisches Element hinzugefügt werden. Diese Ergänzung zum geistigen männlichen Trinitätsprinzip hätte psychologisch gesehen tiefe Auswirkungen auf das Gottesbild und somit auf die Psyche des modernen Menschen.

In der Symbolik des christlichen Dogmas sieht Jung jedoch grundsätzlich die Weisheit der menschlichen Seele formuliert. Nicht der Mensch hat die Dogmen erdacht, sondern sie sind aus dem Unbewussten der ersten Jahrhunderte unseres Zeitalters aufgetaucht. Deshalb »rütteln nur unvorsichtige Toren an der Symbolik der christlichen Dogmen, nicht aber Liebhaber der Seele«.

Rituale und religiöse Erfahrung

In Ritualen ist der Mensch mehr oder weniger in der Lage, sich dem Numinosen bis an die Grenze der letzten Erfahrung zu nähern. Jedes wahre Ritual erhebt den Anspruch, auf Offenbarung zu beruhen. Psychologisch ausgedrückt bedeutet dies das Auftauchen der numinosen archetypischen Bilder im Ich-Bewusstsein. 

Die Gefahr des Rituals liegt darin, dass es formalistisch wird. Seine Funktion als Abwehr gegen das zu beängstigende Numinose kann am Ende die persönliche Erfahrung ersticken. Das Ritual wird dann steril, wirkt nur noch als Abwehrmagie und dient den Menschen nicht mehr als Möglichkeit, an den offenbarten numinosen Inhalten teilzuhaben, ohne der übergroßen energetischen Macht zu verfallen.

»Die Gefahr des Rituals liegt darin, dass es formalistisch wird.«

Wir müssen also die Tatsache erkennen, dass der Mensch, der sich zutiefst nach Offenbarung der göttlichen Macht sehnt, gleichzeitig vor der Erfahrung des Numinosen zittert, da er Angst hat, davon verzehrt zu werden. Von ältesten Zeiten an bis zu den Erlebnissen moderner Mystiker ist die Erfahrung des lebendigen Gottes immer wieder als überwältigend, unerbittlich und beängstigend ergreifend beschrieben worden. Jeremia sagt in 23,9: »Mein Herz will mir im Leibe brechen, alle meine Gebeine zittern, mir ist wie einem trunkenen Mann und wie einem, der vom Wein taumelt, vor dem Herrn und vor seinen heiligen Worten.«

Paulus schreibt im Hebräerbrief: »Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.« Psychologisch gesehen handelt es sich also um eine Überwältigung des Menschen von der Macht des Archetypus der Gottheit. Auch mystische Kernerfahrungen wie die der Leere, des Nichts sowie des All-eins-Seins und der kosmischen Fülle bedeuten Hingabe und Verlöschen des Ichs vor der Gottheit. Diese subjektiven Erfahrungen können aber auch zuerst einmal potenziell Tod bedeuten. Jede Rückkehr aus dieser Erfahrung wird dann als Wiedergeburt aus den Tiefen völliger Vernichtung erlebt.

Neuer Zugang zum Religiösen

C. G. Jung wendet sich mit seinem psychologischen Zugang an die nicht mehr »glücklich Besitzenden des Glaubens«. Nach seinen Erfahrungen erkranken viele von ihnen an Neurosen. Unübersehbar ist, dass das Fehlen eines religiösen Bezugs für immer mehr Menschen zum tiefgreifenden Problem wird.Das archetypische Bedürfnis nach religiöser Sicherheit bleibt unbefriedigt, Unruhe und Ängste sind die Folge.

Der Einzelne kann mithilfe der psychologisch-symbolischen Sichtweise auf seinem Individuationsweg eine individuelle Religiosität finden. Dies bedeutet oft eine große Bereicherung durch Selbst-Erfahrungen im Sinne einer persönlichen Spiritualität.

Literatur-Hinweis: Dieter Schnocks: Ist Gott ein Symbol?, Kohlhammer Verlag, 2023

Dies war der zweite und letzte Teil des Artikels, in dem ein neuer Ansatz für C. G. Jungs psychologische Herangehensweise an Religion vorgestellt wurde. Den ersten Teil finden Sie hier: C.-G.-Jungs-Verständnis-der-Seele

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Zum Autor

Dieter Schnocks, Jahrgang 1950, ist Dipl.-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Dozent, Supervisor sowie Lehranalytiker.

dieterschnocks.de

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