Der mystische Kern der Kunst
Kunst ist nicht nur eine handwerkliche Fertigkeit, sondern eine tiefe Erforschung der Wirklichkeit, eine radikale und kompromisslose Bestandsaufnahme, ein inneres Ringen der Künstlerin/des Künstlers um die richtige Form, die zur Seele des Betrachters spricht. Echte Kunst ist revolutionär und sprengt den Rahmen des Bekannten. Kunst ist Neu-Sehen. Das hat sie mit dem spirituellen Erwachen gemeinsam, der mystischen Ankunft im Hier und Jetzt. André Breton, Wassily Kandinsky und Walter Benjamin werden hier als ihre Zeugen aufgerufen.
»Ein Kunstwerk zu schaffen,
bedeutet, die Welt zu erschaffen.«
Wassily Kandinsky (1866–1944)
»Saint-Pol-Roux befestigte, wenn er sich morgens zum Schlafen niederlegte, an seiner Tür ein Schild: ›Le poète travaille – der Künstler arbeitet.‹ Breton notiert: ›Still. Ich will, wo keiner noch hindurchgegangen ist, hindurchgehen, still! – Nach ihnen, liebste Sprache.‹ Die hat den Vortritt.«1Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 296f.
Ein wesentliches Element der Kunst besteht darin, noch nie Gesehenes sichtbar oder noch nie Gehörtes hörbar zu machen – und sich von vorgefassten Urteilen und Vorstellungen frei zu machen. Deshalb möchte Breton da hindurchgehen, wo noch niemand hindurchgegangen ist. Und Saint-Pol-Roux möchte schlafen, denn dann taucht er in sein Unbewusstes ab.
Der Surrealismus war nicht nur eine Kunstform unter vielen, sondern eine Bewusstseinserweiterung über das Alltagsbewusstsein hinaus in das Geistige oder – wie wir heute sagen würden – in das Spirituelle. Es ging im Surrealismus darum, das Ich zu transzendieren: »Im Weltgefüge lockert der Traum die Individualität wie einen hohlen Zahn.«2Benjamin, ebd., S. 297. André Breton bringt in seinem ersten surrealistischen Manifest folgende Definition: »Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.«3André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus, in: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Hofheim im Taunus 1983, S. 36 [Erstausgabe 1924]. Dies drückt sehr gut das surrealistische Prinzip aus: eine unmittelbare Wahrnehmung ohne rationale Überlegungen, ohne ästhetische Kriterien, ohne ethische Urteile, ja ohne Absicht, denn von dem, was wir wollen, sind wir immer durch die Zeit getrennt.
Sehen in Echtzeit
Benjamin untertitelte seinen großen Aufsatz über den Surrealismus von 1929 mit: »Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«. Dies kann zweierlei bedeuten: Die europäische Intelligenz ist das Objekt und der Aufsatz ist die letzte Aufnahme von ihr, oder: Die europäische Intelligenz ist das Subjekt und macht eine letzte Momentaufnahme.
Tatsächlich könnte man den Surrealismus als dieses Subjekt verstehen, das ein letztes Mal in der Geschichte eine Momentaufnahme der Wirklichkeit gemacht hat. Das hieße, dass alles, was danach kommt, keine Wahrnehmung der Wirklichkeit mehr ist. Tatsächlich wurde die naive Abbildtheorie in der Philosophie, in der Kunst und auch in der Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts als obsolet erkannt. Man wurde sich bewusst, dass das, was wir sehen, nicht das ist,
was da draußen wirklich ist. Vielmehr konstruieren wir eine Art von bedingter Realität durch unsere Wahrnehmung und unseren Geist, die subjektiv ist. In der Philosophie nennt sich diese Richtung »Konstruktivismus« und ist das Haupttheorem der sogenannten Postmoderne. Die allgemeine Verunsicherung führte dazu, dass im Konstruktivismus die Frage thematisiert wurde, ob da draußen überhaupt etwas ist.
Seit dieser Zeit wird die Möglichkeit bestritten, dass man die Wirklichkeit objektiv wahrnehmen kann. Seit dieser Zeit lebt jeder in seinem subjektiven Universum, und die Frage, was die Wirklichkeit – oder gar die Wahrheit – denn sei, wird als unbeantwortbar betrachtet. Deshalb schreibt Benjamin von dieser letzten Momentaufnahme. Die naive Wahrnehmung der Realität, gleichsam wie ein zeitloses Abbild einer metaphysischen Wahrheit, war damals erstmalig nicht mehr möglich, denn die Welt wurde zunehmend komplexer und die rasend schnellen Informationsquanten der Technisierung und der Massengesellschaft machten die Wahrnehmung zum Stückwerk. Man konnte es nicht mehr alles überblicken.
Der Surrealismus konnte dieses zeitlose Abbild nicht mehr leisten, aber er konnte etwas anderes: eine Aufnahme des Moments. Ein einzelnes Informationsquantum der Wirklichkeit – der Augenblick – wurde von den Surrealisten noch dargestellt. Es gab noch einen Gegenstand in der Kunst. Erst danach endete dies, und die Kunst begab sich scheinbar ganz in ein Spiel mit Form und Farbe, in die Abstraktion. Der Inhalt löste sich auf, nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der avantgardistischen Literatur. Im Poststrukturalismus wird heute noch vielfach die Sinnlosigkeit der Welt behauptet.
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist und bleibt aber die große Aufgabe der Philosophie, der Spiritualität und auch der Kunst. Diese Wahrnehmung ist jedoch eine erweiterte Wahrnehmung, die nicht kognitiv-rational, sondern surreal oder, wie Wassily Kandinsky, der Begründer der abstrakten Kunst sagte, mystisch ist (dazu mehr in der Folge). Kandinsky machte in seinem Grundlagenwerk »Über das Geistige in der Kunst« von 1912 deutlich, dass die Abstraktion, die er sich vorstellte, eine inhaltliche Bedeutung hat und aus einer inneren Notwendigkeit entspringt, die Wirklichkeit wahrnehmbar zu machen.
»Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist und bleibt aber die große Aufgabe der Philosophie, der Spiritualität und auch der Kunst.«
Es war für ihn keine Aufkündigung der Wahr-Nehmung – des wahren Nehmens der Wirklichkeit –, sondern eine Vertiefung, die über das authentische Gefühl des Künstlers die Seele berührt: »Wenn weiter dieses ›Wie‹ auch die Seelenemotion des Künstlers einschließt und fähig ist, sein feineres Erlebnis auszuströmen, so stellt sich schon die Kunst an die Schwelle des Weges, auf welchem sie später unfehlbar das verlorene ›Was‹ wiederfindet, das ›Was‹, welches das geistige Brot des jetzt beginnenden geistigen Erwachens bilden wird. Dieses ›Was‹ wird nicht mehr das materielle gegenständliche ›Was‹ der hintengebliebenen Periode sein, sondern ein künstlerischer Inhalt, die Seele der Kunst, ohne welche ihr Körper (das ›Wie‹) nie ein volles gesundes Leben führen kann, ebenso wie der einzelne Mensch oder das Volk.«4Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, revidierte Neuauflage, Vorwort von Jelena Hahl-Fontaine, Einführung von Max Bill, Zürich 2016, S. 38.
Das ›Was‹ ist der Inhalt, der in den vergangenen Epochen die realistische Abbildung von Menschen, Bäumen oder Vasen war. Mit der Erfindung der Fotografie wurde diese Kunst obsolet. Die Art und Weise des Malens ist das ›Wie‹, zum Beispiel der Impressionismus, der
Expressionismus oder die abstrakte Kunst. Das ›Was‹, der Inhalt, ist aber unverzichtbar, denn er ist die Seele der Kunst, die für das gesunde Leben notwendig ist.
Die letzte Momentaufnahme von diesem ›Was‹ ist die Aufnahme des Augenblicks, gleich einem geistigen Schnappschuss, der im Jetzt der Erkennbarkeit in Echtzeit, Sekunde für Sekunde, die Wirklichkeit erkennt (s. Abb.: Marcel Duchamp, Mensch, der die Treppe hinuntergeht). Der Wahrheit wohnt ein Zeitkern inne, sagte Benjamin sinngemäß.5»Wahrheit ist […] an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.« (Walter Benjamin: Das Passagenwerk, Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 578). Das ist der Unterschied zur traditionellen Metaphysik, die von den ewigen Wahrheiten spricht. Man kann die Wirklichkeit nicht außerhalb der Zeit, aber innerhalb der Zeit im Moment wahrnehmen. »Die Welt allseitiger und integraler Aktualität« nannte dies Walter Benjamin – und das ist der Moment des spirituellen Erwachens, das Hier und Jetzt.
Der Surrealismus war eine kulturelle oder künstlerische Bewegung, die diesen Moment der Wirklichkeit, der gegenständlich und zugleich surreal ist, noch wahrnehmen konnte und in ihren Werken wiedergeben konnte. Der Surrealismus war die letzte Bewegung, die dem entgegentrat, was Hugo von Hofmannsthal beschrieb. Von ihm ist der Chandos-Brief6Ein Brief. Von Hugo von Hofmannsthal. In: Der Tag. Berlin, Nr. 489, 18. Oktober 1902 (Teil 1); Nr. 491, 19. Oktober 1902 (Teil 2). (Erstdruck.). überliefert, in dem dieser bürgerliche Autor der Moderne 1902 den Verlust der Wirklichkeit beschreibt. Alles löst sich auf, die Wirklichkeit ist nicht mehr erkennbar und der Dichter verharrt im Zustand der Depression, der inneren Leere und Sinnlosigkeit.
»Die Wahrnehmung der Wirklichkeit aber betrifft das Diesseits und das Jenseits.«
Die Metaphysik, das heißt auch die klassische Religion und die Spiritualität, gelten immer noch im Bereich des Jenseitigen. Aber das ist für die Wissenschaft kein Thema, weil dieses Jenseits nicht empirisch festzumachen ist. Es bleibt ein Glaube und kann kein Wissen im Sinne der Wissenschaft werden. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit aber betrifft das Diesseits und das Jenseits.
Der Surrealismus lehrte die Wahrnehmung des Diesseits, der gegenständlichen Welt um uns herum, auf eine neue Art und Weise. Benjamin sprach in seinem Surrealismus-Aufsatz von der »profanen Erleuchtung«. Es ist immer noch Erleuchtung, aber sie richtet sich nicht auf das Jenseits, sondern auf das Diesseits. Auch für das Diesseits brauchen wir ein erweitertes Bewusstsein, und das ist die Bedeutung der Spiritualität oder Mystik für die Wissenschaft und die Kunst. Das Diesseits kann von der Wissenschaft nicht vollständig verstanden werden, wenn sie ihre Wahrnehmung nicht um die surreale oder spirituelle Sichtweise erweitert. Die Kunst der Surrealisten war auf dieser Spur. Man kann diese Wirklichkeit wahrnehmen, aber sie ist eben eine zeitliche.
Benjamin spricht von »Sehern und Zeichendeutern« (Benjamin, 299) und zitiert Guillaume Apollinaire und André Breton: »Wenn nun freilich Apollinaire und Breton in gleicher Richtung noch energischer vorstoßen, und den Anschluß des Sürrealismus an die Umwelt mit der Erklärung vollziehen: ›Die Eroberungen der Wissenschaft beruhen viel mehr auf einem sürrealistischen als auf einem logischen Denken‹, wenn sie mit andern Worten die Mystifikation, deren Gipfel Breton in der Poesie sieht (das läßt sich verteidigen), zur Grundlage auch wissenschaftlicher und technischer Entwicklung machen, so ist solche Integration zu stürmisch.« (302f.) Benjamin war damals diese Integration zu stürmisch, aber er akzeptierte sie für die Poesie, die Kunst allgemein und auch für die Politik. Es ist deshalb nicht allzu verwegen, heute, hundert Jahre nach der Entwicklung, das Gleiche für die Wissenschaft zu reklamieren. Tatsächlich sind die Grundlagen wissenschaftlicher und technischer Entwicklung mehr Frucht eines surrealistischen oder auch mystischen Bewusstseins. Wir kennen die Geschichten vom Heureka des Wissenschaftlers, wenn ihm oder ihr endlich der Geistesblitz kommt, so wie August Kekulé die Idee des Benzolrings hatte und mit einem Schlag eine Erklärung für die Kohlenstoffverbindungen in der organischen Chemie gefunden war. Das ist blitzartige Erkenntnis im Nu. Benjamin formuliert es treffend:
»In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner.«7Walter Benjamin: Das Passagenwerk, Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 570.
Warum ist der Surrealismus mit der Mystik und der Magie verbunden?
Der Surrealismus beschreibt eine Art Traumwirklichkeit, eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. Es ist die Welt der Synchronizitäten und Analogien. Benjamin drückt es gewohnt poetisch aus: »Auch das Paris der Sürrealisten ist eine ›kleine Welt‹. Das heißt in der großen, im Kosmos, sieht es nicht anders aus. Auch dort gibt es carrefours [Kreuzungen, R. E.], an denen geisterhafte Signale aus dem Verkehr aufblitzen, unerdenkliche Analogien und Verschränkungen von Geschehnissen an der Tagesordnung sind. Es ist der Raum, von dem die Lyrik des Sürrealismus Bericht gibt.«8Benjamin, Sürrealismus, S. 301.
Der ganze Kosmos arbeitet in seiner wirklichen und authentischen Dimension ganz nach diesen Prinzipien. Es gibt dort nicht-rationale, anti-logische Synchronizitäten, nicht-mechanische Quantenkorrelationen, die in der Sprache der Quantenphysik »Verschränkungen« genannt werden, das Wort, das auch Benjamin in diesem Zitat verwendet. Die Quantentheorie spricht von non-lokalen und akausalen Wirkungen, die nachgerade die grundlegenden Merkmale der Quantenstruktur sind und mit den Gesetzen der klassischen Physik brechen. Solche Phänomene sind wissenschaftlich belegte harte Fakten in der Quantenphysik.9Vgl. etwa John Bell: On the Einstein Podolsky Rosen Paradox, Physics Vol. 1, No. 3, pp. 195–200, 1964 Physics Publishing Co., printed in the United States.
»Diese Verbundenheit zu sehen, ist aber keine Leistung des kognitiven Verstandes, der Logik, sondern eine Leistung der Intuition oder eben einer erweiterten Wahrnehmung.«
Diese Wirkungen sind in der spirituellen Weltsicht bekannt. Die Hermetik berichtet über diese Zusammenhänge. Der Einfachste ist: »wie oben, so unten« – Paris als Entsprechung des Kosmos, eine Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Diese Verbundenheit zu sehen, ist aber keine Leistung des kognitiven Verstandes, der Logik, sondern eine Leistung der Intuition oder eben einer erweiterten Wahrnehmung, wie sie der Surrealismus zum Programm machte. Das geht weit über l’art pour l’art10Kunst, die keine bestimmte Absicht und keinen [gesellschaftlichen] Zweck verfolgt; Kunst als Selbstzweck. hinaus. Echte Kunst ist etwas anderes als heimelige Salon-Ästhetik. Sie ist immer auch revolutionär, bricht mit Wahrnehmungsgewohnheiten und sicheren Überzeugungen. Es ist die grundsätzliche Offenheit für das Neue, das auch in der Spiritualität bekannt ist: Zen-Geist – Anfängergeist.
Es wurde viel darüber spekuliert, was der Surrealismus sei. So wurde in einiger Tiefe vermutet, dass es sich um den Effekt der Überraschung handelte: der Dichter im Zustand des Überraschtseins, des Unerwarteten, der »surprise«. Benjamin möchte da jedoch tiefer schauen:
»Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, sürrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich niemals aneignen wird. Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt. Die passionierteste Untersuchung telepathischer Phänomene zum Beispiel wird einen über das Lesen (das ein eminent telepathischer Vorgang ist) nicht halb soviel lehren, wie die profane Erleuchtung des Lesens über die telepathischen Phänomene. Oder: die passionierteste Untersuchung des Haschischrausches wird einen über das Denken (das ein eminentes Narkotikum ist) nicht halb soviel lehren, wie die profane Erleuchtung des Denkens über den Haschischrausch. Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte. Und sind profanere. Ganz zu schweigen von jener fürchterlichsten Droge – uns selber –, die wir in der Einsamkeit zu uns nehmen.«11Benjamin, ebd., S. 307f.
»Auch im Alltäglichen ist das Mystische zu finden.«
Es geht also nicht um das romantisierende Mysteriöse, um das Rätselhafte alleine, sondern um die dialektische Synthese. Auch im Alltäglichen ist das Mystische zu finden. Wirklich zu verstehen, wie Lesen funktioniert, kann uns viel über telepathische Phänomene lehren, denn Lesen ist Telepathie. Wir können die Welt sehen und erkennen, wenn wir das Geistige in ihr anerkennen. Alles Wissen und alle Weisheit gehen aus der einen Wurzel hervor: »Man sieht, dass die allgemeine Verwandtschaft der Werke, die durch Jahrtausende nicht geschwächt, sondern immer mehr und mehr gestärkt wird, nicht im Äußeren, im Äußerlichen liegt, sondern in der Wurzel der Wurzeln – im mystischen Inhalt der Kunst.«12Kandinsky, ebd., S. 87. Auch die Wissenschaft und die Philosophie gehen auf diese Wurzel zurück.
Was ist ein Künstler?
Kandinsky sagt über einige bestimmte Künstler: »Das sind die Sucher des Inneren im Äußeren« (Kandinsky, S. 54), und ergänzt zu Paul Cézanne: »Er verstand aus einer Teetasse ein beseeltes Wesen zu schaffen oder richtiger gesagt, in dieser Tasse ein Wesen zu erkennen. Er hebt die ›nature morte‹ zu einer Höhe, wo die äußerlich ›toten‹ Sachen innerlich lebendig werden. Er behandelt diese Sachen ebenso wie den Menschen, da er das innere Leben überall zu sehen begabt war.« (ebd., S. 55) Kandinsky spricht selbst von den Künstlern als Sehern oder Hellsehern.
»Echte Kunst hat für ihn immer einen Zweck, nämlich das innere Leben der Seele zu offenbaren.«
Es handelt sich um die Fähigkeit, in der materiellen Welt das innere Leben und die Seele zu erkennen. Das ist die wahre Aufgabe des Künstlers. Und das hat nichts mit gegenständlicher Malerei zu tun. Auch die abstrakte Kunst – und sie noch viel mehr – vermag diesen inneren Zusammenhang zu sehen, wenn sie echte Kunst ist. Kandinsky grenzt sich von der l’art pour l’art ab, die für ihn nur eine Reaktion auf den zweckrationalistischen Materialismus ist. Echte Kunst hat für ihn immer einen Zweck, nämlich das innere Leben der Seele zu offenbaren.
So verhält es sich auch mit der Musik: »Mit wenigen Ausnahmen und Ablenkungen ist die Musik schon einige Jahrhunderte die Kunst, die ihre Mittel nicht zum Darstellen der Erscheinungen der Natur braucht, sondern als Ausdrucksmittel des seelischen Lebens des Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen Lebens der musikalischen Töne.« (ebd., S. 58)
Und auch über das gesprochene und geschriebene Wort hat Kandinsky Wesentliches zu sagen. Er erwähnt Maeterlinck als einen der ersten Propheten und Hellseher einer neuen Epoche, die mit em Zerfall des Atoms eingeläutet wurde. Es entstehe daraus eine neue Form der Literatur: »Das Wort ist ein innerer Klang. Dieser innere Klang entspringt teilweise (vielleicht hauptsächlich) dem Gegenstand, welchem das Wort zum Namen dient. Wenn aber der Gegenstand nicht selbst gesehen wird, sondern nur sein Name gehört wird, so entsteht im Kopf des Hörers die abstrakte Vorstellung, der dematerialisierte Gegenstand, welcher im Herzen eine Vibration sofort hervorruft. […] Diesen ›reinen‹ Klang hören wir vielleicht unbewusst und auch im Zusammenklang mit dem realen oder später abstrakt gewordenen Gegenstand. Im letzten Falle aber tritt dieser reine Klang in den Vordergrund und übt einen direkten Druck auf die Seele aus. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die noch komplizierter, ich möchte sagen ›übersinnlicher‹ ist als eine Seelenerschütterung von einer Glocke, einer klingenden Saite, einem gefallenen Brette usw.« (ebd., S. 50, Hervorhg. v. Kandinsky) Das Kunstwerk, zumal das abstrakte, evoziert in uns als Betrachter eine Vibration, eine Art Gefühlsresonanz, die uns auf unsere Seele verweist. Es ist eine andere Art des Sehens, so ähnlich wie die magischen Vexierbilder, die man erst bei längerem Hinschauen versteht. Es ist wie eine geistige dritte Dimension, ein Blick in die Tiefe.
Was die Malerei, sein Hauptgebiet, betrifft, nimmt er auch die Farben als Klänge wahr, und sein Ziel ist es, diesen »inneren Klang« (ebd., S. 64) zu finden. Er nennt dies »geistiges Sehen« (ebd., S. 71). Die verschiedenen Sinneswahrnehmungen gehen ineinander über und bilden ein organisches Ganzes. Die Werke selbst sind ihm geistige Wesen: »Die Form selbst, wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer geometrischen gleicht, hat ihren inneren Klang, ist ein geistiges Wesen mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind.« (ebd., S. 72) Alles hat ein Außen und ein Innen, und jede Form ist die Äußerung des inneren Inhaltes (ebd., vgl. S. 73). »So ist es klar, dass die Formenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muss.« (ebd., S. 73, Hervorhg. v. Kandinsky) »Die kommende Behandlung und Veränderung der organischen Form hat zum Ziel das Bloßlegen des inneren Klanges. Die organische Form dient hier nicht mehr als direktes Objekt, sondern ist nur ein Element der göttlichen Sprache, die Menschliches braucht, da sie durch die Menschen an Menschen gerichtet ist.« (ebd., S. 75, Hervorhg. v. Kandinsky) Hiermit dürfte klar sein, womit Kandinsky, der Begründer der abstrakten Kunst, sein inneres Erleben nährt. Wenn wir heute bisweilen ratlos vor der abstrakten Kunst stehen und uns fragen: »Was will uns der Künstler sagen?«, so sollten wir uns dessen bewusst sein. Es geht schon lange nicht mehr um die Wiedergabe realistischer Dinge, sondern um einen inneren Seelenton, der uns mit dem Göttlichen in Verbindung bringen kann. Ob sich die NachfolgerInnen Kandinskys und der Surrealisten dieses Zusammenhanges immer bewusst sind, mag dahingestellt sein. Echte Kunst ist jedenfalls kein inhaltsloses Spiel mit den Formen.
»Sein offenes Auge soll auf sein inneres Leben gerichtet werden und sein Ohr soll dem Munde der inneren Notwendigkeit stets zugewendet sein. Dann wird er zu jedem erlaubten Mittel und eben so leicht zu jedem verbotenen Mittel greifen. Das ist der einzige Weg das Mystischnotwendige zum Ausdruck zu bringen. Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind. Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren Notwendigkeit stammen.« (ebd., S. 88)
Das Ziel der Kunst ist es, den Betrachter aus seinem alltäglichen, praktischen und zweckmäßigen Treiben herauszureißen, ihn zu irritieren und seine fest gefügten Ansichten und Denkgewohnheiten aufzubrechen. Im besten Sinne geht es vielleicht darum, neu zu sehen, neu zu hören, neu zu fühlen. »Und je äußerlich unmotivierter zum Beispiel die Bewegung ist, desto reiner, tiefer und innerlicher wirkt sie.« (ebd., S. 126) Damit kommen wir zur echten unmittelbaren Wahrnehmung ohne ideologischen Überbau, ohne subjektive Voreingenommenheit, ohne Absicht, im besten Falle zu einer objektiven Kunst. Das ist das Geistige Sehen, das Erkennen, wie es ist, was man durchaus als spirituelles Erwachen verstehen kann. An dieser Stelle treffen sich Kunst und Spiritualität. Hier geht es nicht mehr darum, romantische Utensilien gleich einer Deko zu arrangieren, sondern um den Durchbruch zur Transzendenz.
Mystik und Alltag
Die Mystik des Diesseits war die große Entdeckung der Surrealisten, aber nicht nur von ihnen. Es gibt spirituelle Traditionen, die den inneren Zusammenhang in der Welt sehen konnten, zum Beispiel die jüdische Mystik mit der Schechina, der Einwohnung Gottes in der Welt, die auch als die Göttin verstanden wird, sowie natürlich auch die naturreligiösen, schamanischen Traditionen indigener Gesellschaften und ihre Kunstwerke, die für die KünstlerInnen jener Zeit eine große Inspiration waren.
Es ist schon eine besondere Sichtweise, wenn man zu schreiben vermag: »Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.« (Breton, S. 29)
Seien wir also unbekümmert! Lasst uns jetzt leben und sterben und wiederauferstehen. »Das Bewundernswerte am Phantastischen ist, dass es nichts Phantastisches daran mehr gibt: es gibt nur noch das Wirkliche.« (Breton, S. 29)
Dann kann unser Bewusstsein mithilfe der Kunst ebenso aus dem dumpfen Zweckrationalismus der kapitalistischen Welt austreten wie mit der (emanzipativen) Spiritualität. Der Philosoph Thomas Metzinger sagte es in Bezug auf das Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität: »Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee.«13Thomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, in: ders.: Der Egotunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, 2. erweiterte Auflage, München 2014, S. 378. Dies gilt wohl auch für Kunst und Spiritualität. Die normative Grundidee hier ist die unverstellte, ideologie- und absichtsfreie Wahrnehmung der Realität mit dem Ziel der objektiven Wahrheit.
Lassen wir ein letztes Mal André Breton zu Wort kommen:
»Der Surrealismus, wie ich ihn verstehe, manifestiert genügend unseren absoluten Nonkonformismus, um nicht im Prozess gegen die reale Welt als Entlastungszeuge zitiert werden zu können. Er wird vielmehr nur den vollkommenen Zustand der Distraktion, der Zerstreutheit, rechtfertigen können, den wir hier unten eines Tages wohl zu erreichen hoffen. […] In diesem Sommer sind die Rosen blau; der Wald ist aus Glas. Die Erde, grün ausgeschlagen, macht nicht mehr Eindruck auf mich als ein Geist aus einer anderen Welt. Leben und nicht mehr leben, das sind imaginäre Lösungen. Die Existenz ist anderswo.« (Breton, S. 49f.)
Dann werden wir vielleicht die sein, die wir wirklich sind. Unsterbliche leuchtende Wesen in einer göttlichen Welt, im Frieden mit uns und den anderen. Das nennt man in den spirituellen Traditionen Erleuchtung.
Zum Autor
Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–23 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2023 Masterabschluss zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« (2012) und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts« (2 Bände, 2014 und 2015). Blog: www.ronaldengert.com / Zeitschrift: www.tattva.de
Fußnoten
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