Marcus Zeller

Marcus Zeller – Das versprochene Paradies

Ein (Rück-)Blick auf die Sektenmechanismen

Der Autor wuchs selbst in einer christlich-fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft, in einer »Sekte« auf. Auch als Erwachsener identifizierte er sich vollständig mit diesem Glauben. Erst im Alter von Mitte 30 kam es zu Zweifeln, die schließlich zum Bruch und heute, zehn Jahre später, zu unterhaltsamen Reflexionen führen: Sind Sekten nur die extreme Ausprägung gesellschaftlicher »Normalität«? Ein Querschnitt einer Biografie und einige kritische Fragen.

Harmagedon – ein Wort, das eine ständige Präsenz in meinem Leben als Kind und Jugendlicher hatte. In seiner Bedeutung und Gewichtung lag es vermutlich höher als beispielsweise »Klimawandel« bei heutigen Heranwachsenden.

Harmagedon, der »Eingriff Gottes auf der Erde«, war Ziel und Ausrichtung, kataklysmische Katastrophe und Erlösung gleichzeitig. Bedrohlich hing es als Damoklesschwert über jedem Tag, denn »niemand kennt Tag und Stunde«, weshalb es sich dringend empfahl, immer ein gottgefälliges Leben zu führen, denn bei seinem Eintreffen zählte eben nur das.

Glaubensgemeinschaften mit einer eschatologischen Ausrichtung (die also auf das Ende der Welt hin ausgerichtet sind) sind eigentlich keine Glaubensgemeinschaften, sondern Hoffensgemeinschaften. Der Einzelne kann nur hoffen, dass er am Tage des Gottesgerichts »treu« geblieben ist: treu der Summe aller Lehren, die vom göttlich eingesetzten Kanal, dem Zentralorgan der Organisation, kolportiert werden. Klar, Inhalt und genaue Zusammensetzung dieser Lehren wandeln sich im Laufe der Zeit. Deshalb ist es wichtig, immer am Puls der Zeit zu sein, d. h. mit dem aktuellen Stand dieser Lehren vertraut zu sein. Das ist nur durch eine bedingungslose Nähe zur Gemeinschaft zu gewährleisten. Bedingungslos meint dabei auch, Form und Inhalt aller Lehren ohne Kritik zu übernehmen, denn darin zeige sich wiederum echter Glaube, der dann bei Eintreffen des Jüngsten Gerichts schicksalhaft entscheidend ist.

»Es sind Dimensionen von unvermeidlicher Ungewissheit, die durch Dogmatisierung in Gewissheit umgelogen werden«

Wenn sich Glaube gerade dadurch auszeichnet, seine spezifische Form durch die Dynamik zu erhalten, dass er im Spannungsfeld zwischen Hoffen, Transzendenz, Kritik und Erfahrung im Individuum immer neu austariert wird, findet in der Sekte durch Dogmatisierung eine Verkehrung und Pervertierung dessen statt. Es sind »Dimensionen von unvermeidlicher Ungewissheit, die durch Dogmatisierung in Gewissheit umgelogen werden«, wie es Peter Sloterdijk auf den Punkt bringt (in: »Kritik der zynischen Vernunft«, S. 548). Diese Gewissheit wird dann als Indiz für die »Wahrheit« des Geglaubten gedeutet. Der Glaube wird zum Objekt gemacht. Er ist in seiner Einfachheit eine Tatsache. Umgekehrt macht er mich zum Objekt: Ich bin in meiner Individualität nachgeordnet, wichtig ist meine Funktion als Erhalter und Ausführer des formellen Glaubens. Ich werde »systemrelevant«.

Mein Lebensgefühl zwischen Paradies und Harmagedon

Irgendwie war da auch immer eine seltsame Vorfreude auf dieses Ereignis »Harmagedon«. Nicht nur, weil es das goldene Zeitalter in Form des wiederentstandenen Paradieses auf Erden einläuten sollte, sondern auch, weil es das spektakuläre Ende alles Bösen auf der Welt bedeutete. Nicht nur des abstrakten Bösen, also des ganzen Leids dieser Welt, allabendlich einsehbar in der »Tagesschau«. Es würde auch das Ende des Bösen in Form der lästernden Kollegen und Schulkameraden sein, die nie einsehen wollten, dass sie blind für das Offensichtliche und das Heilige waren, als dessen Vertreter ich mich fühlte. Das war doch nur gerecht, denn wofür predigte ich denn eigentlich? Klingelte samstagvormittags die Leute vom Frühstückstisch oder dem Bastelkeller weg? Damit war das Gewissen nämlich reingewaschen, da jeder der Herausgeklingelten mit seiner Reaktion nun über seinen eigenen Stand vor dem Höchsten entschied.

Marcus Zeller

Befeuert von den unzähligen Hänseleien bis hin zu Handgreiflichkeiten in der Schule und in der Ausbildung, war da in mir schon ein wenig Genugtuung bei der Aussicht auf Harmagedon.

Der Spott war andererseits auch Teil des Selbstverständnisses. Auch Jesus Christus wurde verspottet. Für die wissende Minderheit ist der Spott die Bestätigung der eigenen Richtigkeit durch die unwissende Welt. Ich sehnte mich nach einer konfliktfreien Welt. Dort wollte ich hin, gegen den Strom, »with god on our side«, wie Bob Dylan es singt.

Natürlich tauchte ab und zu mit fieser Grimasse die Ur-Ethik aus den von der Propaganda unberührten Tiefen meines Selbst auf. War das alles wirklich gerecht? Natürlich! Denn Gott hatte immerhin auch eine Sintflut über die Menschen gebracht, die ähnlich undifferenziert Gut von Böse trennte. Schon immer war Gott gerecht, und wenn mein Verständnis noch nicht bis dahin reichte, dann war es einfach noch nicht genug trainiert. Und Vorsicht: Ein »rebellischer Geist«, also die Neigung, Dogmen auf ihre Validität und Viabilität hin zu überprüfen, zählt per se schon zum »Bösen«. Die Treue zu »Gottes irdischer Organisation« ist eben ein zentrales Glaubensmerkmal. Diese Treue ist nicht unbedingt eine innere Haltung der Toleranz, die man Freunden oder Partnern gegenüber pflegt. Diese Treue meint schlichtweg Konformität. Die Deutungshoheit der heiligen Schrift liegt eben nur dort, und meine fortgeschrittene Weisheit in der genauen Wiedergabe dieser Deutung durch das geistige Zentralorgan. Nicht die Bibel selbst, wie ich sie verstand oder was ihre Aussagen für mich bedeuteten, ist ausschlaggebend, sondern der Grad meiner Synchronisiertheit mit der aktuellen Deutung.

Ein un-authentisches Leben

Weil Harmagedon immer sehr nah war, quasi »vor der Tür« stand, waren die Anstrengungen in dieser Welt mit ihrer dahinschmelzenden Haltbarkeit auf ein Minimum zu beschränken. Die Lebenskraft setzt man bitte gern und großzügig für Gottes irdisches Werk ein. Ein Hochschulabschluss oder gar ein Studium war von vornherein ausgeschlossen, da dort die Konfrontation mit der Evolutionstheorie drohte, die den Glauben zu unterminieren vermochte. Das wussten mir meine Eltern auch überzeugend und mit großer Selbstverständlichkeit zu vermitteln. Es bedeutete praktisch, so schnell wie möglich die Schule abzuschließen und etwas »Brauchbares«, sprich etwas Lebenspraktisches zu lernen, denn das würde in der Zeit nach Harmagedon wichtig werden. Dann würde es gelten, aus dem Trümmerfeld, das Gottes gerechter Krieg hinterlassen hat, ein Paradies zu machen. Nach einer begonnenen Ausbildung zum Forstwirt, die ich wegen allzu heftigen Mobbings in der Schule abbrach, lernte ich Kfz-Mechaniker. Dort war ich ebenso falsch aufgehoben wie der Klosterschüler bei einer Berliner Straßengang. Aber da Leiden zum grundsätzlichen Selbstverständnis und damit zur alltäglichen und nicht zu hinterfragenden Wirklichkeit eines gottgefälligen Lebens gehörte, ging ich auch da durch. Man ist eben nicht man selbst, man ist anders. Und man ist es irgendwie auch gern, denn Gott hat ein auserwähltes Volk, so das gemeinsame, identitätsstiftende Narrativ. Sich als Teil dieses Volkes zu wissen, gleicht doch einiges aus. Dass dieses Volk eine homogene Masse darstellt, die durchgängig im Denken, im Weltverständnis und in ihrer Wertesetzung gleichgeschaltet ist, ist nicht weiter schlimm. Wir sind alle immerhin »Brüder und Schwestern«. Das vertraute »Du« simuliert Nähe und Vertrautheit. So heiratete ich auch mit 20 Jahren, weil ein unverheiratetes Zusammenleben nicht erlaubt ist. Natürlich war das nicht die Frau fürs Leben, aber Gott hatte ja »zusammengefügt« und würde das vollständige Glück im Paradies schon nachliefern. Im Grunde genommen spiegelte nichts in meinem Leben damals meine Persönlichkeit wider.

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Authentizität ist ein Wort, das ich erst mit Ende 20 zum ersten Mal hörte. Konformismus ist ein hohes Ziel innerhalb der Sekte, Angepasstheit ein Zeichen von »Reife« im Sinne der Ideologie. Immer schwingen bei solchen Worten die internen Aufladungen mit. »Loaded Language«, aufgeladene Sprache, so der Fachterminus. »Neusprech« nennt es George Orwell in seinem Roman »1984«. Dabei werden Wortbedeutungen mit systeminternen Vorstellungen »aufgeladen« und verlieren dabei ihren kulturspezifischen und allgemeingültigen Charakter. Der Einzelne verliert schließlich unbemerkt die Fähigkeit, Begriffen eine persönliche »Färbung« durch die eigene Erfahrung zu verleihen. So verliert Sprache Ausdruckskraft und vereinheitlicht und verflacht die individuelle Wirklichkeit. Dadurch manipuliert sich jeder selbst. Er lebt und funktioniert innerhalb einer künstlichen, fast virtuellen Welt. Er steht nicht mehr in Kontakt zu seinem Wesenskern und ist oft blind für seine tatsächlichen geistigen, seelischen und mentalen Bedürfnisse.

Zuhause in der Ideologie

So eine gemeinsame Sprache verbindet natürlich auch, und was verbindet, schafft eine geistige Heimat. Und da die schönste Heimat meist in der Provinz liegt, wagt man sich geistig nicht so weit in die Welt hinein.

Die Geborgenheit gibt Sicherheit, eine Sicherheit der Antworten. Wenn ich eine Frage hatte, konnte ich in der sekteninternen Literatur, die ja direkt durch Gottes Kanal zu uns gekommen war, auf so ziemlich alles eine plausible Antwort finden. Natürlich wurde diese Antwort nie inhaltlich auf Stichhaltigkeit abgeklopft, sondern fand unverändert einen Platz in der Sammlung meiner Welterklärungen, wo sie sich im Kontext ihrer Verwandten harmonisch einfügte. Die innere Logik ist unangreifbar. So ist das mit der Wahrheit eben.

»Und da die schönste Heimat meist in der Provinz liegt, wagt man sich geistig nicht so weit in die Welt hinein.«

Gott selbst ist auch nie weit. Er ist keine ungreifbare, abstrakte Macht. Er ist uns so ähnlich! Er hat einen Namen, ich kann ihn erfreuen, aber auch tief enttäuschen. Er liebt mich – wenngleich nicht bedingungslos –, aber er ist wie ein strenger, wohlwollender Vater. Gut, ein wenig hitzköpfig ab und zu, aber umso mehr Respekt hat man ja dann. »Unsicher-ambivalente Bindung« nennt das die Entwicklungspsychologie. Man weiß nie ganz, woran man mit der Macht innehabenden Person ist, von der man dummerweise abhängig ist. Trotzdem ist das Verhältnis ein sehr persönliches. Es werden keine auswendig gelernten Gebete heruntergeleiert, sondern das Innere darf unzensiert vor ihm ausgebreitet werden. Und im Falle eines »Fehltritts«, also einer Tat, die als »Sünde« gelistet ist, muss das sogar zwingend sein.

Glaubenshüter Gewissen – und seine »Helfer«

Das konnte – in Abstufung der Schwere – natürlich auch schnell geschehen. Das durch die Indoktrination »geschulte Gewissen«, analog zu Freuds Über-Ich, hatte für fast alles eine Anweisung oder Verhaltensregel parat. Spontane Verführung oder Experimentieren mit dem anderen Geschlecht, mit sich oder ähnliche Vergnügungen verboten sich von selbst, und allein Gedanken in diese Richtungen konnten zu schweren Gewissensbissen führen – natürlich immer in Verbindung mit der Angst vor dem Zorn Gottes, also vor Harmagedon. Genügte das eigene Gebet nicht oder wurde eine Verfehlung bekannt, kam »Unterstützung« von einem »Komitee«, einem Ausschuss entsprechender Würdenträger, Wächter des Guten und Reinen, die nach der gründlichen Beichte »liebevollen Rat erteilen« und über Höhe und Art eventueller Sanktionen entschieden.

Das Perfide an der Form der »Schulung«, also der Indoktrination (es muss so genannt werden, denn eine Abweichung oder eine individuelle Interpretation der Inhalte ist nicht erlaubt) ist, dass sie überwiegend durch sich selbst geschieht. Ein jeder »studiert« die Publikationen und andere Medien des Zentralorgans selbst, er arbeitet selbst an der Verinnerlichung der Inhalte, er passt seine Persönlichkeit dem vereinheitlichten Dogma an. Das Ergebnis ist ein »Uniform-Glaube«, eine Gottesnähe im Eltern-Kind-Verhältnis. Und alle »Brüder« achten natürlich gegenseitig auf entsprechende Linientreue.

Schmerzhafte Diskrepanzen

Nein, Geburtstags- oder Weihnachtsfeiern habe ich nicht wirklich vermisst. Distanz zur »Welt« gehörte nun einmal zum Verständnis von »Heiligkeit«. Heiligkeit ist ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis

»Heiligkeit ist ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis.«

Das Gefühl der Heiligkeit macht ihn zu etwas Besonderem; er ist nicht länger nur passiver Teil eines großen, nicht greifbaren Prozesses. Er erlebt sich im Heiligen, als aktiv und bewusst damit verbunden – das Heilige ist das Erwachen des Göttlichen zu sich selbst. Aber es braucht das Profane dazu, vielleicht sogar den Antagonisten als Feindbild, und das ist nun einmal für den Gläubigen die »böse« Welt, zu der es Distanz zu wahren gilt. Als Teenager führte das bei mir immer wieder zum Doppelleben. Alkohol, »falsche« Musik, ein Flirt, mal eine Zigarette – die Gewissensbisse, die solche Exkurse mit sich brachten, waren heftig. Ich glaubte jedes Mal, Gottes Gunst und damit meine Zukunft verspielt zu haben.

Möglicherweise hat mich diese Distanz natürlich auch vor unangenehmen Erfahrungen geschützt. Dennoch ist der Preis für diesen Schutz hoch: Eine gesunde Reifung durch Ausmittelung der eigenen Bedürfnisse, der Abgleich dieser durch Reibung an der sozialen Umwelt kann nicht oder nur einseitig stattfinden.

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Je größer die Summe der Lebenspraktiken, in denen man sich von der »Welt« unterscheidet, umso näher ist man Gott. Es ist die klassische Funktion von Feindbildern, die die Absurdität der eigenen Glaubensgebilde unsichtbar werden lässt. Eine Ideologie kann dann Formen annehmen, die kaum mehr Grenzen innerhalb des gesunden Verstandes oder der allgemeinen Erfahrung haben. Gott ist eben auch »anders«. Die »Welt« hat sich so sehr von ihm entfernt, dass kaum mehr eine Ähnlichkeit zu ihrer göttlichen Abstammung zu erkennen ist. Sie ist nicht zu retten. Daher ist ihre Beseitigung – de facto ihre Vernichtung – die einzige Lösung. Danach kommt der »Reset«, die Welt, wie sie eigentlich sein sollte, wie sie von Gott gemeint war. Die darin schlummernden Widersprüchlichkeiten bleiben unsichtbar, auch wenn sie von außen überdeutlich sind. Wer darin nicht eine göttliche Gerechtigkeit und Liebe erkennt, ist eben noch verblendet.

Von wem? Ach so, von Satan natürlich. Der ist nämlich der große Verführer. Er steckt so ziemlich hinter allen Versuchungen. Der Mensch ist also immer auch Opfer, nie ganz autonom in der Gestaltung seines Schicksals. Im Prinzip sind wir Menschen Protagonisten eines kosmischen Spektakels, einer Wette zwischen Gott und seinem Gegenspieler, dem Teufel. Entscheidet sich der Mensch für Gott oder gegen ihn? Gewinnt das Gute oder das Böse? Natürlich ist dieses Spiel vom Teufel so gut maskiert, dass es keinem mehr auffällt. Dadurch hat er auch die meisten Spielfiguren auf seiner Seite gesammelt. Zum Glück ist Gott stärker und ein schlechter Verlierer.

Gott ist nämlich in unserem Modell nicht völlig frei. Er ist gewissermaßen auf unsere »Anbetung« angewiesen. Ansonsten könnte er die Welt ja lassen, wie sie ist, und bräuchte nicht für deren Erneuerung zu sorgen! Also trage ich als kleiner Mensch eine gewaltige Verantwortung: Gottes Ruf steht auf dem Spiel, und nur wir Menschen können ihn retten! Zum illustren Publikum gehören natürlich himmlische Wesen wie Engel … und nein, auch diese haarsträubende (Un-)Logik fällt nicht auf, wenn man sich auf der hellen Seite wähnt. Denn es gibt einen gut funktionierenden Mechanismus der Kritikabwehr. Im Prinzip verfügt jeder Mensch darüber, denn sonst könnte er seine Identität nicht durchgängig aufrechterhalten: Es ist nämlich kaum möglich, die Vorstellungen, die wir persönlich von der Welt haben, andauernd aufs Neue zu hinterfragen. Wird aber »persönlich« deckungsgleich mit einer Ideologie, müssen diese Abwehrmechanismen verallgemeinert und normiert werden. Sie müssen regelmäßig gewartet und aktualisiert werden. Jedes »Update« muss installiert werden, eine individuelle Angleichung funktioniert nicht. »Mit der Organisation Schritt halten« lautete die Begründung, die eine Dynamik vorgaukelte, die es nicht gibt.

Ich habe das später eifrig von der Bühne aus meinen »Brüdern und Schwestern« gepredigt. Meine Überzeugung war dabei durchgängig echt. Tondokumente aus dieser Zeit verstören mich heute immer noch.

Der Sinn des Lebens? Die Zukunft!

Ja, natürlich, es ist im Kern ein naiver Glaube. Aber gerade in seiner Einfachheit liegt der Reiz, die Nähe Gottes zum »Volk«, nicht seine Unergründlichkeit, sondern das Klare und Polarisierte, was die »Wahrheit« so deutlich und die »Gute Botschaft für alle Völker« so verständlich macht. Die Falle heißt Selbstverständlichkeit. Die Gewohnheit des Selbstverständlichen lässt das Hohle, Geistlose, das Unlogische und das Widersprüchliche unsichtbar werden. Es ist ein Leben in der Warteschleife: das versprochene Paradies, das vor der Türe steht, das man sich und anderen predigt, das aber nie kommt. Die Gegenwart dient nur der imaginierten Zukunft, in der dann das »wirkliche« Leben beginnt. In dieser Hoffnung wachsen Menschen auf, werden alt und sterben. In der Gegenwart lebte ich wie alle meine Brüder und Schwestern mit einem »Gefühl der Dringlichkeit«, das uns motivierte, »reichlich beschäftigt zu sein im Werke des Herrn« – eben nicht im Dienste des eigenen Lebens. Gott und ich, seine Interessen und meine, das sind eben in einem solchen Glauben völlig getrennte Dinge. Er braucht mich und ich brauche ihn, so die Prämisse, und ganz glücklich sind wir beide damit nicht.

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Totalitarismus in solch »weichen« Strukturen ist fast nur von außen erkennbar, von innen nur sehr schwer. Und wenn er »von innen« erkannt wird, weil die mentale Kritikabwehr nicht mehr durchgängig funktioniert und sich nicht mehr ausschließlich gegen das eigene Denken richtet, gibt es kaum mehr einen Weg zurück. Ein Zersetzungsprozess beginnt, der immer mehr Nahrung findet. Die Lehren und Glaubensinhalte zeigen Widersprüchlichkeiten, die eigene Glaubenspraxis wird als unstimmig erfahren. Man ist auf einmal im Kampf gegen sich Selbst. »Floating«, ein Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, setzt ein. Das Gewissen brennt durchgängig, denn es ist jetzt ständigen Attacken ausgesetzt. Zum einen scheint die geliebte Überzeugung, der man letztendlich sein ganzes Leben geopfert hat, auf einmal auf wackeligen Beinen zu stehen: Soll das alles umsonst gewesen sein? Der ganze Verzicht, das stille Leiden unter Spott und Ausgrenzung? Tausende von investierten Stunden, die omnipräsente Anspannung, die man sogar mit in den Urlaub genommen hat? Die riesige Überwindung jedes Mal aufs Neue, wenn es ans Missionieren bei Wind und Wetter ging? Und überhaupt: Es kann doch nur eine Wahrheit geben?

Zum anderen schimmert der böse Verdacht durch, dass tatsächlich etwas »nicht stimmt«. Dann müsste das aufgeklärt werden, nicht zuletzt auch um der Ehre Gottes willen. All das ist unglaublich zermürbend. Kaum eine Sekunde, in der meine Gedanken nicht um diese Fragen kreisten.

Beginnende Zweifel

Dieser Zustand stellte sich bei mir Mitte 30 ein, und er war meinem Hang zur Gründlichkeit zu verdanken. Tatsächlich glaubte ich, die »Organisation Gottes« deute lediglich Details der heiligen Schrift unzureichend, und es bedürfe nur der gründlichen Nachforschung, um die Widersprüche aufzuklären. Stattdessen wurden derer mehr, je tiefer ich grub. Ich verbrachte über ein Jahr lang jeden Abend mehrere Stunden damit, die Inhalte der Glaubenslehren zu überprüfen, und unterhielt einen engen E-Mail-Kontakt mit einem Freund, der sich bereits von der Gemeinschaft distanziert hatte, ohne dessen Unterstützung ich wahrscheinlich in eine noch tiefere seelische Krise gestürzt wäre.

Unausweichliche Konsequenzen

Der Point of(k)no(w)Return ist schnell überschritten, verpflichtet man sich zur schonungslosen Ehrlichkeit mit sich selbst. Die alte Heimat muss aufgegeben werden. Nach der inneren Kündigung verbleibt noch ein wenig Restschwung, besonders auch, um die freundschaftlichen Bindungen nicht allesamt sofort kappen zu müssen. Denn genau das ist in letzter Konsequenz nötig. Der Austritt ist ein Austreten aus einer warmen, aber engen Stube in eine weite, aber frische Welt. Nun müssen alle Fragen noch einmal beantwortet werden. Der Horizont ist auf einmal in weite Ferne gerückt. Das eigene Leben, die eigenen Werte müssen völlig neu justiert werden. Neue Lebenswelten müssen erschlossen werden, ohne dabei übers Ziel hinauszuschießen: Die Verlockung ist groß, denn jetzt »darf« auf einmal alles sein. Ich hatte als Musiker und Motorradliebhaber zu meinem großen Glück einen Freundeskreis außerhalb der Gemeinde, was eigentlich eine Seltenheit darstellt. Ich weiß nicht, wie es mir ohne diesen ergangen wäre. Nachdem ich meinen Austritt offiziell erklärt hatte, zogen sich meine Eltern und sämtliche Familienmitglieder, die der Glaubensgemeinschaft angehören, von mir zurück. Es gab nur noch einen gestelzten Kontakt zu offiziellen Anlässen. Auch gibt es von dort keinen Respekt vor meiner Haltung, denn ich habe ja den wahren Glauben und Gott verraten, »ihn Gott vor die Füße geworfen«, wie es meine Mutter ausdrückte. Dabei interessierten die Gründe genauso wenig wie meine Beteuerungen, dass ich mich immer noch dem christlichen Glauben verpflichtet fühlte.

Ein Blick zurück

Warum glaubte ich diesen Glauben? Ich würde sagen, es waren mein Wunsch und meine Überzeugung, dass die Welt eine bessere sein könnte. Und auch, dass ich mit meinem Leben in diesem Glauben einen Beitrag dazu leisten könnte. Jetzt, über zehn Jahre danach, glaube ich immer noch, dass die Welt eine bessere werden könnte, aber nun frei von Dogmen. Ich erlebe jeden Tag frisch und neu. Eine gesunde Skepsis ist geblieben und ein kritischer Blick auf Eingefahrenes und Selbstverständlichkeiten. Es dauerte allerdings lange, bis ich lernte, die Prioritäten in meinem Leben selbst zu wählen und durchzusetzen und überhaupt meine spezifischen Bedürfnisse zu erkennen. Ich hatte bis dahin noch nie mein Leben gelebt. Ich entdecke auch immer wieder ein gewisses Getrieben-Sein in mir, eine drängende Rastlosigkeit, ein »schlechtes Gewissen« in Momenten der Ruhe und des Nichts-Tuns. Die Angst, wertvolle Zeit zu »vergeuden«, ist tief eingegraben in mir: Harmagedon drängt sozusagen noch immer.

2016 habe ich einen Ratgeber »Das versprochene Paradies« veröffentlicht. Darin beleuchte ich die inneren und äußeren Prozesse, die möglicherweise auf einen Ausstiegswilligen zukommen. Am Markt sind viele Aussteigerberichte erhältlich; doch ich wollte meine Erfahrungen in einer Weise nutzen, die anderen eine praktische Hilfe ist. Nach verschiedenen Aus- und Weiterbildungen berate ich heute Aussteiger und deren Angehörige online.

Sekte überall?

Es erscheint mir heute gelegentlich so, als wäre unsere »aufgeklärte« westliche Welt selbst eine »Sekte«, gefangen in ihren Glaubenssätzen und Dogmen, die den Horizont bilden und damit die Wirklichkeit begrenzen. Auch hier finde ich einen Mainstream, der Glaubensinhalte formuliert, der klare Feindbilder hat, der abweichende Weltbilder attackiert und der medial subtil manipulativ auf seine »Schäfchen« einwirkt. Es gibt hier hinter dem proklamierten Pluralismus auch nur eine offizielle klar verständliche und fast naive »Wahrheit«, stringent verfochten von der »Scientific community«, alternative Modelle werden belächelt oder sogar angegriffen. Ein jeder manipuliert sich in gewissem Maße selbst, indem er propagierte politische oder weltanschauliche Fragen adaptiert und die Quellen dieses Wissens für sakrosankt hält. 

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Es wird immer mehr durch »Glaubenswächter« – personifiziert durch »Fachausschüsse«, Kommissionen oder wissenschaftliche Repräsentanten – an das »Gewissen« des Einzelnen appelliert, beispielsweise in Gesundheitsfragen und Fragen der persönlichen Ethik. Auch hier ist es die Selbstverständlichkeit, mit der die bestehenden Normen als »normal«, also verbindlich und richtig, verinnerlicht und zur Gewohnheit geworden sind. Nicht zu übersehen ist auch die schleichende Vereinheitlichung der Welt durch eine Vereinheitlichung der Sprache. Verallgemeinerungen werden mit größter Selbstverständlichkeit in Nachrichten platziert und als nicht hinterfragbare »Tatsachen« hingestellt. Dann werden diese »Tatsachen« als Faktenwissen behandelt, als gesicherte Erkenntnis und als nicht zu bezweifelnde Prämisse. Dem Einzelnen bleibt es nicht länger überlassen, sich die Zusammenhänge selbst herzuleiten, zu übermächtig ist der Berg an Informationen. Dankbar wird die Vor-Interpretation den Fachleuten überlassen. Zunehmend ist das auch in der Esoterikszene zu beobachten. Und nicht zu übersehen ist auch die Bedingung des kapitalistischen Systems, das eine »bessere« Zukunft verspricht, die an den Besitz zu erwerbender Güter gekoppelt ist.

Zu ähnlich ist der Duktus, nach dessen Gesetzen unser System und ein Sektensystem funktionieren: Hier wie dort geht es um die Freiheit des Einzelnen, die ihn in dem Verhältnis unkontrollierbarer macht, in dem sie zunimmt.

»Überzeugung kann sich nur an der eigenen, inneren Wahrheit orientieren, nie an den Fakten der äußeren Welt.«

Diese Analogien werfen Fragen auf, die zur kritischen Auseinandersetzung herausfordern. Verteidigen wir nicht selbst hitzig unsere Überzeugungen und urteilen schnell über alles, was uns unverständlich erscheint? Wähnen wir uns nicht selbst meist im Besitz der »Wahrheit«? Glauben wir nicht auch an ein ökologisches oder anders geartetes »Harmagedon«? Ich will nicht moralisieren. Aber wir dürfen nie aufhören, zu hinterfragen, nie Wissen zur Überzeugung gerinnen lassen, denn Überzeugung kann sich nur an der eigenen, inneren Wahrheit orientieren, nie an den Fakten der äußeren Welt, die ein Abbild des kollektiven Wandels ist. Unsere Verwurzelung muss in unserer Existenz selbst liegen, nicht aber in der Summe dessen, was wir für gegeben oder gar »alternativlos« halten. Veränderung zu wirklichem Wachstum hin, in dessen Zentrum der Mensch selbst steht, kann nur geschehen, wenn wir wirklich offenbleiben und nicht das am Leben erhalten, von dem wir wissen, dass es Schaden anrichtet und nicht seine Quelle in uns selbst hat.

Marcus Zeller

Zum Autor 

Marcus Zeller ist Jahrgang 73 und Pädagoge. Neben der Beratung von Hilfesuchenden widmet er sich dem Wesentlichen im Leben: Familie, Musik und Philosophie.

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