Gemeinschaft als Lebensexperiment
Claus Reimers verbringt bereits sein halbes Leben in Gemeinschaften, von WGs über das Leben in einer Kommune zum Gemeinschaftsdorf »Schloss Tempelhof«, das er mitgegründet und realisiert hat. Im folgenden Gespräch beleuchten wir die Schönheit sowie die Herausforderungen des Gemeinschaftslebens, und Claus erlaubt uns einen lebendigen Einblick in die Lebenswirklichkeit des Schlosses Tempelhof.
Tattva Viveka: Ich begrüße Claus Reimers, der seit der Gründung im Jahr 2010 in der Gemeinschaft »Schloss Tempelhof« in Kreßberg im nördlichen Baden-Württemberg lebt.
Wie entwickelte sich dein gemeinschaftlicher Werdegang? Ist Schloss Tempelhof die erste Gemeinschaft, in der du lebst?
Claus Reimers: Der Tempelhof ist nicht meine erste Gemeinschaftserfahrung. Bereits als Jugendlicher hat mich das gemeinschaftliche Leben angezogen. Als ich 16 war, wurde in der norddeutschen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, die erste Wohngemeinschaft gegründet, in der Freunde von mir lebten. Während meines Studiums lebte ich dann selbst in einer WG und später lange Zeit in einer Kommune. Am Tempelhof bin ich von Anfang an dabei. Es gab in München einen Kreis, in dem verschiedene, schon bestehende Lebensmodelle vorgestellt wurden und über die dortigen Erfahrungen berichtet wurde. Diese Gruppe suchte bereits seit einer Weile nach einem geeigneten Objekt für ein Gemeinschaftsprojekt. 2008 haben wir uns der Gruppe angeschlossen, aber die Suche zog sich zwei weitere Jahre hin, denn die Umgebung rund um München ist teuer, und wir wollten ursprünglich nicht weiter als 40 Kilometer von München weg, da viele dort berufstätig waren. Nach zwei Jahren googelte schließlich einer »Dorf zu kaufen gesucht«, und so tauchte der Tempelhof auf. So wurde unser Gemeinschaftsdorf nach vielen Jahren Vorbereitung schließlich geboren. Die meisten Gebäude gab es bereits, jedoch standen sie lange Zeit leer und waren renovierungsbedürftig.
»Gemeinschaft und Poesie begleiten mich mein Leben lang.«
Mein Leben hing immer mit Gemeinschaft zusammen, so lange ich denken kann. Ich lebte zwar zeitweise mit Partnerin und Kindern als Familie, aber wir haben trotzdem immer nach gemeinschaftlichen Lebensmodellen Ausschau gehalten.
Mit der Poesie (Claus Reimers gab gemeinsam mit Maria Keil das Poesiebuch »ich du wir es – Poesie in Gemeinschaften« heraus) ist es ähnlich. Sie zog mich von Anfang an in ihren Bann. Gemeinschaft und Poesie begleiten mich mein Leben lang.
TV: Du hobst hervor, dass du einige Jahre lang in einer Familie lebtest. Welche Unterschiede nahmst du zwischen dem Leben in einer Familie, so wie es die Menschen in Deutschland überwiegend kennen und leben, und dem Leben in einer Gemeinschaft, in der man zu seinen Mitmenschen in den meisten Fällen keine familiäre Bindung hat, wahr?
Claus: Eine Familie ist kleiner und überschaubarer. Die Größe spielt eine wesentliche Rolle. Ich habe in WGs mit fünf bis sechs Menschen zusammengelebt und ebenso lange wie in einem familiären Lebensmodell (ca. 16 Jahre) auch in großen Gemeinschaften – wie hier am Tempelhof, wo wir momentan über 100 Erwachsene und 50 Kinder sind. Wir sind ein Dorf, in dem uns über die Beteiligung an Stiftung und Genossenschaft alles selbst gehört: Wir haben eigene Betriebe wie Hofladen, Schule, Seminarbetrieb, Handwerksbetriebe oder Großküche, betreiben eine biologische Landwirtschaft und haben die »Schatzkammer«, einen Gib-und-Nimm-Laden, der allen zur freien Verfügung steht. Parallel dazu laufen viele soziale Prozesse, die weit über das hinausgehen, was ich im Familienleben kennengelernt habe. Als Paar und Familie zu leben, kann wunderschön sein, aber es hat auch die Tendenz zur Enge, bringt etwas Ausschließendes mit sich. Dabei spreche ich hier sowohl als Mitglied vom Tempelhof, denn ich lebe hier und schätze es sehr, als auch als Individuum, also von mir selbst und meinen Erfahrungen, die ich sowohl in und mit Gemeinschaft als auch im Familienleben gemacht habe, und diese gehen über das, was nur den Tempelhof betrifft, hinaus.
Mittlerweile sehe ich mich weder als Single noch als Paarbeziehungs-, Wohngemeinschafts- oder Kommunemensch. Ich übe mich darin, aus mir heraus mit dem, was aktuell geschieht, spontan und stimmig umzugehen, und möchte nicht in eine Schablone gedrückt werden oder mich selbst dort hineinmanövrieren.
»Gemeinschaft ist ein Konzept, ein Konstrukt, das viel Schönheit in sich birgt, aber auch viel Prozessarbeit einfordert.«
Gemeinschaft ist ein Konzept, ein Konstrukt, das viel Schönheit in sich birgt, aber auch viel Prozessarbeit einfordert. Wenn man Vielfalt will und es keinen Guru gibt, der einem sagt, wo es langgeht, und dem alle folgen, kann sich das als anstrengend entpuppen. Man muss sich mit den vielfältigen Meinungen auseinandersetzen, um zu Entscheidungen zu gelangen, die wir wirklich gemeinsam treffen. Diese Prozesse kosten Zeit und Energie, das muss man wollen. Wenn ich das nicht möchte, ist Gemeinschaft womöglich nicht das Richtige für mich. Das habe ich in einer Familie in dem Ausmaß nicht.
TV: Ich las auf eurer Homepage, dass ihr keinem politischen, geistigen oder anderen theoretischen Dogma folgt, so wie es beispielsweise politische oder spirituelle Gemeinschaften tun, die ein gemeinsames Ziel oder eine gemeinsame Vision haben. Welche ist eure gemeinsame Vision? Was verbindet euch in der Vielfalt?
Claus: Das ist eine gute Frage, die uns ebenfalls von Zeit zu Zeit intern beschäftigt. Unsere Werte und Visionen sind stichpunktartig folgende: Vielfalt, All-Leader-Prinzip, Aufbau einer Kommunikations- und Beziehungskultur, Eigenverantwortung für mein Handeln, Gewaltlosigkeit sowie ökologische und ökonomische Transformation. Da wir keine vorgegebene spirituelle, religiöse oder andere geistige Ausrichtung haben, braucht es immer wieder die Auseinandersetzung, wenn es darum geht, wie wir mit bestimmten Themen umgehen. Die Vielfalt und das All-Leader-Prinzip brauchen von den Mitgliedern einer Gemeinschaft die Bereitschaft, persönliche Einstellungen und Verhaltensmuster zu hinterfragen. Die Verantwortung für mich, mein Handeln und meine Emotionen bleibt bei mir. Das ist in meinen Augen ein wesentlicher Punkt. Wir möchten Vielfalt zulassen und kein Dogma entstehen lassen. Bei uns werden unterschiedliche spirituelle Richtungen gelebt, es gibt keine gemeinsame Ausrichtung in dem Sinne, dass man etwas Bestimmtes tun oder glauben muss, um dazuzugehören. Das ist ein Wert, den ich sehr schätze, weil ich es bereits anders erlebt habe und weiß, was infolgedessen passieren kann. Vielfalt fordert Achtsamkeit und ist dauerhaft herausfordernd. Das zeichnet uns womöglich aus.
TV: Welche war die ursprüngliche Motivation, um solch eine große Gemeinschaft wie die, die auf Schloss Tempelhof lebt, zu gründen?
Claus: Die dörfliche Struktur war von Anfang an wesentlich, um eine eigene Landwirtschaft, einen nachhaltigen Lebensstil und eine gewisse Autarkie aufzubauen und leben zu können. Dafür braucht es eine bestimmte Größe. Bevor wir den Tempelhof fanden, realisierten wir, dass es schwierig ist, um München herum ein bezahlbares Objekt zu finden, und überlegten bereits, uns in etwas Kleineres mit mehreren Häusern aufzuteilen – wir haben eine solche kleine Einheit damals Nukleus genannt –, denn das Große schien nicht mehr erreichbar. Dann fanden wir den Tempelhof und konnten unsere Vision realisieren. Zudem wollten wir ein Modell für gemeinsames, geistig freies, selbstverantwortliches Leben schaffen, das in dörflichen Strukturen gelebt werden kann.
TV: Welche war deine persönliche Motivation, um in eine solch große Gemeinschaft zu ziehen? Denn du unterscheidest selbst deine persönliche Motivation von der gemeinschaftlichen.
Claus: Ich wollte immer in Gemeinschaft leben. Das ist, sobald ich von zu Hause ausgezogen war, meine Ausrichtung gewesen. Ich brauche entsprechend meiner Wesensart und aufgrund meiner Erfahrungen offenbar etwas Größeres, als nur zu zweit oder im kleinen Kreis zu leben, einmal um mich selbst zu objektivieren und von mehreren Menschen wahrgenommen zu werden, und zweitens nehme auch ich den anderen anders wahr, je nachdem, ob ich zu zweit oder in einem größeren Kreis bin. Diese Objektivierung fühlt sich für mich heilsam an und ist ein Grund, wieso ich in einer Gemeinschaft leben wollte. Für mich stand also nicht in erster Linie die Ökonomie oder Ökologie im Vordergrund, sondern es waren die sozialen Räume.
Wir haben bereits vor dem Tempelhof regelmäßig Wir-Prozesse gemacht, um einander zuzuhören, um gehört zu werden und uns in einer bestimmten Tiefe kennenzulernen, die erst das Vertrauen schafft, das man für solch ein Projekt braucht. Die Wir-Prozesse bauen auf der Community-Building-Methode von Scott Peck auf, die aus etwa zehn Empfehlungen besteht. Für einen Wir-Prozess nehmen wir uns jeweils ein Wochenende Zeit. Diese Methode ermöglicht eine besondere gemeinsame Tiefe. Es gibt niemanden, der die entstehenden Prozesse leitet und in eine Richtung lenkt. Eine solche Leitung kann in einem anderen Setting zwar sinnvoll sein, aber das All-Leader-Prinzip im Wir-Prozess ist essenziell, damit wir lernen, uns auf Augenhöhe zu begegnen. Diese Augenhöhe ist in Gemeinschaften wichtig, und ich muss sehr achtsam sein, damit sie nicht verloren geht. Allzu leicht sind wir verführt, Verantwortung abzugeben. Natürlich ist es in Ordnung und oft auch sinnvoll, Verantwortung an kompetente Personen abzugeben, aber nicht, seine eigene soziale Verantwortung loszulassen.
Kontinuierliche soziale Räume sind sowohl für die persönliche als auch für die gemeinsame Entwicklung von Bedeutung, da wir alle gehört werden möchten. Wir erzählen gerne, und wir hören gerne zu, weil wir darüber informiert sein wollen, was in unserem Umfeld vor sich geht. Das ist etwas zutiefst Menschliches. Dieser Austausch hat eine andere Qualität, wenn ich kontinuierlich soziale Räume in einer Gemeinschaft habe, als wenn ich nur zu zweit oder im kleinen Rahmen spreche und höre.
Es gibt bei uns unterschiedliche soziale Räume: Manche finden wöchentlich statt – wie das Sozialforum am Mittwochabend –, andere mehrmals im Jahr. Neben dem Wir-Prozess gibt es auch das Format des »Forums«. Es findet in einem Sitzkreis statt, in dessen Mitte man sich begibt und über das spricht, was einen bewegt. Das Forum wird von zwei FazilitatorInnen begleitet, die einen darauf aufmerksam machen, mit welchen Aspekten man sich intensiver befassen könnte, und es gibt die Möglichkeit eines Feedbacks durch die Gruppe, wenn man es möchte. Ein paar Mal im Jahr haben wir zudem Intensivzeiten, bei denen wir ein bestimmtes Thema, wie zum Beispiel Ökologie oder Ökonomie, über ein Wochenende oder (zum Jahreswechsel) sogar über eine ganze Woche behandeln. Die Jahreswechsel-Intensivzeit ist länger und geht tiefer, da wir zusätzlich zu den anstehenden Themen einen Rückblick machen, das heißt uns damit befassen, was im Jahr geschehen und uns gelungen ist und an welchen Punkten wir im neuen Jahr weiterarbeiten möchten. Dabei besteht ebenfalls die Möglichkeit, soziale und emotionale Themen einzubringen und sich mit diesen zu zeigen.
TV: Wie verläuft euer Entscheidungsfindungsprozess?
Claus: Es gibt unterschiedliche Entscheidungsfindungsprozesse, je nachdem, um was es geht. Bei Entscheidungen bezüglich Personen, zum Beispiel wenn neue Menschen in die Gemeinschaft eintreten möchten, haben wir ein vierstufiges Abstimmungsverfahren: Ja, Enthaltung, Nein und Veto. Für die Aufnahme braucht die Person zwei Drittel der Jastimmen. Vetos können die Aufnahme blockieren.
Beim Konsensprinzip ist es anders: Dort ist das Verfahren sechsstufig. Wir wenden es bei fast allen anderen Entscheidungen an. Hier gibt es die Jastimmen, leichte Bedenken, Enthaltung, schwere Bedenken, Beiseite-Treten und Veto. Wenn kein Veto eingereicht wird, wird der Beschluss angenommen. Beiseite-Treten bedeutet, dass man zwar nicht dafür ist, aber der Entscheidung auch nicht im Wege steht. Darüber hinaus haben wir über die Jahre weitere abgestufte Verfahren entwickelt.
»Die wirklich großen Entscheidungen werden von allen im Dorfplenum getroffen.«
Unsere Betriebe haben eine gewisse Entscheidungseigenständigkeit mit einem bestimmten Finanzbudget. Einiges können sie selbst im Betrieb entscheiden. Dann gibt es den Unternehmerkreis, bei dem sich Vertreter der Betriebe treffen und das, was es in den Betrieben zu entscheiden gilt, gemeinsam bewegen und sich gegenseitig unterstützen. Ein weiteres Gremium ist das Bewohnerplenum, für das aus dem Dorf Anträge eingereicht werden können. In die Antragstexte und die dazugehörenden Unterlagen haben alle vorher Einsicht, um sich vor dem Bewohnerplenum damit befassen und entsprechend gut informiert abstimmen zu können. Die wirklich großen Entscheidungen werden von allen im Dorfplenum getroffen.
Wir haben zudem folgenden Ablauf der Entscheidungsfindung entwickelt, den ich als wertvoll erachte: Zuerst wird ein Antrag vorgestellt und es können Sachfragen dazu gestellt werden. Dann gibt es ein sogenanntes Meinungsbild (noch keine Abstimmung). Danach findet ein Austausch über das Meinungsbild statt: Aus welchen Gründen bin ich für oder gegen etwas, wieso habe ich Bedenken oder enthalte mich? Nach diesem Austausch verändert sich die eigene Sichtweise oft noch, denn man wird sich eventuell weiterer Aspekte des Themas bewusst. Erst daraufhin wird endgültig abgestimmt. Im Laufe der Jahre haben wir so eine Achtsamkeit entwickelt, um mit Entscheidungsfindungen transparent und konstruktiv umzugehen.
TV: Könnten wir konkreter auf den Punkt eingehen, wie das Verfahren verläuft, wenn jemand bei euch einziehen möchte?
Claus: Dafür existiert bei uns ein abgestuftes Annäherungsverfahren. Angenommen, jemand interessiert sich für Gemeinschaft, so kann er oder sie ein Info-Café besuchen, bei dem man einen ersten Einblick in das Gemeinschaftsleben bekommt. Eine weitere Stufe ist das Kennenlern-Wochenende, bei dem man ein ganzes Wochenende auf dem Tempelhof und in Workshops, Gesprächsrunden etc. verbringt. Als Nächstes kommen GIP (GemeinschaftsIntensivProzess) und WIA (Wir in Aktion) – das heißt, man ist als Gruppe eine Woche beziehungsweise zehn Tage am Tempelhof, durchläuft Gruppen- und Wir-Prozesse und erarbeitet gemeinsam ein Projekt (siehe unter www.schloss-tempelhof.de). Wer dann immer noch nicht genug von Gemeinschaft hat, wird nach Rücksprache mit dem Dorf vom SWK (Sozialer Wachstumskreis) angesprochen und zum Biografieabend eingeladen, auf dem sich die Person, die dazukommen möchte, biografisch vorstellt. Danach findet im Dorf eine Abstimmung über eine mögliche Annäherung der Person statt. Die Annäherung selbst dauert insgesamt ein Jahr. Nach einem halben Jahr gibt es Feedback für die sich annähernde Person und auch diese beschreibt selbst, wie sie sich im Dorf fühlt. Es ist wichtig, dass der/die AnnäherIn in diesem einen Jahr möglichst viel Zeit am Tempelhof verbringt, im besten Falle dort wohnt. Erst nach einem Jahr äußert man dann den Wunsch, in die Genossenschaft aufgenommen zu werden (oder auch nicht), und erhält das Okay vom Dorf wieder in einer vierstufigen Abstimmung. In den meisten Fällen spürt man schon im Vorfeld beidseitig, ob eine Aufnahme stimmig ist oder nicht. So in etwa verläuft die Annäherung, um Teil der Gemeinschaft zu werden. Diese Prozedere sind bei vielen großen Gemeinschaften relativ ähnlich. Als Gemeinschaftsinteressierte/r muss ich diesen »Slalom« durchlaufen, um ein Gefühl für das Gemeinschaftsleben zu bekommen, bevor ich diesen Schritt in mein neues Leben wirklich mache.
TV: Die Bewohner des Schlosses Tempelhof engagieren sich in verschiedenen Arbeitsbereichen beziehungsweise Projekten. Dein Arbeitsbereich ist Kunst und Kultur, deshalb möchte ich dich fragen, welche Bedeutung künstlerische und kulturelle Projekte in eurer Gemeinschaft spielen.
Claus: Mein persönlicher Blick auf Kunst ist ein anderer als der des Kunstmarktes. Ich finde, dass ein Großteil dessen, was auf dem Kunstmarkt geschieht, der eigentlichen Idee von Kunst entgegengesetzt ist. Kunst ist für mich Lebensgestaltung und hat etwas mit meinem innersten Wesenskern zu tun. So sind Sprache, Bewegung und das gesamte Zusammenleben im Grunde Gestaltungskunst. Wenn ich achtsam mit mir und meinem Umfeld bin, bin ich gestaltend tätig. Ich wusste als junger Mensch nicht, dass mir dies so wichtig ist, denn sonst hätte ich etwas anderes studiert und mich vermutlich anders ins Leben bewegt. Ich habe mich im Laufe meines Lebens immer wieder auf die Suche begeben. Etwas zog mich stark an, dann habe ich es ausprobiert. So gesehen führe ich wohl eher ein experimentelles Leben, wie auch die Gemeinschaft ein ununterbrochenes Experimentieren ist. Das mag ich. Gleichzeitig ist es herausfordernd.
Ich spreche dabei der Kunst eine wesentliche Rolle in meinem Leben zu, weil sie große Freiheiten und Bewusstwerdungsprozesse ermöglicht. Künstlerischkreatives findet auf einer anderen als der alltäglichen Vernunftebene statt. Ich schreibe Poesie, male, mache Musik oder tanze. Das funktioniert am besten, wenn ich nicht rational vorgehe und mich so auf unbekanntes Terrain einlasse. Plötzlich tauchen Dinge auf, die mich selbst überraschen. Deshalb liebe ich Poesie, denn ich lasse zu, dass etwas in mir aufsteigen kann, wovon ich zuvor nichts wusste.
»Nach meinem Empfinden spielt Kunst in Gemeinschaften noch eine zu geringe Rolle, weil wir alle sehr viel zu tun haben.«
Nach meinem Empfinden spielt Kunst in Gemeinschaften noch eine zu geringe Rolle, weil wir alle sehr viel zu tun haben: Wir gehen einer Erwerbsarbeit nach, um ein Einkommen zu generieren; wir haben womöglich eine Familie und müssen uns um die Kinder und den Haushalt kümmern; Beziehungen möchten gepflegt werden; wir leisten Gemeinschaftsdienst und Ehrenämter, diese benötigen ebenfalls Zeit; wir beteiligen uns an Plenen und Arbeitsgruppen. Wenn ich das alles zusammennehme, wo bleibt da die Muße, um sich tatsächlich auf Kunst einlassen zu können? Auch unsere sozialen Räume kommen dann leicht etwas zu kurz. Die Arbeit verschluckt die dafür notwendige Zeit.
Ich selbst bin bereits älter, dieses Jahr 69 Jahre, und habe dadurch eine gewisse Freiheit, weil ich mich nicht mehr so intensiv wie früher um Kinder und Gelderwerb kümmern muss. Diese neue Freiheit genieße ich, auch wenn sie eine Umstellung mit sich bringt, denn ich muss lernen, nicht ständig etwas tun zu wollen. So erlebe ich viele in meinem Umfeld. Sie sind bis zum Rand voll mit Arbeit und Verantwortung. Das ist in bestimmten Lebensphasen wichtig und erfüllend, aber auch der Grund, wieso künstlerische Auseinandersetzung und Gestaltung oft zu kurz kommen. Deshalb versuche ich, soweit es mir gelingt, dieses Feld bei uns möglichst offen zu halten und kulturelle oder künstlerische Veranstaltungen zu organisieren. Mir ist es wichtig, dass die Kunst ihre Wertigkeit behält, jeder mit Kunst in Berührung kommen und sie für sich entdecken kann. Als »KuKuK« (Kunst-und-Kultur-Kapelle) treffen wir uns wöchentlich, um uns über unsere künstlerischen Aktivitäten auszutauschen, sie vorzustellen und neue Events zu planen.
Zwei Dinge möchte ich noch hervorheben. Zum einen: Wir sind nie am Ziel, wir sind immer auf dem Weg. Das ist im Grunde überall so, aber in Gemeinschaft wird es einem durch die vielen Prozesse und Entscheidungen, die wir gemeinsam treffen, stärker bewusst.
Der zweite Satz ist vielleicht etwas provokativ. Es ist ein Frage, die sich jeder Einzelne selbst stellen muss: Frisst die Gemeinschaft ihre Kinder? In welcher Relation stehen die Beweggründe, die mich in eine Gemeinschaft führten, und die Realität, also das, was ich hier Tag für Tag lebe? Besteht zwischen den beiden Polen »ich und wir« eine Balance? Denn im Grunde sind es zwei entgegengesetzte Pole. Auf der einen Seite steht die Individualisierung der vergangenen vielleicht 200 Jahre, die individuelle Freiheit, auf die wir nicht mehr verzichten möchten, und auf der anderen das archaische Bedürfnis nach Gemeinschaft – die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, Nähe, Verbundenheit.
TV: Was hat dich zu dieser offenen Frage geführt?
Claus: Im Grunde alles, was ich zuvor sagte: Gemeinschaft ist ein Sehnsuchtsort. Wir gehen häufig in Gemeinschaft, weil wir etwas erfüllt bekommen möchten, weil mir etwas fehlt, wenn ich nicht in einen Gemeinschaftskontext eingebunden bin. Ohne Gemeinschaft fehlt das Größere, die Objektivierung meiner Handlungen und meines Denkens. Ich glaube, dass die Rückmeldungen von anderen mir gegenüber notwendig sind, um eine innere Wachheit in mir zu bewahren. Ich brauche dieses Eingebundensein und die Reflexion durch Menschen, die mich wirklich kennen und mir nahe sind. Dies habe ich nur in einem Rahmen, in dem eine gewisse Kontinuität im Zusammensein besteht. Nur so kann Vertrauen entstehen, ein Sich-Kennen und auch das Aushalten von Kritik. Niemand hört gerne Kritik, denn sie vermittelt einem das Gefühl, falsch zu sein. Gerade deshalb braucht es einen Raum, in dem ich mich aufgehoben fühle, in dem Kritik sowie Konfrontation geschehen dürfen und bei dem ich weiß, dass das, was das Gegenüber sagt, nicht eine unumstößliche Wahrheit ist, denn die Wahrheit ist viel größer. Für Kritik braucht es eine Vertrauensebene, um diese annehmen zu können. Das ist ein wesentlicher Punkt im Zusammenleben. Ich möchte kein Eremit im Wald oder in einer Großstadt sein. Ich will und brauche Verbundenheit; ich brauche sie, um selbst im Fluss und in Bewegung zu bleiben. Das kann man womöglich für sich auch anders lösen, indem man diszipliniert meditiert oder eine andere spirituelle Praxis ausübt. Für mich ist das Modell der Gemeinschaft immer das gewesen, das mich bisher am meisten angezogen hat. Gleichzeitig merke ich mit dem Älterwerden, wie sehr ich Rückzug, Für-mich-Sein und Stille brauche.
»Gemeinschaft ist ein Sehnsuchtsort.«
Um zur Frage »Frisst die Gemeinschaft ihre Kinder?« zurückzukehren: Haben wir bei all dem, was Gemeinschaft von uns fordert, was größtenteils sinnvoll und notwendig ist, genügend Raum, um unseren Sehnsüchten, die uns ursprünglich in die Gemeinschaft führten, ausreichend Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken? Was ist im Gemeinschaftsleben eventuell ein »Zuviel« und was fehlt? Brauchen wir ein Gemeinschafts-Update, und wie kann das ausschauen? Das sind Fragen, die mich beschäftigen.
Womöglich braucht es auch auf einer völlig anderen Ebene, die wir bisher in unserem Gespräch nicht berührt haben, die aber in manchen Lebensphasen eine sehr zentrale Rolle spielt, etwas Neues. Eine so große Rolle, dass es alles andere eventuell in den Schatten stellt: Das ist die Sexualität. Eine große Gemeinschaft, ein Dorf ist auch ein Findungspool. Man trifft Menschen, die einem nahe sind, die ähnliche Interessen haben, die einen womöglich anziehen und die man attraktiv findet. Wie gehen wir gut damit um? Was braucht es in dieser Hinsicht? In Familien, bei Singles, in Gemeinschaft oder in der sogenannten Polyamorie? Es ist ein weites, spannendes Feld, das die Gemüter seit jeher beschäftigt, seit Jahrtausenden. Dieses Thema heben wir uns besser für ein anderes Gespräch auf.
Das Interview führte Alice Deubzer.
Claus Reimers: Ich habe bereits 69 Jahre erlebt. Aufgewachsen zwischen Nord- und Ostsee, studiert, in WGs gelebt, dann in einer Kommune, schließlich als Familie, Kinder gezeugt, nun wieder in einem Gemeinschaftsdorf (Schloss Tempelhof), jetzt freier, offener und mit mehr Wunsch nach Rückzug als früher.
Leben ist weiterhin ein abenteuerliches Experiment, in dem es um Balance zwischen Anpassen und Aufrechtbleiben, Mut und Zurückhaltung, Hören, Sprechen, Schweigen und dem Finden und Zulassen von Poesie im Alltag geht.
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