Die Grünen vergessen ihre Wurzeln
Dieser Beitrag erschien im September 2021 in Tattva Viveka 88, ist aber Ende 2024 aktueller denn je.
Die Journalistin, spirituell Suchende und Grünen-Parteimitglied Gabriele Heise blickt auf die Entwicklung der Partei der Grünen zurück, von der Protestpartei über ihren Weg zur Volkspartei mit dem Wunsch mitzuregieren, und fragt kritisch, was aus den Visionen und Utopien der Anfänge geworden ist, die Spiritualität und Transformation des Bewusstseins als notwendige Parameter für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung einschlossen.
Ende der 70er-Jahre fuhr ich nach Poona in den Ashram von Bhagwan (später: Osho). Nach Master-Examen und Redakteursausbildung kam die Frage: Was nun? Studentenbewegung, Frauenbewegung, therapeutische Erfahrungen lagen hinter mir. Nun der Beruf als Journalistin? Oder promovieren und im Schutzraum der Uni leben? Sechs Monate in Indien sollten Klärung bringen.
Es folgten Jahrzehnte in meinem Beruf als Hörfunk-Journalistin. Dazu Familiengründung, Zusatzausbildungen, Friedensgruppen, Kulturinitiativen und schließlich: Die Grünen. Nun will ich Bilanz ziehen. Was bedeutet mir die Partei? Wie sieht Bürgersinn in einer Demokratie aus? Fühle ich mich meiner spirituellen Suche noch verpflichtet? Passt das alles zusammen?
Diese Fragen berühren viele Menschen, die Wandel und Transformation suchen. Deshalb also meine Einladung, darüber gemeinsam nachzudenken.
Eine Veranstaltung in Hamburg zum Thema »Sanftmut und Kampfgeist – Wie gehen Politik und Spiritualität zusammen« gab den Ausschlag. Und zeigte die Probleme. Wie geht es weiter?
Als Katharina Fegebank, zweite Bürgermeisterin von Hamburg und Wissenschaftssenatorin, an einem Frühsommerabend 2019, also vor Corona-Zeiten, den Saal des Rudolf-Steiner-Hauses am Mittelweg betritt, erschrickt sie spürbar. 270 Leute sind an diesem Abend gekommen. Überwiegend Frauen. Überwiegend jenseits der 40.
Sie habe angenommen, dass ein Stuhlkreis mit 20 oder 30 Personen sie erwarten würde, meint sie. Eine Fehleinschätzung. Im Saal sitzt das Milieu der Yoga-Praktizierenden, der Meditierenden, viele Psychologinnen und Heilpraktikerinnen. Alles spirituell Suchende, die prüfen wollen, ob sie bei der anstehenden Wahl zur Bürgerschaft in Hamburg noch ihr Kreuz bei den Grünen machen sollen. Auch viele politisch Aktive sind dabei, wie ein Saaltest ergibt. Auf der Bühne neben Katharina Fegebank zwei Meditationslehrer und der Leiter der lokalen GLS-Bank. Thema: »Mit Sanftmut und Kampfgeist – Wie gehen Politik und Spiritualität zusammen?« Sie alle bringen Fragen mit. »Wie überzeugt man jemanden von Spiritualität?« »Wie kann man politische Entscheider durch Meditation erreichen?«
»Viele spirituell ausgerichtete Grünen-Sympathisanten wissen nicht mehr, ob sie bei der Partei noch richtig sind.«
»Welchen Einfluss haben wir als Bürger noch?« Auf diese und ähnliche Fragen findet Katharina Fegebank in den nächsten zwei Stunden nur Antworten, die so allgemein ausfallen, dass sie nicht überzeugen. Sie räumt ein: »Die Gesellschaft ist oft zwei, drei Schritte weiter als die Politik. Wir müssen zuhören, ein Programm formulieren, Mehrheiten finden.« Auch bei der anstehenden Bundestagswahl 2021 zeigt sich nun wieder der Abstand zu diesen Teilen der Wählerschaft. Viele spirituell ausgerichtete Grünen-Sympathisanten wissen nicht mehr, ob sie bei der Partei noch richtig sind. Die Sprache stimmt nicht mehr, die Ziele sind zu machtpolitisch formuliert. Zu kalt, zu resonanzarm für Menschen, die die Welt mit anderen Antennen wahrnehmen.
»Spirituelle Sprachlosigkeit wird inzwischen zu einem Problem der Grünen.«
Spirituelle Sprachlosigkeit wird inzwischen zu einem Problem der Grünen. Dass wir in einer ökologischen Wendezeit leben, bringt die Partei deutlich zum Ausdruck. Sie bedient sich dabei aber der Sprache der Macht. Beim Kampf um Mandate und Ämter gerät die überfällige Wendezeit im Bewusstsein aus dem Blick. Dabei hält die Geschichte der Grünen auch für dieses Feld der Transformation ein Potenzial an klugen, zum Teil missionarisch befeuerten Einsichten bereit. Als sich die Grünen Anfang der 1980er-Jahre auf den Weg in die Parlamente machten, ging es vorrangig um Frieden, Ökologie, Feminismus. Ein alternatives Völkchen zog mit Sonnenblumen und Stricknadeln in die Parlamente ein. Turnschuhe und Birkenstock beherrschten das Bild – nicht Pumps, wie Annalena Baerbock sie wieder auf die Bühne bringt.
Der neue Mensch als politische Vision
Die Wurzeln des New Age waren spürbar. Man sprach noch von »Gaia«, nicht nur von Ökologie. Von Mütterlichkeit statt nur von Emanzipation. Man betonte die Verbundenheit mit der Schöpfung, verstand Meditation und Yoga als Rückkehr zu den Wurzeln und nicht nur als Wege zur Stressbewältigung. Man sprach im Sinne von Rupert Sheldrake von Bewusstseinsfeldern, heute durch die Resonanztheorie von Hartmut Rosa in den aktuellen Diskurs geholt. Small is beautiful, gewaltfreie Kommunikation, das Private ist politisch – das waren Losungen, auf die viele vor 40 Jahren setzten. Ein neuer Mensch sollte wachsen. Sogar eine der ersten Bundestagsabgeordneten, Katrin Zeitler, meinte:
»Um Demokratie auszufüllen und sich liberal zu verhalten, braucht es innerlich reife Menschen.«
»Um Demokratie auszufüllen und sich liberal zu verhalten, braucht es innerlich reife Menschen.« Diese menschliche Reifung wird in politischen Konzepten der Grünen heute nicht erwähnt. In den Kreisen spirituell suchender Menschen steht sie hingegen im Mittelpunkt eines neuen Alltags. Sie gehen in die Yoga-Gruppe, meditieren, essen gesund, prüfen, was sie in ihren Kopf holen, und suchen den Zugang zu tieferen Schichten des eigenen Selbst, um dort einen stabilen Anker zu werfen. Sie versuchen, der rasenden Geschwindigkeit zu entkommen, mit der uns Ablenkung, Zerstreuung, Hetze oder Multitasking aus unserer Mitte reißen will.
»Ihr Plädoyer: Frieden gelingt nur, wenn wir Frieden in uns selbst schaffen und weitertragen.«
Nach eigenem Verständnis leisten sie damit eine Art von Widerstand – einen privaten, diskreten, sanftmütigen. Ihr Plädoyer: Frieden gelingt nur, wenn wir Frieden in uns selbst schaffen und weitertragen. Sylvia Kolk, die bundesweit Stadt-Praxis-Gruppen aufgebaut hat, um damit buddhistische Bewusstseinsarbeit zu ermöglichen, erklärt es an diesem Abend so: Wissenschaftler haben bestätigt, dass Bewusstseinsveränderung durch Meditation möglich ist. Unser Mitgefühl ist nicht genug ausgebildet. Es fehlt uns an Empathie. Deshalb ihr Fazit: »Erst aufs Kissen gehen – dann die Welt retten!« Wie sehr damit das Lebensgefühl der modernen Zeitgenossen berührt wird, beweist der Kulturwandel, der heute, 40 Jahre nach der Gründung der Grünen, den neuen Alltag vieler Menschen prägt. 3,4 Mio. Deutsche praktizieren regelmäßig Yoga, das sind doppelt so viele wie in allen Tennisvereinen, zählt die Süddeutsche Zeitung. Ein Ergebnis der »Osterweiterung der Vernunft«, wie Peter Sloterdijk diese Adaption nannte, hin zu einer menschlichen Vervollständigung. (15) Diese Expansion habe ihn von einem psychosozialen Tiefdruckgebiet befreit, das über seiner ganzen Generation gehangen habe, und eine Dimension der Aufheiterung in ihm eröffnet. Inwieweit auch politische Mandatsträger damit ihren Alltag erleichtern, ist selten ein Thema. Von EZB-Präsidentin Christine Lagarde wissen wir immerhin, dass sie jeden Morgen Yoga macht und meditiert. Selbstfürsorge nennt sie das. Doch der Mainstream zeigt es: Klosterseminare zur Entschleunigung sind ausgebucht, Managertrainings verhelfen zu Achtsamkeit und Gleichmut. Vegetarismus, Biokost, fairer Konsum sind Praxis des aufgeklärten Bürgertums, glaubt man den Selbstaussagen. Es ist eine vagabundierende Religiosität zu erkennen, die sich nicht mehr an klassischen Angeboten der Kirchen orientiert, sondern Selbstfindung und persönliche Praxis sucht.
Die spirituellen Wurzeln der Grünen
Bei den Grünen übergeht man die spirituellen Quellen der Anfänge verschämt mit Schweigen. Auch zu den aktuellen Suchbewegungen findet sich selten eine Position. Fragen danach bleiben ohne Antwort aus Berlin. Robert Habeck beschwört »Zuversicht und Freundlichkeit«, bezeichnet sich als »säkularen Christen«, wehrt sich aber gegen übersteigerte Erwartungen an die Politik. »Kein Politiker ist ein Erlöser. Wer das hofft oder glaubt, bereitet seine eigene Enttäuschung vor.« Aber er sagt auch: »Ich habe tiefen Respekt für Menschen, die im Glauben Halt finden und Antworten geben.« (6) Doch oberstes Credo der Partei ist die Vielfalt. Jeder soll nach der eigenen Façon selig werden – solange demokratische Grundwerte gelten. Habeck schreibt dazu in seinem Buch »Von hier an anders«: »Widersprüche auszuhalten, nicht jede Frage gleich mit einer Antwort niederzumachen, selbstkritisch zu sein, Fehler auch mal einzuräumen ist schwer. Wir versuchen, die eigene Sicht und Überzeugung nicht zu verabsolutieren, sondern Konflikte zu lösen, Verletzungen zu vermeiden oder zu heilen, den gesellschaftlichen Diskurs zu verbessern.« (5 / S. 315) An diesem Mittwoch im Steiner-Haus von Hamburg ist der Abstand zwischen der Politik und dem Publikum deutlich zu spüren. Auf die Frage, wie sie sich in ihrem Amt als zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin denn zentriere und erhole, sagt Katharina Fegebank: »Rausgehen in die Natur. Den Baum vorm Fenster anschauen.« Inzwischen ergänzt sie diese Auskunft mit dem Hinweis auf ihre protestantische Orientierung und die bevorstehende Taufe der Zwillinge.
Mit Mühe wurde auch das Wahlprogramm der Grünen für die Bürgerschaft 2019 in Hamburg beim Thema Religion und Kirchen um das Wort »Spiritualität« ergänzt. Im Bundesprogramm fehlen diese Verweise. Die Diskussion über die Bedeutung der Homöopathie in der Gesundheitsfürsorge riss tiefe Fronten auf. Nur Voodoo-Medizin? Oder krankenkassentauglich? Der Kompromiss kam direkt von Habeck: Krankenkassen sollen Homöopathie bezahlen dürfen, aber nur bei Versicherten mit Sondertarif. Auch der Streit über die Masernimpfung als Pflicht für jede öffentliche Kinderbetreuung teilte die Gefolgschaft der Grünen und führte zu massenweisen Austritten. Demnächst steht auch eine Einigung über das Heilpraktikergesetz an – weiterer Sprengstoff für die Grünen. Sie wollen für Wissenschaftlichkeit stehen. Ihre alten Wurzeln reichten früher aber tief in die esoterischen und ganzheitlich denkenden Milieus. Diese fühlen sich nun verraten und heimatlos gemacht. Dass Katharina Fegebank an diesem Abend im Rudolf-Steiner-Haus mit einer der Quellen im Geist ihrer Partei in Berührung kommt, wirkt wie eine ironische Fußnote und scheint ihr selbst gar nicht bekannt zu sein. Ende der 70er-Jahre rief der »Achberger Kreis« linker und zornig gestimmter Anthroposophen zur Unterstützung der neuen Partei auf. Viele Kreisverbände wurden von Steiner-Anhängern gegründet – vor allem in Baden-Württemberg. Auch Joseph Beuys zählte zu den Geburtshelfern. Die Friedensbewegung wollte damit von der Straße in die Parlamente.
Die ersten Jahre der Partei wurden dann von Flügelkämpfen dominiert. Den christlich inspirierten Gründungsmitgliedern wie Petra Kelly und Eva Quistorp, die sich im Geiste von Dorothee Sölle, der feministischen Theologin, verstanden, begegneten KBW-Machos wie Thomas Ebermann mit abschätzigen Kommentaren: »Mit dem Schmonzes will ich nichts zu tun haben.« (7 / S. 185) Petra Kelly, ekstatisch gestimmte Anhängerin von Tantra-Yoga und Tao-Praxis, löste in der eigenen Partei viel Befremden und Distanzierung aus. »Mein Engagement bei den Grünen hat von der ersten Stunde an sehr viel mit meiner zutiefst religiös-spirituellen Orientierung zu tun, denn ich halte die authentische grüne internationale Bewegung nicht nur für eine politische, sondern für eine politisch-spirituelle Bewegung«, so positionierte sie sich. (7 / S. 35) »Auf unserer Seite steht die Zärtlichkeit, die Herrschaftsfreiheit, die Partizipation, die Solidarität und der Kampf gegen alles Trennende und Gespaltene. Unsere Devise: zärtlich und subversiv.« (7 / S. 201) Worte, die nicht gut ankamen. Die Gremien-Politiker ihrer Fraktion hatten Probleme mit ihr. Eine »märtyrerhafte Aura« warfen sie ihr vor. Sie sei falsch im Bundestag, weil sie zu hohe Ansprüche stelle. (7 / S. 203) Dieser hohe Ton einer Petra Kelly ist inzwischen verpönt. Die »Spiris« werden eher belächelt. Die Grünen geben sich seriös und sachlich. Die ursprünglich christlichen Wurzeln als Inspiration der frühen Zeit sind privatisiert und säkularisiert, gewandelt in pragmatische Programme und wissenschaftliche Expertise.
Damit lassen sie ein wachsendes Milieu hinter sich, das nach Anschluss sucht. Denn Konzepte für die ökologische Transformation der Gesellschaft brauchen mehr als nur technologische Stichworte zu Verkehrswende, Recycling oder Klimawende. Sie müssen Sehnsucht wecken – nach Sinn, Erdung, Zugehörigkeit. Manche Suchende werden heute eher fündig bei den Querdenkern oder der neuen Partei »Die Basis« als bei den Grünen – einer Aussparung im Diskurs, dem angestrengten Versuch geschuldet, realitätsfest zu erscheinen, eine Leerstelle, die die Partei von wichtigen Quellen ihrer Geschichte entfernt.
Kommende Transformationen
Jeder weiß es: Harte Zeiten kommen auf uns zu, wenn die Veränderungen des Klimas in zunehmender Geschwindigkeit den Alltag erschüttern. Dass es mit einem Krisenmanagement, wie wir es in der Pandemie, die wir gerade langsam zu überstehen scheinen, in Zukunft nicht getan sein wird, darüber gibt es keine Zweifel.
Besonders schrill im Chor der Warner klingt die Dystopie von Jem Bendell, einem britischen Forscher. Er deutet alle Zeichen der Klimakrise als Beweise dafür, »dass wir uns auf zerstörerische und unkontrollierbare Ausmaße des Klimawandels zu bewegen, die Hunger, Zerstörung, Bevölkerungswanderungen, Krankheiten und Krieg mit sich bringen werden«. (9 / S. 9) Die Gruppe »Extinction Rebellion« oder militante Aktivisten wie Andreas Malm (ZEIT online 6.7.2021) setzen ganz in seinem Sinne auf radikale Forderungen an die Politik und die Gesellschaft. Seine Faktensammlung wird von der internationalen Forschergemeinschaft zwar bestätigt, die gesellschaftlichen Prognosen werden jedoch abgewehrt. Klimawissenschaftler Michael Mann warnte davor, das Problem als unlösbar darzustellen und den Eindruck von Untergang, Unvermeidbarkeit und Hoffnungslosigkeit zu nähren. Und der Umweltjournalist Alex Steffen twitterte: Die schreckliche Wahrheit den Lesern »vor die Füße zu werfen«, bewirke nicht, dass sie handeln, sondern dass sie sich fürchten. (9 / S. 14) Tatsächlich gibt es in mehreren Ländern mittlerweile Selbsthilfegruppen gegen die sogenannte Klimaverzweiflung. (10) Ängste haben Hochkonjunktur – auch bei den Sanftmütigen. In der Diskussion an diesem Abend im Mai melden viele ihre Besorgnis an. Die geplante Aufrüstung des Mobilfunknetzes bedrohe die Gesundheit, fürchten sie. »Wie sieht es mit 5G aus? Warum schützt uns die Politik nicht vor der Strahlung – auch die Grünen nicht?« Katharina Fegebank antwortet ausweichend, beruft sich auf Informationsmangel: eine Unkenntnis, die befremdet und verärgert.
Die Szene der Spirituellen ist längst eingestimmt auf kommende Überlebensfragen. Und sie haben andere Antworten als die Strategen in der Partei: Meditation, Übungen der Achtsamkeit, Schweigen. Und »Sanghas« bilden, also Gemeinschaften, die einander Herzenskraft und Halt geben.
»Wenn man sich die Zeit nimmt und die Ohren spitzt, dann flüstert es überall, dass es von hier an anders werden muss.«
Darüber reden die Grünen so konkret lieber nicht. Doch wie bewältigen wir die Zumutungen, wenn »alles ganz anders werden soll« – die Verheißung von Robert Habeck in seinem aktuellen Buch? Was geschieht in den Köpfen, in den Seelen, wenn das Vertraute verloren geht? Wie sieht die kommende Transformation aus, die uns Krisen bringen wird, wie wir sie gerade in der Pandemie erlebt haben – und schlimmer? Wir müssten radikal umdenken, umschwenken, wenn wir die Klimaziele wirklich erreichen wollen. Robert Habeck weiß um die Trägheit menschlicher Veränderungsbereitschaft – selbst in großer Gefahr. »Verhaltenspsychologen haben errechnet, dass wir 95 % des Alltags mit ritualisierten, gewohnten Tätigkeiten verbringen. Etwa 20.000 Entscheidungen pro Tag treffen wir, ohne sie wirklich zu treffen«, schreibt er. (5 / S. 283) Andererseits spürt er die Unruhe, die in der Luft liegt und mit der Schwerfälligkeit des politischen Apparats kollidiert: »Wenn man sich die Zeit nimmt und die Ohren spitzt, dann flüstert es überall, dass es von hier an anders werden muss. Wir müssen einem Denken, das alles durchökonomisiert und nach Profitchancen berechnet, eine andere Kultur entgegensetzen. Wir können gegen die Erregtheit und Verunsicherung eine Hoffnung finden und aus dieser eine Wirklichkeit machen.« (5 / S. 371) Der träge menschliche Faktor ist ein wichtiger Hemmschuh beim Versuch, Prozessen beschleunigter Zerstörung durch neue Politik zu begegnen. Nicht nur Gesetze und Ziele der wirtschaftlichen Strukturen müssen sich ändern – der Mensch selbst muss lernbereiter werden. Wie diese Lernbereitschaft gesteigert werden könnte, schreibt er jedoch nur in Andeutungen: »Wir werden die Klimakrise nur bestehen, wenn wir uns selbst und unsere Art, zu wirtschaften und zu konsumieren, hinterfragen. In diesem Sinne sind wir uns selbst zum Problem geworden.« (5 / S. 36)
Resilienz und Verbundenheit als Antwort auf künftige Krisen?
Zeit also, dieses Problem klarer zu beschreiben und neue Antworten zu finden. Antworten, die bis in die Haltungsfragen eines verwöhnten bürgerlich-liberalen Milieus gehen, das in die eigene Selbstentfaltung verliebt ist. Und zur Zielgruppe der Grünen gehört. Die Pandemie hat es gezeigt: Nicht nur Intensivstationen oder Katastrophenschutz brauchen eine Reform. Auch seelische Rettungsinseln müssen gefunden werden. Wie geht man durch Zeiten der Erschütterung, der Isolation, der Angst? Einsamkeit wurde ja zum nagenden Problem in den vergangenen Monaten.
Mit dem Schlagwort »Resilienz« ist nun die seelische Gesundheit auf die Tagesordnung der Politik gerückt. Resilienz bedeutet im weitesten Sinne die Stärkung des Selbst in Zeiten der Krise. Sie ermöglicht psychische Prophylaxe. Sie befähigt zur individuellen Bewältigung von Unsicherheit und Ungewissheit und sollte das Ziel einer vorbeugenden »Psychopolitik« angesichts warnender Zukunftsprognosen sein. Darüber wird inzwischen auch in der spirituellen Szene verstärkt diskutiert. Es gilt, sich vorzubereiten. Der Forscher Jem Bendell stimmt auf kommende Krisen ein: »Wie behalten wir, was wir wirklich behalten wollen? Was müssen wir loslassen, um die Situation nicht zu verschlimmern?
Was können wir wieder zurückbringen, damit wir mit den kommenden Schwierigkeiten und Tragödien fertig werden?« (9 / S. 22) Für ihn hängt unser Überleben davon ab, wie radikal wir als Kollektiv unser Leben verändern. Und er orakelt, dass es für eine Umkehr schon zu spät sei. Auch wenn diese Dystopie nicht geteilt wird, ist die Botschaft im öffentlichen Diskurs angekommen: Wir müssen robuster werden, widerstandsfähiger, uns besser rüsten für Krisen, Schocks und Schicksalsschläge. Bei Verstand bleiben und nicht verhärten, wenn Panik aufsteigt. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz will sogar das Zeitalter des »resilienten Staates« ausrufen. Eine Politik der »Resilienz« nennt er einen »Akt der Klugheit«. (8) Denn statt aus dem Stand immer neuen Krisen und Katastrophen hinterherzueilen, solle man sich im Sinne der kollektiven Gesundheit besser wappnen und die Abwehrkräfte stärken. Auch Organisationen wie die EU, die WHO oder die Weltbank beschäftigen sich in Strategiepapieren inzwischen mit Resilienz. Bei der Bildung von Resilienz hilft ein stabiles Sinngefüge. Nur wer sich aufgehoben weiß, in einer Gemeinschaft, im Gefühl einer kosmischen Zugehörigkeit, entgeht der Fragmentierung und der Angst. Spiritualität als Bewusstsein davon, einer geistigen Welt anzugehören, ist dann eine Rückverbindung – zu uns selbst, zu den Menschen und der Natur. Sie ermöglicht ein Handeln aus Verbundenheit. Das haben Forschungen längst belegt. In spirituellen Kreisen gibt es diese Gewissheit der Verbundenheit schon lange. Ende der 70er-Jahre sprach man von der »Sanften Verschwörung«, aufgedeckt durch Marilyn Ferguson (11). Ein Netzwerk der Gleichgestimmten und Suchenden gab Sicherheit und ein elitäres Gefühl, Mitglied einer weltweiten Gemeinde in Zeiten der Transformation zu sein. Auch die Philosophin Manon Maren-Grisebach entwarf Anfang der 80er-Jahre in ihrem Buch »Philosophie der Grünen« noch ein Plädoyer für solch eine Vernetzung und Verbundenheit. Fürsorge für Menschen, für Tiere, für die Natur – alles mit Basisdemokratie gestaltet, ohne dominierenden Herrschaftsanspruch und Machtgehabe. Lange her. Inzwischen gefährdet eine aggressive Identitätspolitik den Zusammenhalt der Gesellschaft. Fast schon tribalistisch scharen sich Gruppen um ihre jeweilige sexuelle Orientierung oder Hautfarbe. Ökonomische Klassen, Stadt oder Land, Fleischesser oder Vegetarier, religiöse Überzeugungen – all diese Spaltungen kosten Energie und Einheit. All die Vielheit droht umzukippen in eine Segregation von »Blasen«.
Zwischen Macht und Utopie
Wo aber finden sich angesichts dieser Zerfaserung mögliche Gemeinsamkeiten? Wie gelingt die Überschreitung von trennenden Entwürfen?
Der Bonner Philosoph Markus Gabriel bietet in seinem Buch »Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten« eine brauchbare Klammer an: »Existentielle Identität« wünscht er sich, als Bezugspunkt von Gemeinsamkeit, in Abgrenzung zu diverser Identitätspolitik. Nur dann sei man auch im Kontakt mit dem »Heiligen«. (4 / S. 252) Mit etwas, das allen Menschen gemeinsam ist. Und das ihre Suche nach Sinn und gelingendem Leben zu einem anthropologischen Antrieb macht. Dann erkennen wir, dass wir miteinander auf einer kosmischen Durchreise sind und bei allen individuellen Besonderheiten die Unterschiede unwichtig werden. Wir sind aufgefordert, kollektiv die Biosphäre des Planeten zu hüten und zu hegen – um unser eigenes Überleben zu sichern.
Wie findet man in einer modernen Gesellschaft zu solch einem Brückenschlag?
Die Rezepte der Grünen für neue Gemeinschaftlichkeit sind von weichgespülter Allgemeinheit geprägt. In der Diskussion über »Sanftheit und Kampfgeist« verriet Katharina Fegebank ihre Devise: »Mit offenem Herzen, in Liebe und Freude aufeinander zugehen« – damit will sie den zermürbenden Ego-Kampf auf der politischen Bühne bestehen und verändern. Und sie ermuntert: »Wir können hier anfangen, etwas zu tun. Wenn ihr sagt: Den Politikern geht es nur um Macht – das stört mich. Mein Erleben ist ein anderes. Die allermeisten sind mit Idealismus dabei.« Das Echo darauf bleibt matt. Die fast 300 Zuschauerinnen im Steiner-Haus wirken frustriert. Sie hatten sich subtilere Antworten erhofft. Viele geben auf, sich in das Gespräch einzumischen. Es breitet sich eine Stimmung der Resignation aus.
Der TAZ-Journalist Ulrich Schulte stellt in seinem Bestseller »Die grüne Macht« die spirituelle Abstinenz der Grünen in einen größeren Zusammenhang: Früher seien die Grünen eine Protestpartei gewesen, ab 1985 wurden sie zu einer Projektpartei, heute sind sie eine Orientierungspartei oder auch Bündnis-Partei, die zur Volkspartei expandieren will. Unter diesem Dach seien alle eingeladen, die sich eine bessere Zukunft auf der Basis ökologischer und demokratischer Konzepte wünschen. Wie man aber zu diesem gemeinsamen Ziel hinkommt, wie man die Kräfte pflegt und stärkt, das bleibt in der Partei vage – jede und jeder muss den Weg für sich selbst gestalten. Hauptmotto: »Keine »Ausschließeritis« mehr. Einladungen in alle Richtungen. Robert Habeck verweist in seinem Buch immerhin auf die Rolle von »Mitgefühl« in der Politik. Die Fähigkeit, sich sogar im Gegner selbst zu sehen, sei in der demokratischen Auseinandersetzung grundlegend. In Streitfragen wie dem Ausbau von Stromnetzen, dem Bau von Windkraftanlagen oder der Einschränkung von Fangflächen für Fischer habe er als Minister in Schleswig-Holstein gemerkt, dass »ich immer nur dann vorankam, wenn ich die Betroffenheit ernst genommen habe«. (6) Kompromissfähigkeit sei erforderlich. Aber Kompromisse bis zur Überdehnung der eigenen Haltung? Eine Verneigung in alle Richtungen? Unter Aussparung von Forderungen, die der eigenen Klientel wehtun könnten? Ulrich Schulte erkennt hier das zentrale Problem der Grünen: »Die Grünen wollen so sehr Teil des Systems sein, dass sie mit grundsätzlicher Systemkritik nichts mehr anfangen können. Da sie sich darauf verständigt haben, Wachstum als Naturgesetz zu akzeptieren, haben sie einen blinden Fleck.« (7 / S. 202) Und auch das Verschweigen persönlicher Konsequenzen angesichts der Klimaveränderung rechnet er der Partei als schweren Fehler an: »Die heutigen Grünen entlassen das Individuum aus einer nicht zu leugnenden Verantwortung. Beispiel: weniger Konsum, weniger Fliegen, weniger Autofahren, weniger Fleisch, weniger Reisen, kein neues Smartphone. Als Grüner solche Fragen auszublenden ist so realitätsfremd, dass es schon wieder eine intellektuelle Leistung darstellt.« (7 / S. 125)
Lieber betont man in der Partei Lässigkeit und gute Laune. Lieber taucht man in die erfreulichen Statistiken der Wahlprognosen ein als zu den tieferen Quellen der eigenen Ansprüche. Der utopische Überschuss ist verloren gegangen. Und damit die Möglichkeit, an Milieus anzuknüpfen, die einen radikaleren Blick auf eine veränderte Welt haben. Und drängende Fragen stellen. Die Hamburger Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2021, Katharina Beck, erklärt auf ihrer Homepage, ihr Ziel sei ein »schöneres Leben für alle Menschen«. (13) Dagegen wird niemand etwas haben, Verzicht wird nicht verlangt. Solche grüne Politik verharrt in der Wachstumslogik. Und im Ausblenden schmerzhafter Wahrheiten. Doch wie werden wir reagieren, wenn angesichts bevorstehender Kipppunkte unseres gesamten Systems kollektive Panik oder Angst ausbricht? Wenn das Klima aus dem Ruder läuft, wie Mitte Juli in den Überschwemmungsgebieten an den Flüssen? Wenn zum Beispiel die Wasserversorgung zusammenbricht oder der Strom ausfällt? Wenn weitere Pandemien drohen oder neue Fluchtbewegungen auf uns zukommen? Wenn der Alltag aus den Fugen gerät? Gern weichen wir diesen Bildern aus, retten uns in Verdrängung, Leugnung, Bagatellisierung oder entwickeln martialische Konzepte wie die Prepper mit ihrer zwanghaften Vorratshaltung und militanter Aufrüstung für die Zeit der kommenden Kämpfe.
Schon die Corona-Pandemie zeigt, dass wir mental auf gesellschaftliche Krisen wenig vorbereitet sind. Auch die spirituelle Szene ist dabei in Gefahr, sich einzumauern und den Eskapismus zu pflegen. Peter Sloterdijk prognostiziert mit philosophischem Gleichmut die Risiken für sie: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass immer mehr Menschen aus der Angst in die Ekstase aufbrechen, bzw. aus der Ratlosigkeit in die Mission. Menschen als sinnsuchende Wesen sind leicht dazu zu bewegen, sich als Träger einer Mission zu verstehen, sobald sie spüren, wie der Appell eines Großproblems durch ihr eigenes Leben hindurch läuft.« (2 / S. 124)
Der Blick in die Vergangenheit als Impulsgeberin für die Zukunft
Würde die Partei der Grünen in die eigene Vergangenheit zurückschauen, gäbe es dort manche Schätze zu heben. In der Friedensbewegung der frühen 80er-Jahre suchte man angesichts atomarer Aufrüstung den »Mut in der Bedrohung«. »Empowerment durch Unterstützungsgruppen« wurde propagiert. »Gewaltfreie Kommunikation« sollte helfen, einen anderen Geist in die Politik zu tragen. Konzepte der »Tiefenökologie« öffneten den seelischen Resonanzraum für alles Lebendige. Dieser Handwerkskasten im Regal der Parteigeschichte könnte heute wieder helfen, die Gesellschaft in Zeiten der Spaltung und der Querdenker zusammenzuhalten.
Ähnliche Empfehlungen haben auch die Meditationslehrer auf der Bühne des Rudolf-Steiner-Hauses in der Diskussion. Wolfgang Bischoff, seit 40 Jahren Leiter des Himalaya-Instituts in Hamburg, hat Hunderte von Meditationslehrern ausgebildet. Er berät nach eigener Auskunft Mitarbeiter der Weltbank, der UNESCO und einiger Regierungen. Er sagt: »Lernt, euch zu konzentrieren, zu meditieren, lernt zu erkennen, wer ihr wirklich seid. Wir müssen uns schulen.« Und mit freundlicher Autorität regt er die Versammlung an, zwei Minuten miteinander zu meditieren. Damit unterbricht er erfolgreich die Wortfluten und sorgt für deutliche mentale Beruhigung. Dieses einfache Mittel zur Gruppenstärkung kannte man auch schon in den Jahren der Friedensbewegung. Vor jeder Versammlung fünf Minuten zu meditieren, gehörte in einigen alternativen Kreisen zur Tagesordnung. Angesichts des Bundestagswahlkampfes meint Bischoff: »Was ich mir von den Grünen wünsche, wenn sie jetzt immer mehr politische Macht erhalten, ist eine Arbeit an sich selbst. Es sollte das Bemühen sein, ein neues Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Probleme, die wir heute haben, nicht von dem Bewusstsein gelöst werden können, das sie geschaffen hat.« Sein Angebot an Katharina Fegebank, ihn als »spirituellen Begleiter« zu engagieren, bleibt aber ohne Antwort. Auch Sylvia Kolk hat Zweifel, dass bei den Grünen die Bedeutung des Umdenkens wirklich angekommen ist. Sie nennt die Begegnung mit Katharina Fegebank ernüchternd. »Ohne entschiedenes Eintreten für eine Transformation des Bewusstseins (was vor allem alle Bildungsinstitutionen sowie Kulturschaffende miteinbezieht) werden die Grünen der Verführung tradierter Machtpolitik nicht widerstehen können, und es bleibt dann beim Flickwerk auf der Oberfläche.« Ein neues Bewusstsein als Anliegen der Politik fordert auch Peter Sloterdijk, selbst in einer Phase seines Lebens radikal Suchender im Ashram von Poona gewesen: »Die Sekte diente damals als ein Medium der emotionalen Vervollständigung. Pathetisch gesagt: Wir haben die abgespaltene Emotionalität zurückerobert.« (8 / S.131) Wer, wie Sloterdijk, damals tagelang auf der Matte saß und nur die eine Frage beantworten sollte: »Sag mir, wer du bist?«, der kennt das Gefühl der Befreiung, wenn sich die Zwiebelhäute um den eigenen Wesenskern heben und ihn das Licht erreicht. Eine abgespaltene Emotionalität ist inzwischen kein großes Thema mehr. Wir lieben es ja authentisch. Heute geht es dafür eher um das Zurückholen von Vernunft und Einsicht, um mentale Fokussierung und die Fähigkeit zum Verzicht. Der »Ego-Tunnel« (Metzinger) ist für uns zum Gefängnis geworden, der die kollektive, ja globale Handlungsfähigkeit sabotiert.
Sloterdijk fordert eine neue Weitung des Blicks. »Der operationale Imperativ der Zukunft verlangt ein neues Bewusstsein, neue Gewohnheiten des Herzens, der Kooperation und Solidarität mit anderen und der Natur, um zu überleben und zu gedeihen. Ich nenne es ‚Ko-immunismus‘. Und weiter: »Wenn Herausforderungen eine neue spirituelle Kraft und ein kollektives Selbstbewusstsein hervorrufen, wird es in der Zivilisation Fortschritte geben. Falls nicht, wird sie scheitern.« (8 / S. 36) Ko-immunismus, eine neue Schöpfung aus der Wortmanufaktur des Philosophen, fasst zusammen, worum es bei einer ganzheitlichen Resilienz geht: sich durch eine neue Praxis des menschlichen Umgangs gegenseitig bei lebensfeindlichen Bedrohungen zu stärken.
Aber über diese mögliche Aufgabe der Politik wird bei den Grünen geschwiegen. Dieses Schweigen kostet manches Wohlwollen. »Was in dieser Partei läuft, ist das Gegenteil von Spiritualität, man(n) ist Teil des eiskalten, tötenden Machtsystems, das die Erde an die Wand fahren wird« – so das bittere Fazit eines Besuchers, Mitglied der Partei – bis dahin.
Der Journalist Ulrich Schulte stellt den Grünen trotzdem ein wohlwollendes Zeugnis aus – nachdem er sie überführt hat, wie lauwarm sie in ihren Programmen bleiben: »Was die Grünen wollen, ist nicht die Lösung aller Probleme, manchmal nicht durchdacht und oft nicht ausreichend. Aber es ist ein Anfang.« (9 / S. 223)
Am Abend im Rudolf-Steiner-Haus melden sich schließlich doch noch die Kampfgeister unter den Sanftmütigen zu Wort. »Kommt am Sonntag auf die Kennedy-Brücke! Wir machen einen Yoga-Flashmob dort – ,Bridges of Humanity´ – als Zeichen gegen Konsum und für eine spirituelle Lebensweise!« Und ein Zeichen der Hoffnung gibt auch die Grüne Jugend, die stark gewachsene Nachwuchsgruppe der Partei. Sie bietet während der Mitgliederversammlungen in Hamburg ein »Awareness-Team« an, das sich abseits der Redeschlachten um frustrierte und verletzte Kombattanten kümmert und entstandene Kränkungen heilen will. Auch ein Ruhebereich gehört zur Planung.
In der Parteiführung spricht man gerne von Hoffnung, Zuversicht und Freundlichkeit als Wesensmerkmal der grünen Partei. Das signalisiert reife Menschlichkeit. Doch wenn Claudia Roth in Annalena Baerbock die »Wurzeln unseres Baumes« sieht, die »so manche Blüte von Robert« erst ermöglicht, (14) dann senken sich die Mundwinkel zumindest bei den »Spiris«: Sie würden es sich umgekehrt wünschen – den philosophischen Habeck als den Baum mit Wurzeln und Tiefgang, während die politisch-dekorativen Blüten daran die pragmatische Annalena Baerbock setzt. Man fremdelt mit ihr. Sieht bei ihr vor allem Kampfgeist, aber keine Sanftmut – und grenzt sich ab. »Wenigstens die Pumps könnte sie mal weglassen.« Ob sich diese Entfremdung der Grünen von ihrer Herkunft auf dem Weg zu neuer politischer Macht rächen wird, lässt sich nur erahnen. Welche Konzepte, welche Visionen es braucht, um Begeisterung und Kampfgeist auch bei den Sanftmütigen zu wecken, muss gründlich diskutiert werden. Sicher ist: Wenn die Grünen nicht in Gefahr geraten wollen, sich im Ego-Tunnel zu verirren, dem Höhenrausch zu verfallen oder Burn-out-Probleme zu bekommen, sollten sie bei allen Programmen für die Zukunft auch den Blick zurück wagen.
Klar, die Grünen sind eine Kraft in unserer Gesellschaft, der wir nur Erfolg wünschen können. Aber nur an die Macht zu wollen – das ist eine riskante Verengung ihrer Möglichkeiten, ihrer Chancen und ihrer Aufgaben. Und es ist Selbstvergessenheit den eigenen Ursprüngen gegenüber. Sie sollten Resonanzfelder im Auge behalten, die zu ihrer Geschichte gehören. Es muss ja nicht eine Petra Kelly sein, die sie auferstehen lassen. Ohne eine Würdigung und Ansprache des Milieus von Suchenden, Freigeistern, Spirituellen drohen weitere Spaltungen. Dann sind die Grünen vielleicht an der Macht, aber seelenlos und ohne inspirierendes Sinnangebot.
Gabriele Heise, seit 1980 freie Journalistin und Moderatorin für den öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Acht Jahre im Vorstand des Journalistinnenbundes. Ehe-, Familien- und Lebensberaterin, Supervisionsausbildung. Sannyasin seit 1978, Mitglied der Grünen seit 2018. Eine Tochter. Lebt in Hamburg.
Literatur und andere Quellen:
1: Peter Sloterdijk, Carlos Oliveira: Selbstversuch – Ein Gespräch mit Carlos Oliveira – Hanser-Verlag, 2008
2: Peter Sloterdijk: Der Staat streift seine Samthandschuhe ab – Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020–2021, Suhrkamp-Verlag, 2021
3: Ulrich Schulte: Die grüne Macht – Wie die Ökopartei das Land verändern will, Rowohlt-Verlag, 2021
4: Andreas Reckwitz: Pandemie und Staat – Ein Gespräch über die Neuerfindung der Gesellschaft, Dietz-Verlag, 2021
4: Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten – Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Ullstein-Verlag, 2020
5: Robert Habeck: Von hier an anders – Eine politische Skizze, Kiepenheuer und Witsch, 2021
7: Die Grünen und die Religion, Hrsg. von Gunter Hesse und Hans-Hermann Wiebe, Athenäum-Verlag, 1988
8: https://www.nzz.ch/meinung/resilienz-in-krisenzeiten-die-gesellschaft-macht-den-igel-ld.1613986
9: Jem Bendell: http://lifeworth.com/DeepAdaptation-de.pdf
11: Ferguson, Marilyn: Die sanfte Verschwörung. Persönliche und Gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermanns, 1982
12: Manon Maren-Grisebach: Die Philosophie der Grünen, 1982
14: https://www.skydancer-verleih.de/l4ilatz/3a0c7b-was-ist-annalena-baerbock-von-beruf
15: https://www.deutschlandfunk.de/ost-erweiterung-der-vernunft.700.de.html?dram:article_id=84073
16: Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik
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