Das matriarchale Paradigma
Im zweiten Teil des Gesprächs mit der Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung Dr. Heide Göttner-Abendroth sprachen wir über unreflektierte Herrschafts- und Hierarchiestrukturen in unserer Gesellschaft, wie das Patriarchat entstanden ist und inwiefern das matriarchale Paradigma mit der Ansicht, dass alles belebt und miteinander verbunden sei, eine revolutionäre und ebenso friedliche Kraft in sich trägt.
Tattva Viveka: Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Geschichte fehlt es an Beispielen von Gesellschaften ohne Hierarchie und ohne Herrschaft. Ebenso mangelt es an »Begegnungen« mit oder Wissen über Gesellschaften, die anders organisiert sind. In Ihren Beiträgen gehen Sie explizit darauf ein, dass die beinahe unhinterfragte Annahme bestehe, dass komplexe Gesellschaftsformen mit Arbeitsteilung und vielfältigen sozialen Beziehungen Hierarchien und eine herrschende Klasse benötigen, um in Ordnung und Frieden zu leben. Viel Patriarchatskritik, Kapitalismuskritik und auch Kritik an unserem ökologisch rücksichtslosen Handeln wird geäußert, aber hier handelt es sich um Herrschaftskritik. Mir wurde bewusst, dass wir unser gesamtes Denken verändern müssen, um unsere Gesellschaft wahrhaftig verändern zu können, weil wir zumeist in diesem Paradigma sind, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Göttner-Abendroth: Das, was die Matriarchatsforschung und die dazugehörigen politischen Überlegungen herausgefunden haben, nenne ich zusammenfassend das matriarchale Paradigma. Ich weiß, dass dieses Paradigma noch revolutionär ist, denn es hebelt beinahe alles aus, was wir in unserer Gesellschaft auf den Ebenen des Sozialen, des Ökonomischen und des Weltanschaulichen kennen. Es bringt wirklich alles zu Fall, was wir verinnerlicht haben und was uns von der Schulzeit an indoktriniert worden ist. Es hat durchaus Gründe, dass die Mainstream-Medien und die Universitäten diese Forschungen blockieren und nicht wahrhaben wollen, denn sie sind gefährlich für das herrschende Weltbild, für das patriarchale Paradigma, das uns alle tief infiltriert hat. Wenn wir unsere eurozentristische Brille aufhaben, dann halten wir Europa für die Welt, was völlig falsch ist, nicht?
Ich habe durch meine Auseinandersetzung mit matriarchalen Völkern sehr viel dazugelernt, meine eurozentristische Brille wegwerfen und neu sehen müssen, dass es in Afrika, Asien und Amerika Völker gibt, die völlig anders leben und andere Werte haben. Diese Erfahrungen haben mich vieles gelehrt.
»Die Aussage, dass Gesellschaften existieren, die herrschaftsfrei leben, nimmt man einem meistens nicht ab.«
Die Aussage, dass Gesellschaften existieren, die herrschaftsfrei leben, nimmt man einem meistens nicht ab. Es heißt dann, dass das völlig utopisch sei und dass es solche Gesellschaften nicht gegeben haben kann. Das läuft alles auf der Schiene: So wie wir unsere Welt kennen, so muss es schon immer gewesen sein. Als ich mit der Forschungsarbeit anfing, ging es mir wie Ihnen, Frau Deubzer. Ich war ebenfalls eine Tochter des Patriarchats und musste vieles von dem, was ich gelernt hatte, über Bord werfen, weil ich einer anderen Weltsicht gegenüberstand.
Herrschaftsfreiheit kann man erfahren, wenn man betrachtet, wie diese Menschen ihre Gesellschaft organisieren, nämlich von unten her, als Selbstorganisation. Wir unterschätzen gewaltig, wie komplex und effektiv diese von unten, sich selbst verwaltenden Gesellschaften sein können. Ich habe es am lebenden Beispiel miterleben können, obwohl sie in den heutigen Staaten unterdrückt werden. Es existieren auch Beispiele aus der Geschichte, Stadtkulturen von einer reichen Komplexität, die matriarchal waren und sich von unten über ihr komplexes Netz von Räten organisierten. Das können wir uns nur schwer vorstellen. Ein feststehendes Muster in der Archäologie besagt: Immer wenn Komplexität, also eine Stadtkultur oder geordnete Häuser, auftauchen, muss es jemanden gegeben haben, der das geplant hat, denn die Annahme ist, dass die Menschen von sich aus zu unfähig sind, sich von unten her selbst und basisdemokratisch zu organisieren.
TV: Jemand muss über ihnen gewesen sein, der ihnen sagte, wie es gemacht werden soll.
Göttner-Abendroth: Ja, immer hierarchisch. Das ist eine patriarchale Idee, die ständig in die Geschichte hineininterpretiert wird. Zum Glück sagen heute immer mehr junge kritische Archäologen und Archäologinnen: »Nein, es gab in der Geschichte auch egalitäre Gesellschaften.« Man erkennt sie daran, dass an manchen Orten keine Herrscherinsignien oder Herrscherhäuser archäologisch gefunden wurden und sich die Leute in der Tat von unten her selbst organisiert haben. Es dringt langsam durch, tröpfchenweise. Ich freue mich immer darüber, dass es in der Geschichte egalitäre Gesellschaften gegeben hat. Sie finden es mehr und mehr heraus, und das patriarchale Klischee weist bereits die ersten Risse auf. Nun sage ich allerdings, dass diese egalitären Gesellschaften matriarchal waren. Das geht einen Schritt weiter. Denn wer hat sie egalitär gemacht? Welches Wertesystem stand dahinter? Das ist nicht das Wertesystem, dass wir alle gleich sind, denn wir sind nicht gleich, sondern verschieden in Geschlecht, Alter, Fähigkeiten. Dahinter steht das mütterliche Wertesystem, dass alle Menschen gleichwertig und in ihrer Verschiedenheit gleich angenommen sind. Das sind matriarchale Werte, die matriarchale Gesellschaften kennzeichnen. Denn diese Art von Gleichheit, wie wir sie heute formulieren, nivelliert die Verschiedenheit von Alter, Geschlecht etc. Natürlich sind wir Menschen verschieden, aber man muss aus der Verschiedenheit keine Hierarchie schaffen.
»Verschiedenheit wird in matriarchalen Gesellschaften als Reichtum verstanden.«
Verschiedenheit wird in matriarchalen Gesellschaften als Reichtum verstanden, als Reichtum der Menschen, der Verschiedenheit der Menschen und der Völker, der Verschiedenheit der Wesen auf der Welt. Verschiedenheit ist ein Reichtum und wird von diesen mütterlichen Werten gleichzeitig liebevoll gehütet und geschützt, so wie eine prototypische Mutter ihre verschiedenen Kinder alle gleich nährt, unterstützt und behandelt.
Diese egalitären Gesellschaften sind im Grunde matriarchale Gesellschaften. Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Anekdote erzählen: Der berühmte Archäologe Ian Hodder, der die jungsteinzeitliche Stadt Çatalhöyük untersucht hat, stellte fest, dass die Menschen wirklich egalitär lebten. Die Häuser sind gleich, die Grabsitten sind gleich. Man stellte durch raffinierte archäologische Methoden sogar fest, dass die Tischsitten, also die Verteilung der Nahrung sich glichen. Es gab also kein herrschendes männliches Geschlecht. Dann schrieb ich ihm: »Wie schön, dass Sie die Gleichheit bewiesen haben. Sie haben eine matriarchale Gesellschaft bewiesen. Schauen Sie sich zum Beispiel die Göttinnenikonografie an. Aus der Göttinnenverehrung ergibt sich die Gleichheit der Menschen. So wie Mutter Erde alle ihre Wesen gleich nährt und die Sonne über allen gleich scheint, so ist das in matriarchalen Gesellschaften. Ich danke Ihnen, dass Sie die matriarchale Gesellschaft bewiesen haben.« Das wollte er natürlich nicht annehmen, aber ich habe es ihm geschrieben. Das ist der nächste Schritt, den vielleicht eine neue Generation von Archäologen und Archäologinnen und Wissenschaftlerinnen lernen oder annehmen könnte.
TV: Die Ebenen kommen wieder zusammen. Sie sagten im ersten Teil des Interviews, Wissenschaft, Spiritualität und Politik müsse man unterscheiden, man dürfe sie nicht vermischen. Aber mir scheint es, als würden Sie sie doch miteinander verbinden, denn man kann sie nicht isoliert voneinander betrachten.
Göttner-Abendroth: Am Anfang muss man sie analytisch separieren, weil die Politik anderen Regeln folgt als die Wissenschaft. Auch das spirituelle Leben und Arbeiten folgt anderen Spielregeln. Das muss man am Anfang analysieren und trennen. Aber in der Gesamtheit eines Lebens oder einer Lebensweise fließt das zusammen. Ich bin Wissenschaftlerin, dies bin ich durch meine Ausbildung geworden. Denn ich habe nicht nur Philosophie, sondern Wissenschaftstheorie studiert und infolgedessen eine sehr gute wissenschaftliche Ausbildung erhalten. Aber ich bin als Mensch auch eine Gesamtheit. Das Spirituelle trägt mein Leben, und das Politische kann man bei den heutigen Verhältnissen nicht außen vor lassen. Man muss politisch Stellung beziehen in der Situation, in der wir sind. Das schreit zum Himmel. Ich fühle mich manchmal aufgefordert und werde auch gefragt, welche Antworten aus der Matriarchatsforschung zu diesem oder jenem Problem gegeben werden können. Dann gebe ich diese Antworten, auch wenn sie sehr unbequem und äußerst revolutionär klingen.
TV: Ist es ein Merkmal von matriarchalem Bewusstsein, dass man diese Bereiche miteinander verbindet, dass man ganzheitlich denkt und lebt? Wie würden Sie das beschreiben?
Göttner-Abendroth: Als Menschen sind wir ganzheitliche Wesen, auch wenn wir das bei der Arbeit erst mal trennen müssen, um nicht zu vermischen und zu falschen Ergebnissen zu gelangen. In Anbetracht der Zersplitterung der Welt und unseres Denkens ist es unsere Aufgabe, ganzheitliche Antworten zu geben. Aber diese Antworten resultieren aus einer gründlichen Analyse, die wir zuvor vorgenommen haben.
»In Anbetracht der Zersplitterung der Welt und unseres Denkens ist es unsere Aufgabe, ganzheitliche Antworten zu geben.«
Spiritualität ist nicht nur in matriarchalen Gesellschaften das verbindende Band, sondern auch in unserem Leben. Solange es noch abgespalten oder nur auf die offiziellen Institutionen wie Kirchen, Tempel und Synagogen beiseitegeschoben wird und das Leben ansonsten profan und gierig verläuft, haben wir keine Rettung. Doch das Spirituelle sollte alles wieder miteinander verbinden, damit wir wieder zu einer humaneren Lebensweise gelangen, als wir sie heute haben.
TV: Der Spiritualität geht es ein wenig wie den Frauen in der Wissenschaft …
Göttner-Abendroth: Ja, da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich war lange genug an den Universitäten und in der Wissenschaft, im Elfenbeinturm. Sie reflektieren aber letzten Endes nicht ihren eigenen Hintergrund und dienen ständig der Politik und dem Kapital, aber dies wird nie ausgesprochen. Wenn man Spiritualität abschneidet und den Menschen und die Geschichte reduziert versteht, bringt es das zustande, was wir heute haben: Statt dass das Verbindende gesehen wird, wird die Trennung von allen Bereichen gefördert, wobei in jedem Bereich Macht ausgeübt wird.
»Der Grundsatz matriarchaler Spiritualität lautet: Alles ist mit allem verbunden.«
Doch der Grundsatz matriarchaler Spiritualität lautet: Alles ist mit allem verbunden. Wenn wir etwas herausschneiden, schaden wir nicht nur dem, was herausgeschnitten wurde, sondern auch uns selbst. In dem Maße, in dem sich die Menschen heute aus der Natur, die für viele nur eine Ressource und eine Ware ist, die es zu vermarkten gilt, herausgeschnitten haben, schlägt alles auf uns zurück – was glücklicherweise immer mehr Menschen erkennen. Die Zerstörung, die wir heute erleben, kommt nicht von ungefähr. Sie wurzelt in dieser zerschneidenden, machtgierigen und habgierigen Haltung. Das kritisiere ich zutiefst und radikal aus der Perspektive der Matriarchatsforschung.
TV: Auch frühere Gesellschaften werden regelmäßig diskreditiert, indem sie als primitiv hingestellt werden. Das ist nicht korrekt.
Göttner-Abendroth: Das ist nicht richtig. Nehmen Sie zum Beispiel den altsteinzeitlichen Menschen, den Neandertaler. Wenn man das Wort »Neandertaler« sagt, denkt man an einen Mann mit Fellen, der seine Frau an den Haaren hinter sich her in die Höhle schleppt, wie Fred Feuerstein, primitiv ist und nicht einmal sprechen, sondern immer nur »Hohoho« sagen kann. Das ist lächerlich, denn die neuere Forschung zeigt – in diesem Zusammenhang muss ich die Forscherin Marie König nennen, die die altsteinzeitliche Symbolik genau erforscht hat –, dass ein Neandertaler 100.000 vor unserer Zeitrechnung erstens die erste Raumordnung abstrakt gedacht hat, indem er ein Himmelsrichtungenkreuz entwickelt hat, ähnlich unserem Kompass heute, und zweitens die erste Zeitordnung anhand der Phasen des Mondes erfunden hat. Frauen und Männer haben das gemeinsam entdeckt. Das erfordert enorme abstrakte Leistungen, wenn man bedenkt, dass sie das aus dem Nichts getan haben. Sie hatten keine kulturellen Vorläufer, auf deren Schultern sie gestanden haben. Sie haben aus dem Nichts heraus diese abstrakten Leistungen über Raum und Zeit formuliert, um in der Welt, in der sie waren, Orientierung zu finden. Sie waren genauso intelligent wie wir, sie standen nur am Anfang der Kultur und haben Elementarstes entwickeln müssen, weil sie nicht auf den Schultern von Tausenden von Generationen standen wie wir heute. Die Forschung zeigt ebenfalls, dass man diese Menschen nicht als primitiv bezeichnen kann, sondern als »früher«, denn sie existierten früher als wir. Sie sind unsere Ahnen und Ahninnen, unsere Vormütter und Vorväter, wenn wir es so sagen möchten, und wir stehen noch heute auf ihren Schultern.
TV: Wir lasen, dass Sie sich gegen das integrale bewusstseinsevolutorische Paradigma stellen. Dieses besagt, dass die Menschen beispielsweise in der Altsteinzeit oder Vorzeit, um dies kurz zusammenzufassen, tendenziell in einem instinktiv-magischen Weltbild lebten, und sich das Bewusstsein von da an immer weiter linear entwickelt und erweitert, sodass wir uns jetzt in einer höheren Bewusstseinsstufe befinden, also dass der Mensch sich zum Fortschrittlicheren hin entwickelt.
Göttner-Abendroth: Wenn dies wahr wäre und sich unser Bewusstsein ständig linear weiterentwickelt hätte, würden wir heute in der besten aller Welten leben. Das kann nicht stimmen, denn wir stehen heute vor massiven Problemen. Wenn man sich abgewöhnt, andere Kulturen oder frühere Gesellschaften als primitiv abzustempeln, ergibt sich ein anderes Bild. Lasst uns den altsteinzeitlichen Menschen betrachten, der genauso wie wir instinktive, emotionale und intellektuelle Seiten hatte. Er war ein ganzheitlicher Mensch, genau wie wir, nur stand er am Anfang der Kultur. Das ändert bereits die Perspektive. Das, was Sie soeben zitiert haben, sind die Stufentheorien der Geschichte, die aus der Kolonialzeit stammen. Das ist typisch für das 19. Jahrhundert. Damals kamen die europäischen Eroberer mit anderen Völkern in Kontakt und mussten sich bestätigen, dass sie immer noch die besten auf der Welt seien. Infolgedessen wurden solche Stufentheorien der Geschichte und anderer Völker entwickelt, wobei die anderen immer auf der primitiven Stufe stehen und wir als die europäischen Kolonialherren auf der obersten. Das ist meines Erachtens eine politisch und rassistisch gefärbte Ideologie, der ich vehement widerspreche.
Ich glaube, dass diese Vorstellung von den Bewusstseinsstufen noch immer die Spuren dieser Stufentheorie der Geschichte in sich trägt. So ist meiner Meinung nach der Untergang matriarchaler Gesellschaften durch patriarchale Entwicklungen ein Rückschritt in der Geschichte. Wir haben patriarchale Gesellschaften mit Strukturen wie dem Militär, der Waffentechnik und dem strategischen Denken hervorgebracht. Diese Strukturen werden heute immer weitergetrieben – bis zum Aussterben der Menschheit. Aber ist dies menschlich betrachtet eine positive Entwicklung? In den patriarchalen Gesellschaften sehen wir uns oft mit sozialem Chaos und emotionalen Problemen ohnegleichen konfrontiert, die aus Herrschaft und Unterdrückung entstehen, sowie mit Gewalt gegen Minderheiten, Frauen, andere Kulturen. Das ist doch keine positive Menschheitsentwicklung. Matriarchale Kulturen kannten das nicht, weil sie herrschaftsfrei waren. Sie pflegten eine spezielle Toleranz gegenüber anderen Völkern und Menschen, die anders aussahen. Deswegen wurden die europäischen Eroberer von matriarchalen Gesellschaften oft mit Freundschaft empfangen.
Das menschliche Zusammenleben hat einen enormen Niedergang erlebt, seitdem patriarchale Zivilisationen vorherrschen. Das ist ein dramatischer Bruch nach unten, auch wenn die Technologie heute weiter ist als damals. Wir müssen entscheiden, was wir besser finden: menschliche Kulturentwicklung im Sinne eines friedlichen, friedfertigen und freiheitsbewussten Lebens oder eine uferlose Entwicklung von Technologie bis hin zur Supertechnologie, die uns demnächst nur zum Anhängsel von Maschinen machen wird. Ungefähr vor 4.000 Jahren hat es einen tiefen Bruch in der Menschheitsgeschichte in unterschiedlichen Kulturen gegeben. Wir versuchen noch heute, an den Folgen dieses Bruches nicht gänzlich unterzugehen. Auch in der Hinsicht sehe ich keine höhere Entwicklung des Bewusstseins. Wären matriarchale Gesellschaften nicht untergegangen und hätten sich weiterentwickeln können, hätten wir heute vielleicht ein sehr positives, menschliches Zusammenleben und ein äußerst human entwickeltes Bewusstsein. Ich sehe nicht, dass wir heute eine höhere Bewusstseinsstufe erreicht haben. Stattdessen befinden wir uns auf einer problematischen Bewusstseinsstufe, einer sehr problematischen.
TV: Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass dieses alte Wissen ebenfalls eine hohe Qualität hat und nicht primitiv ist. Weder das mythologische noch das spirituelle Wissen von damals ist primitiv, denn es hatte noch tiefere Einsichten in die Wirklichkeit der Dinge.
Göttner-Abendroth: Alte matriarchale Kulturen sahen alle Naturwesen auf der gleichen Ebene im Reichtum der Mutter Erde. Diese Weltsicht ermöglicht eine tiefe Empathie für alles, was lebt und ist. Dies ist ein Wissen, über das wir zum Teil nicht mehr verfügen, denn das Leben wird bei uns technisch-naturwissenschaftlich betrachtet und ausgebeutet. Eine tiefe Lebensweisheit über das gesamte Netz und Gewebe des Lebens ist verloren und untergegangen. Dies ist ein riesiger Verlust, an dem wir heutzutage kräftig nagen. Wenn wir heute vielleicht die Möglichkeit und noch die Zeit haben, dieses Bewusstsein wiederaufzunehmen, dann könnte das durchaus einen neuen Reichtum mit sich bringen, denn dann haben wir womöglich die Stufe des Patriarchats mit all den Problemen, die es uns gebracht hat, hinter uns gelassen. Wir können nicht naiv zum matriarchalen Denken und Einfühlen zurückkehren, doch wir können bewusst dorthin zurückgehen. Dies könnte man als höhere Bewusstseinsstufe interpretieren, obwohl ich mit dem »höher« sowieso ein Problem habe. Es geht nicht nur vom Niedrigen zum Höheren, sondern das Leben und das Bewusstsein bewegen sich womöglich kreisförmig. Vielleicht kehrt man von einer höheren Stufe der Spirale zu einem alten Bewusstsein zurück und versteht es besser als zuvor. Ich würde es der Menschheit wünschen, dass wir heute an dieser Stelle wären und diese Ansicht erfassen könnten.
In unserem Gespräch haben wir bisher die wichtige Frage ausgelassen, wie es zum Patriarchat kam. Ich möchte nur kurz auf dieses umfangreiche Forschungsthema eingehen: Ich habe Jahrzehnte an diesem Thema geforscht und fange jetzt an, darüber zu schreiben. Es gibt nicht eine einzige Ursache für alle Zeiten, alle Kulturen und alle Kontinente. Das sind Pseudo-Erklärungen. Wir müssen für jede Kultur und jede Zeit erklären, welche verschiedenen Ursachen zum Patriarchat führten. Doch es lag grundsätzlich nicht an den inneren Defiziten matriarchaler Gesellschaften, sondern am Druck von außen. Man fand für bestimmte Kulturregionen, vor allem Westasien und Europa, heraus, dass der erste Auslöser wahrscheinlich eine Jahrhunderte andauernde Klimaveränderung gewesen ist, die manchen Kulturen den Boden unter den Füßen entzogen hat, weil dort eine Versteppung und Verwüstung riesiger Landstriche stattgefunden hat. Durch diese kulturelle und regionale Entwurzelung entwickelten sich wohl Gesellschaften, die einmal matriarchal gewesen sind, in andere Richtungen, die auch zu gewaltsamen Formen geführt haben. Das war ein Druck von der äußeren Umwelt. Was das bedeuten kann, können wir uns heute gut vorstellen.
TV: Sie meinen die Saharasia-These[1]?
Göttner-Abendroth: Die Saharasia-These stimmt zum Teil. Sie hat zwar ihre Mängel, aber der Ansatz an sich ist gut. Der erste Druck kam von außen, von der natürlichen Umwelt, woraufhin die Menschen, wie man zugeben muss, die falschen Antworten gaben. Der zweite Druck erfolgte von der sozialen Umwelt, als sich patriarchale Muster und Gesellschaften bildeten, die permanent Druck auf ihre matriarchale Umgebung ausübten und einen starken Eroberungsdrang aufwiesen. Warum und wie sich das Patriarchat ausgebreitet hat, muss ebenfalls erklärt werden. Wieso hat es sich durch bestimmte Muster so stark ausbreiten können? Das hängt damit zusammen, dass sich der initial natürliche Druck in sozialen Druck verwandelt hat, denn diese patriarchalen Gesellschaften mussten durch Eroberung nach außen immer wieder von ihren inneren Konflikten ablenken. Patriarchale Gesellschaften unterlagen ständig einem inneren Ausbreitungszwang. Was bedeutete dies für die matriarchale Nachbarschaft? Entweder sie wehrten sich nicht und wurden infolgedessen erobert, oder sie fingen an, ein Kriegerwesen zu entwickeln, um sich zu verteidigen. Mehrere solcher Fälle in der Geschichte sind belegt, zum Beispiel bei den Irokesen in Nordamerika im Zuge der Invasion der Europäer.
Das ist ein Problem für matriarchale Gesellschaften, da sie nicht auf ein Kriegerwesen und Kriegerkasten eingestellt sind. Dies erzeugte eine gewisse Erosion von innen, denn die Jahrzehnte andauernde Verteidigung gegen eine aggressive patriarchale Nachbarschaft führte auf die Dauer zum Zusammenbruch ihrer eigenen matriarchalen Kultur. Der Druck von außen ruinierte die matriarchalen Gesellschaften – und nicht innere Fehler, wie häufig angenommen wird.
TV: Wie werden Ihre Forschung und Ihre Schlussfolgerungen über Herrschaft und Hierarchie in linken, feministischen Kreisen wahrgenommen und bewertet?
Göttner-Abendroth: Die Rezeption fällt unterschiedlich aus. Der Mainstream wehrt sich dagegen. Es ist noch zu revolutionär. In linken Kreisen wird es gemischt bewertet. In links-feministisch geprägten Kreisen wird sie zum Teil angenommen, da sie durch die tiefe Gesellschaftskritik mit der Matriarchatsforschung verbunden sind. Bei feministischen Kreisen ist es hingegen unterschiedlich, da es verschiedene Feministen und nicht den einen Feminismus gibt. Im Gleichheitsfeminismus streben die Frauen dieselben Rollen an, die die Männer heute innehaben. In meinen Augen, ich formuliere das jetzt hart, fügt man im Grunde nur das weibliche Gesicht zu den patriarchalen Mustern hinzu, aber die Strukturen werden nicht verändert. Bei diesen sind meine Aussagen nicht gerade beliebt, da sie eine Gefahr für die eigenen Karrierebestrebungen darstellen können. In anderen feministischen Kreisen, im Differenzfeminismus und kulturellen Feminismus, um zwei Beispiele zu nennen, ist die Gesellschaftskritik tief verankert. Ich habe Kontakt zu vielen alternativen Gruppierungen, die das System kritisieren und nicht mit einem weiblichen Gesicht verdoppeln wollen. Zudem pflege ich intensiven Kontakt zu Indigenen und kulturellen Nischen, denn diese Nischen sind wichtig und dort bin ich vertreten. Diese Nischen sind glücklicherweise viele, und es werden heutzutage immer mehr. Auch Ihre Zeitung ist eine wichtige Nische. »Nische« ist für mich keine abwertende, sondern eine aufwertende Vokabel.
TV: Genau. Wir versuchen bei der Tattva Viveka, Verbindungen zwischen verschiedenen Wissensgebieten herzustellen und dabei ganzheitlich vorzugehen.
Göttner-Abendroth: Das ist wichtig. Wir haben wichtige alternative Bewegungen, die Ökobewegung, die Gemeinschaftsbewegung, auch die Frauenbewegung ist noch eine eigene alternative Bewegung, die Bewegung indigener Völker, um ein paar zu nennen. Es ist wichtig, dass Brücken geschlagen werden und diese Bewegungen mehr miteinander kooperieren. Denn es sind viele Menschen aktiv, und jeder ist für sich genommen wichtig.
TV: Gerade mit der Frage zu Herrschaft und Hierarchie müssten sich mehr Menschen befassen. Ich finde, dass dies ein sehr wichtiges Thema ist. Es zeigt auf, dass wir unser gesamtes Denken verändern müssen, wenn wir einen nachhaltigen Wandel in der Gesellschaft anstoßen möchten. Zum Beispiel sollten gerade an Universitäten Herrschaftsverhältnisse kritisch hinterfragt werden und auch Veränderungsimpulse gesetzt werden. Denn dort sitzen die schlausten Köpfe zusammen.
Göttner-Abendroth: Die schlausten Köpfe sitzen nicht nur dort, sondern sehr viele auch außerhalb. Ich kenne die Institution »Universität« zur Genüge und habe sie bewusst verlassen, denn das ist ein eingekasteltes Wissen, ein in Disziplinen zerteiltes Wissen. Ich finde es sehr wertvoll, was dort verarbeitet wird, aber die grundsätzliche Haltung der Universität ist nicht mehr universell. Das hilft nicht bei den grundsätzlichen Problemen, auf die wir heute Antworten geben sollten. Das gelehrte Wissen ist in vielen Fällen zu speziell, zu karriereorientiert und nach wie vor zu sehr am Mainstream orientiert. Ich habe mich auch oft mit dem Gedanken beschäftigt, dass die Alternativen, mich eingeschlossen, nicht viele seien und so weiter. Doch es sind sehr viele, nur dass wir, da wir nicht Teil der heutigen Leitkultur, der herrschenden Kultur sind, nicht sichtbar sind. Viele Gegenbewegungen werden dauernd unsichtbar gemacht und unter dem Deckel gehalten, aber es sind trotzdem sehr viele. Ich arbeite weltweit mit verschiedenen Gruppierungen zusammen, und ich kann Ihnen sagen, dass es unendlich viele sind, denn den Menschen wird weltweit bewusst, dass die Herrschaftssysteme tiefe Risse haben.
TV: Wir machen weiter und vielleicht setzt sich dies irgendwann als friedliche Revolution durch.
Göttner-Abendroth: Ich denke an eine matriarchale Revolution, die bis an die Wurzel geht, denn was ist die Wurzel unseres Lebens? Die Wurzeln sind die Mütter, die Kinder, die Erde und alle Menschen inbegriffen. Wenn wir zu diesen Wurzeln zurückkehren, könnten wir eine friedliche Revolution, eine matriarchale Revolution erleben, nicht? So könnte man sich von diesen Herrschaftssystemen lösen, die die Menschheit über Jahrtausende so unglücklich gemacht haben.
»Aber diese Revolution kann nur friedlich sein.«
Aber diese Revolution kann nur friedlich sein. Die Revolution wird im Denken geschehen, aber wir kommen nicht mit dem revolutionären Bajonett daher. Es geht langsam, aber friedlich vonstatten, denn es greift in die Tiefe bis auf die elementaren Lebensgrundlagen zurück. Das sind, wenn ich es noch einmal sagen darf, die Mütter, die Kinder, die Erde, und die Männer sind sowieso inbegriffen, denn wenn ich die Mütter betone, möchte ich die Väter nicht ausschließen. Die Mütter haben Töchter und Söhne, nicht wahr? Mit den Müttern hebe ich nicht die patriarchale Mutterschaft hervor, sondern die mütterlichen Werte, die wir in matriarchalen Gesellschaften haben. Das sind die Werte, von denen wir alle leben, denn wir Menschen möchten alle genährt und gepflegt werden. Wir wollen uns auf Augenhöhe begegnen und in Frieden leben. Das sind die Werte, die wir tief in uns haben, und dann erscheint dies alles nicht mehr allzu entfernt.
TV: Vielen herzlichen Dank für dieses überaus spannende und inspirierende Gespräch.
Das Interview führten Ronald Engert und Alice Deubzer.
Dr. Heide Göttner-Abendroth ist Mutter und Großmutter. Sie erwarb ihren Doktortitel an der Universität München, wo sie zehn Jahre Philosophie und Wissenschaftstheorie lehrte (1973–1983). Durch ihre lebenslange Forschungsarbeit und ihr Hauptwerk »Das Matriarchat« wurde sie zur Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung. Sie war Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten (Bremen, Hamburg, Kassel), 1980 Gastprofessorin in Montréal, 1992 Gastprofessorin in Innsbruck. 1986 Gründung und Leitung der »Internationalen Akademie HAGIA für Matriarchatsforschung«. Leitung der drei Weltkongresse für Matriarchatsforschung. Im Jahr 2012 erhielt sie für ihre Forschung einen Award von der »Association of Women & Mythology«. Sie wurde zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. www.goettner-abendroth.de www.hagia.de
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