Einmal oder mehrmals?
Die Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung Heide Göttner-Abendroth geht detailliert der Frage nach, wie, wo, wann und weshalb das Patriarchat entstanden ist. Dabei wird deutlich, dass eine simple Antwort nicht ausreicht, sondern verschiedene Faktoren und Prozesse an unterschiedlichen Orten und Zeiten ineinandergriffen, um diese hierarchische und männerdominierte Gesellschaftsform entstehen zu lassen.
Vorbemerkungen
Das Thema der Erstentstehung des Patriarchats beschäftigt heute viele kritisch denkende Menschen, die mehr und mehr erkennen, was das Patriarchat ist und was es in unserem Leben, im Leben vieler Völker und in der Biosphäre unseres Planeten anrichtet. Die Frage wird lauter, wie es zu einer derart zerstörerischen Gesellschaftsform kommen konnte, eine Frage, die mit der Hoffnung verbunden ist, sie überwinden zu können.
Doch weil die Erstentstehung patriarchaler Muster ein paar Jahrtausende zurückliegt, ist sie schwierig zu erforschen. Daher wurden und werden aus Ungeduld oder Wissbegierde viele verschiedene Thesen vorgeschlagen, die eine Erklärung dafür liefern sollen – wobei sich Ungeduld allerdings nicht allzu gut für ernsthafte Forschung eignet, Wissbegierde schon eher. Jedoch können Spekulationen nicht zu einer befriedigenden Antwort auf diese wichtige Frage führen, sie erschöpfen sich in Pseudo-Erklärungen, die eher Verwirrung als Klarheit bringen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als sich auf jene Wissenschaft zu verlassen, die Zeugnisse aus diesen frühen Zeiten zutage fördert: die Archäologie. Jede These zur Erstentstehung des Patriarchats muss sich also an archäologischen Funden und an wissenschaftlichen Argumenten messen lassen – was der Wissbegier sehr zugutekommt.
Erste wichtige Schritte ins Dunkel jener frühen Epoche hat die Archäologin Marija Gimbutas mit ihrer »Kurgan-Theorie« gebracht, die seither durch DNA-Analysen glänzend bestätigt wurde. Auf ihrer Forschung baue ich auf und führe sie durch Einbeziehung neuerer archäologischer Ergebnisse weiter. Gimbutas hat klar gezeigt, wie verschiedene Wellen der Patriarchalisierung aus der Eurasischen Steppe über Europa hereingebrochen sind und wie viel Zerstörung sie gebracht haben. Das werde ich hier nicht wiederholen, sondern den Fokus erweitern über Europa hinaus auf Westasien, denn die frühesten Formen von Patriarchat kamen von dort.
»Es gibt nicht nur einen Ort der Entstehung von patriarchalen Formen, sie entstanden in verschiedenen Kulturregionen der Welt unabhängig voneinander.«
Aber es gibt nicht nur einen Ort der Entstehung von patriarchalen Formen, sie entstanden in verschiedenen Kulturregionen der Welt unabhängig voneinander. Deshalb gibt es auch nicht eine einzige Ursache für ihre Entstehung. Sie entstanden in den verschiedenen Kulturregionen auf der Erde in verschiedener Weise und zu verschiedenen Zeiten, und auch die Ursachen, die dazu führten, sind verschieden. Für die Entwicklung patriarchaler Muster in der Eurasischen Steppe nennt Gimbutas die Zähmung des Pferdes und die damit verbundene neue Mobilität. Das heißt, eine einzige neue Technologie soll dafür verantwortlich sein. Allerdings hat Gimbutas nicht behauptet, dass dies für die ganze Welt gilt, dennoch greift – bei allem Respekt vor dieser großen Forscherin – ihre Erklärung zu kurz.
In ihrer langen Geschichte haben matriarchale Gesellschaften auch neue, zum Teil großartige Technologien entwickelt, doch nie kam es deshalb zum Patriarchat. So ist die Ursache woanders zu suchen, und vor allem gibt es nicht eine einzige Ursache, sondern es kommt stets ein ganzes Bündel solcher auslösenden Faktoren zusammen. Außerdem sieht dieses Ursachenbündel zur Erstentstehung von patriarchalen Formen in jeder Kulturregion auf der Erde anders aus, sodass dieses Problem jeweils gesondert erforscht werden muss, wenn wir Wissen statt Spekulationen haben wollen. Damit umreiße ich eine riesige Forschungsaufgabe, deren Bewältigung gerade erst begonnen hat. Aber sie wird, je weiter wir darin fortschreiten, unser Verständnis von der Geschichte der Menschheit vollständig verändern – schon deshalb, weil diese bisher ausschließlich durch die patriarchale Brille betrachtet worden ist. Doch nun kommt eine andere Dimension dieser Geschichte ans Licht.

Ich will meinen Worten die konkreten Erklärungen folgen lassen, und zwar an zwei Beispielen für die Erstentstehung von Patriarchat: die Eurasische Steppe und Mesopotamien. Für das Beispiel der Eurasischen Steppe stütze ich mich auf die Forschungen von Gimbutas, aber ich grabe tiefer nach den Ursachen – weil ich nicht alle Schuld dem Pferd geben möchte. Für das Beispiel Mesopotamien stütze ich mich auf verschiedene andere Forscher, ebenso auf die schriftliche Kulturgeschichte, um zu zeigen, wie andersartig die Erstentstehung von Patriarchat dort verlief. Die Verschiedenheit dieser zwei Beispiele möge uns zur Vorsicht mahnen, was die Erklärungen für weitere Kulturregionen der Welt betrifft, wie Ostasien, Indien, Afrika und den Doppelkontinent Amerika.
Erstes Beispiel: Patriarchatsentstehung in der Eurasischen Steppe
Ab dem sechsten Jahrtausend ging eine lange, wasserreiche Periode in der Eurasischen Steppe durch rapide Austrocknung erstmals zu Ende. Die neolithischen Völker mit Dauersiedlungen an kleinen Flüssen, die von den südlich der Steppe gelegenen Gebirgszügen herabkamen, gerieten in Bedrängnis. Der Boden unter ihren Füßen wurde zunehmend unfruchtbar, Flussläufe versiegten, Seen schrumpften oder verschwanden ganz und hinterließen salzige, rissige Flächen. Wie viele Siedlungsgemeinschaften dabei zugrunde gegangen sind, wissen wir nicht. Andere suchten verschiedene Antworten auf die schleichende Katastrophe, aber nur diejenigen, die neue Lösungen fanden, führten die Geschichte weiter. Das Ergebnis waren tiefgreifende Veränderungen ab Mitte des fünften Jahrtausends, die eine vollständige Umwälzung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse brachten. Die erste auslösende Ursache war daher eine weiträumige, unaufhörliche Klimaveränderung, eine ökologische Katastrophe, die sich über Jahrtausende hinzog.
Schauen wir uns die Antworten an, welche die Menschen damals darauf gegeben haben: Eine erste Antwort war die Intensivierung der Jagd (als Sekundärjäger), die aber Grenzen hatte, denn die Artenvielfalt an Großtieren wie noch in der Altsteinzeit gab es nicht mehr. So hielt man sich an die Wildpferde, von denen sich riesige Herden in der Eurasischen Steppe tummelten. Die Jagd auf Wildpferde als Nahrungsquelle war den Menschen seit der Altsteinzeit vertraut, sie kannten seit Langem das Verhalten dieser Tiere.
Eine zweite Antwort war die Erweiterung der kleinen Gruppen von Haustieren zu großen Herden von Schafen, Ziegen und Rindern, um auf diese Weise Nahrungssicherheit zu erreichen, welche die Jagd allein nicht mehr bieten konnte. Obwohl rational gedacht, war dies bei allmählich austrocknenden Böden die falsche Antwort, denn sie bedeutet Überweidung.
Sehen wir weiter: Die Haltung großer Herden verlangte eine erhöhte Mobilität, denn sie ließen sich nicht mehr zu Fuß zusammenhalten. Zudem mussten nun ausgedehnte Wanderungen unternommen werden, um neue Weiden für die vielen Tiere zu finden. Darum war eine dritte Antwort die Zähmung des Wildpferdes, die im fünften Jahrtausend am Ural einsetzte, und fast zwangsläufig kam es dazu, das Pferd als Reittier zu nutzen, was zuerst am östlichen Ural geschah (Botai-Kultur). Nun konnten die Herden sämtlicher Tiere vom Pferd aus gehütet werden, was wiederum zur Vergrößerung der Herden führte, sodass die Viehzucht in den westasiatischen Steppen (Kasachstan) einen enormen Aufschwung nahm. Den Menschen war bei dieser veränderten Wirtschaftsweise nicht bewusst, dass die wachsenden Schaf- und Ziegenherden dem ohnehin ausdörrenden Land noch mehr Schaden zufügten und die Wüstenbildung förderten. Damit hatte die erste Ursache Folgen, die dann zur zweiten Ursache wurden.

Denn die Egalität der vorhergehenden matriarchalen Sozialordnung geriet dabei in Schieflage, wenn auch ohne böse Absicht. Die beiden Tätigkeitsbereiche der Jagd und der Weidewirtschaft mit großen Herden waren nämlich schon immer die Domäne der Männer gewesen, und demgegenüber schrumpfte der ohnehin geringe Feldbau, die Domäne der Frauen, wegen Wassermangels noch mehr. Das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern verschob sich zum Nachteil der Frauen, die zunehmend von der Nahrungsbeschaffung der Männer abhängig wurden. Es entstand eine männerdominierte Hirtenkultur.
Auch westlich des Ural bildeten sich im 6./5. Jahrtausend von Pferden abhängige Hirtenkulturen heraus. Wie sich dadurch das Weltbild und mit ihr die Gesellschaftsform veränderte, kann man an kleinen Pferdeskulpturen und Pferdeknochen auf Opferstellen sehen, was zeigt, dass dem Pferd nun eine religiöse Bedeutung gegeben wurde (Samara-Kultur an der Wolgaschleife). Pferdeopfer erscheinen auch auf Männergräbern, die ebenfalls rituelle Bedeutung besaßen (Chvalynsk-Kultur), und sogenannte »Pferdekopf-Zepter« fand man in Einzelgräbern von erwachsenen Männern, die in Gruben unter Steinhügeln, den »Kurganen«, bestattet worden waren.
In dieser Region begann also das Muster einer ersten Hierarchisierung der Gesellschaft unter männlicher Führung, was tendenziell zu Herrschaft führen kann. Da dies ein ganz neues soziales Muster war, fragt man sich, wie es in einer grundsätzlich matriarchal-egalitären Gesellschaft dazu kommen konnte. Dieses Muster wurde anfangs nicht absichtlich herbeigeführt, sondern ergab sich aus der Notwendigkeit, die wachsenden Probleme zu bewältigen. In Zeiten der Not hatte ein erfinderischer Mann die richtigen Lösungen gefunden, beispielsweise das Reiten auf den schnellen Pferden oder wie er eine Gruppe berittener Männer organisieren konnte, um die großen Herden zu überwachen. Es ist nicht wichtig, wie dies im Einzelnen geschah, in jedem Fall besaß dieser »Retter in der Not« großes Prestige, und die beteiligten Männer gehorchten ihm freiwillig.
Doch auch diese zweite Ursache hatte Folgen, die zur dritten Ursache wurden: Die ohnehin prekäre Situation verschärfte sich, weil die wachsenden Herden immer größere Weideflächen brauchten. Die neue Beweglichkeit zu Pferd erlaubte es, erheblich weitere Distanzen für gutes Grasland zurückzulegen. Aber auch andere Volksstämme gingen zur berittenen Weidewirtschaft über und verhielten sich expansiv, so gerieten die Stämme in den jeweils beanspruchten Gebieten aneinander. Daraus folgte eine erste Phase von Konflikten: Streit und Kämpfe um Weideland. Auf diese Weise wurden Hirten zu Hirtenkriegern, und die Gebiete in ihrer Reichweite versanken in dauerndem Unfrieden.
So kam es zur vierten Ursache: Bei diesen Kämpfen wuchs das Ansehen der siegreichen Anführer beträchtlich. Weil der zunehmende Schwund guten Weidelandes und die Kämpfe als Dauerproblem blieben, wurden die Anführer auf Dauer benötigt, und ihr Status verfestigte sich: Die Gestalt des »charismatischen Führers« entstand (Begriff von Sigrist). Es unterhöhlte gleichzeitig die matriarchale Sippenordnung. Denn um sich siegend durchzusetzen, bildeten diese Anführer und ihr Gefolge eigene Gruppen und Allianzen jenseits der Sippenzusammenhänge. Aus Angst um die eigene Sicherheit erkannte man die Anführer schließlich als Häuptlinge an und gestand ihnen für ihre Verdienste freiwillig eine gewisse Macht zu. Das Häuptlingswesen verstieß gegen die alte, egalitäre Lebensweise, doch da diese »charismatischen Führer« inzwischen ein bewaffnetes Gefolge um sich geschart hatten, konnten sie gewisse Regeln der traditionellen, matriarchalen Ordnung außer Kraft setzen. Das bewaffnete Gefolge stellte einen ersten »Erzwingungsstab« dar (Begriff von Sigrist), der das definitive, notwendige Kriterium für Herrschaft ist, die jetzt im Keim begann.
Aus dieser vierten Ursache folgte eine fünfte: Der Erzwingungsstab wurde nun auch dafür eingesetzt, Vieh, das vorher ein gemeinschaftliches Gut gewesen war, Stück für Stück in Privateigentum umzuwandeln. Der Häuptling wog seine Verdienste in Besitz an Vieh auf, ohne dass die Gemeinschaft etwas dagegen tun konnte oder wollte. Dieser Vorgang zeigt, dass es nicht der Privatbesitz war, der die Entstehung von Herrschaft auslöste. Stattdessen führten umgekehrt erste Keime von Herrschaft zu Privateigentum, das dann wiederum zur Festigung von Herrschaft benutzt wurde.

Kommen wir zur sechsten Ursache, die sich als Folge aus der fünften ergab: Wer dank eines Erzwingungsstabes herrscht, kann nicht nur egalitäre Besitzregeln außer Kraft setzen, sondern auch Regeln der traditionellen matriarchalen Sozialordnung samt deren Werten. Die Häuptlinge verletzten die zuvor umfassende, sakrale Ordnung, indem Teile herausgelöst und zur Stärkung der Herrschaft instrumentalisiert wurden, und diese Profanierung betraf nach den Tieren auch die Frauen. Wie Tiere zu Vieh und zu Privatbesitz wurden, wobei besonders die weiblichen Tiere ausgenutzt wurden, weil sie die Herden vermehren, genauso übertrug man nun das Besitz- und Ausnutzungsdenken auf Frauen. Denn mit der Entdeckung des männlichen Zeugungsaktes wurde der Häuptling nun zum »Alphamann«, der einen Erben für seinen privaten Reichtum brauchte: den eigenen Sohn, der dem Häuptling in allem gleichen sollte. Weil ein Mann den Sohn aber nicht selbst hervorbringen kann, brauchte der Häuptling dazu eine Frau als Mittel zum Zweck.
»Die Monogamie wurde erzwungen, indem die Frau ihrer persönlichen Freiheit durch Überwachung vollständig beraubt wurde«
Frauen wurden aus ihren Sippen wegen der »Ehre«, Häuptlingsfrau sein zu dürfen, weggelockt, und der Häuptling erhielt sie gegen einen Preis an Vieh. Damit wurde auch die Frau sein Privatbesitz, und er »hütete« und »züchtigte« sie wie seine Kühe. Das war in seinen Augen notwendig, um sie gehorsam und strikt monogam zu machen – denn wie konnte er sonst sicher sein, dass die Frau seinen Sohn als den einzig legitimen Erben gebären würde und nicht den eines geheimen Liebhabers? Die Monogamie wurde erzwungen, indem die Frau ihrer persönlichen Freiheit durch Überwachung vollständig beraubt wurde. Bei jeder Unachtsamkeit in sexueller Hinsicht drohte ihr der Tod, denn damit sah sich der Häuptling an seinem Eigentum geschädigt.
»So entstanden die Vaterschaft, die Vaterlinie und das Vaterrecht bei den frühen Indoeuropäern, es ging dabei um Besitz und Macht und nicht um eine sentimental verstandene Vaterliebe.«
So entstanden die Vaterschaft, die Vaterlinie und das Vaterrecht bei den frühen Indoeuropäern, es ging dabei um Besitz und Macht und nicht um eine sentimental verstandene Vaterliebe. Sie waren von Anfang an ein Herrschaftsinstrument über Frauen, womit man sich deren Gebärfähigkeit und zusätzlich ihre Arbeitsleistung aneignete. Die Männer der Krieger-Elite folgten dem Beispiel des Häuptlings, denn sie brauchten auch gehorsame Söhne. Über ihren Besitz konnten diese Männer verfügen, wie sie wollten, was dahin führte, dass sie – wie bei ihrem Vieh – Herren über Leben und Tod ihrer Frauen und Kinder wurden.
Es wäre noch viel zu sagen, wie sich dies in der Eurasischen Steppe weiterentwickelte, aber es ist genug gezeigt, was das patriarchale Muster oder Syndrom in seinem Kern ausmacht. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass nicht das Pferd allein oder das Kupfer und später die Bronze die Ursache für die neuen Konflikte und die Entstehung von Herrschaft waren, genauso wenig wie irgendeine andere einzelne Ursache. Stattdessen ist es stets eine ganze Kette von negativen Ursachen und deren Folgen, die zur Formung von Patriarchat führt.
Zweites Beispiel: Patriarchatsentstehung in Mesopotamien
Wir finden bei der großen Kulturregion Mesopotamien vollkommen andere geografische und ökologische Verhältnisse vor als in der Eurasischen Steppe. Daher kam es hier in einer anderen Weise zum Patriarchat.
Ab dem sechsten Jahrtausend wurde der »Fruchtbare Halbmond«, jener Halbkreis von Gebirgen und Hügeln nördlich von Mesopotamien, wo matriarchale Kulturen entstanden, wegen der anhaltenden Abkühlung und Austrocknung unfruchtbar. Das brachte für das südlich davon gelegene Mesopotamien jedoch erheblich günstigere Bedingungen. Während der vorangegangenen feuchten, wasserreichen Periode wurden die Ebenen zwischen den zwei großen Strömen Euphrat und Tigris häufig überschwemmt, sie waren sumpfig, voller Malaria verursachender Mücken und damit unbewohnbar. Erst die kühlere Periode ließ diese heißen Ebenen trockener und das Land für Besiedlung zugänglich werden.
Daher zogen Menschen entlang der beiden großen Ströme und ihrer Nebenflüsse nach Süden und schufen dort in der frühen Kupfersteinzeit mehrere Kulturen (Hassuna, Samarra und Halaf). Sie bestanden aus Dörfern und Städten auf großen Wohnhügeln, die einheitlich gebaute Häuser für die Sippen hatten. Hinzu kamen größere Gebäude als Kornspeicher für die Gemeinschaft. Es wurde nichts gefunden, was auf besondere Bauten als den Sitz von Häuptlingen hinweist. Zu den häufigsten Funden gehören weibliche Figurinen. Diese Eigenschaften weisen auf egalitäre und von den Traditionen des »Fruchtbaren Halbmonds« herkommende, matriarchale Kulturen hin.
In einer dieser Kulturen (Samarra-Kultur) bahnte sich eine neue Entwicklung an. Die Menschen drangen als Pioniere am weitesten nach Süden in die regenlosen, heißen Ebenen vor. Unter den Bedingungen von extremem Klima und extremer Landschaft erfanden sie hier als Erste die künstliche Bewässerung von Gärten und Feldern. Diese Neuerung war revolutionär und sollte später weitreichende Konsequenzen haben. Wichtig daran ist, dass diese Kulturen nicht nur sesshafte Ackerbaukulturen waren, sondern dass die künstliche Bewässerung die Menschen zusätzlich fest an bestimmte Areale band. Sie konnten nicht einfach weiterziehen, ohne ihre gesamte Wirtschaftsweise aufzugeben.
Hier taucht sogleich die Behauptung auf, dass die Organisation von künstlicher Bewässerung »leitende Personen und eine planende Elite« voraussetze, wobei sich diese »Elite« den von anderen erarbeiteten Überschuss notorisch angeeignet habe. Das hat zu der allgemeinen, aber falschen Annahme geführt, dass die Organisation von Bewässerungsanlagen den Beginn von Patriarchat mit sich brachte. Wieder ist es eine einzige Technologie, die alles verändert haben soll.

Aber die künstliche Bewässerung selbst bot keine großen Schwierigkeiten, besonders nicht am Euphrat, denn er strömt mit nur geringem Gefälle durch die weiten Ebenen. Sein mit Sedimenten gefülltes Bett liegt höher als die Umgebung, daher ist es sehr leicht, Wasser abzuzweigen, das von selbst auf die Felder herunterfließt. Der Tigris hat sich in seinem Oberlauf mehrere Meter tief ins Gelände eingefressen, aber in seinem mittleren Teil gelangt er auch in ebenes Gelände, sodass sein Wasser durch einfache Hebevorrichtungen gewonnen werden kann. Beide Methoden haben die Menschen der frühesten Kultur im Süden erfunden, aber es ist kein Häuptlingswesen bei ihnen zu entdecken. Jene voreilige Behauptung von Elite und Patriarchat bei ihnen unterschätzt lediglich die Fähigkeit zur Selbstorganisation von egalitären Gesellschaften.
Was also sind die tatsächlichen Ursachen für die Erstentstehung von Patriarchat in Mesopotamien? Noch ist es nicht so weit, denn auch bei der Ubaid-Kultur am Persischen Golf und bei den berühmten Sumerern, den Nachfolgern von Ubaid, sieht man keine Eroberungen durch Waffengebrauch, stattdessen einen starken sozialen Zusammenhalt. Die Sumerer übernahmen von der Ubaid-Kultur die Gleichartigkeit der Sippenhäuser, und sie entwickelten frühe Tempelbauten von geringer Größe, die der Stadtgemeinschaft als Versammlungshaus für Beratungen und religiöse Feiern dienten. Von Ubaid übernahmen die Sumerer auch das Prinzip des Gemeinschaftsvorrats, der im Tempel aufbewahrt wurde. Das war notwendig für Notzeiten, denn die extremen geografischen und klimatischen Verhältnisse hatten sich nicht geändert.
In diesem Sinne diente der Tempel als gemeinschaftlicher »großer Haushalt«, wie es früher schon bei den sakralen Gemeinschaftshäusern gewesen war; man nennt dies »Tempelwirtschaft«. Angebliche »Klassenunterschiede der Bewohner« lassen sich daraus nicht sofort ableiten, auch keine »Herrschaftsformen« – wie sollten diese so plötzlich entstanden sein? In den frühen sumerischen Städten bestimmten die Sippen selbst über die Verwendung des Gemeinschaftsvorrats, und wenn eine Gruppe mit einem Vorsteher, einem sogenannten »König«, mit der Administration betraut wurde, dann handelten sie als Delegierte der Sippen.
»Die politische Form war also eine spätmatriarchale Thea-kratie.«
Der Gemeinschaftsvorrat wurde in der Tempelwirtschaft exakt registriert, ebenso war seine Wiederverteilung genau geregelt. Die Wirtschaftsform war also nicht hortend in den Händen einer »Elite«, sondern sie war wiederverteilend nach genau bestimmtem Maß und stand unter der Aufsicht des Stadtrats aus den Sippenvertretern. Außerdem spielte eine stark religiöse Komponente eine Rolle, denn der König war der Stadtgöttin für das Wohlergehen der Menschen in der Stadt gegenüber verantwortlich, und die Stadtgöttin wurde repräsentiert durch die Priesterinnen im Tempel. Frauen besaßen hier eine entscheidende Rolle, denn als Priesterinnen kontrollierten, zählten und hüteten sie die Gemeinschaftsgüter, die ebenso wie das pflügbare Land um die Stadt und die Stadt selbst mit allen Menschen darin letztlich der Stadtgöttin gehörten. Die politische Form war also eine spätmatriarchale Thea-kratie.
In den folgenden Epochen änderte sich diese Situation grundlegend, und wir müssen die Kette von Ursachen dafür finden. In der Bronzezeit kam es in Mesopotamien zu einem rasanten Anstieg der Bevölkerung. Zuvor gab es dort nur spärliche Besiedlung, doch jetzt steigerte sich die Zahl der Ortschaften um das Zehnfache. Das heißt, auf die ersten Einwanderer folgten ganze Völkerscharen. Das ist eine Situation, die als eine Ursache für das Weitere zu gelten hat, doch wovon war sie die Folge?
Die erste Ursache ist, dass diese Völkerscharen wegen der Verödung ganzer Landstriche, die durch Klimaverschlechterung zu Wüsten wurden, aus den umliegenden, bergigen Ländern in die fruchtbare Ebene flohen. Das war außerdem verbunden mit der Kriegsgefahr durch die nomadischen Steppen- und Wüstenvölker, die sich rasch militarisiert hatten und aggressiv gegen die Anwohner der Eurasischen Steppe vorgingen. So haben wir hier bereits ein ganzes Ursachenbündel, das zu einem großen und anhaltenden Problem für die Sumerer führte, nämlich die Versorgung der enorm anwachsenden Menschenmenge zu gewährleisten. Und da die Sumerer nicht von ihrem Agrarland mit Bewässerungssystemen wegziehen konnten, mussten sie das Problem an Ort und Stelle lösen.
Ihre Antwort war die erste Entwicklung staatlicher Organisation. Das geschah weder absichtlich noch war es vorauszusehen, es war ihre Antwort auf das wachsende Problem der Übervölkerung. Hier setzen nun die Ruhmesredner ein, die in Mesopotamien die »Entstehung von erster Zivilisation« überhaupt sehen wollen, was die Menschheit aus ihrer dumpfen, prä-historischen Situation befreit haben soll. In diesem Denken gibt es keine Zivilisation vor dem Patriarchat, was ein sehr begrenztes Weltbild und massive Unwissenheit über die großen matriarchalen Zivilisationen der Welt, beispielsweise die Donau-Kulturen in Südosteuropa, zeigt.
Außerdem tut man den Sumerern Unrecht, denn sie hatten keine staatliche Organisation und kein Patriarchat intendiert, aber sie hatten ein Problem zu lösen. Die Ursache der Übervölkerung ihres Gebiets führte sie zu Folgendem: Man erhöhte die landwirtschaftliche Produktion, indem man die künstlichen Bewässerungsanlagen massiv ausbaute. Die lokalen Kanäle, die zuvor die Felder einzelner unabhängiger Sippenhaushalte bewässert hatten, wurden durch ein ausgefeiltes, zentrales Kanalsystem ersetzt, welches das nötige Wasser herbeischaffte. Die Wartung dieses Kanalsystems führte zu einer sich ständig vergrößernden Verwaltung, die genauso wie die Haupt- und Nebenkanäle in eine Hierarchie gegliedert war. Das war eine wohlüberlegte Ordnung, aber noch kein Patriarchat – vor allem war die künstliche Bewässerung nicht schuld an dieser Situation! Die Beamten der Verwaltung mit einem gewählten und absetzbaren König an der Spitze waren nach wie vor dem Stadtrat bestehend aus den Sippenvertretern gegenüber verantwortlich. Sie konnten nicht über andere bestimmen, denn weder der König noch die Beamten besaßen einen Erzwingungsstab aus einer Krieger-Kaste. Man musste in allen Dingen die Zustimmung der Versammlung aller Haushaltsvorstände einholen. Die Tempelwirtschaft blieb der Dreh- und Angelpunkt der gerechten Zuteilung, sie war noch immer in den Händen der Priesterinnen und galt als sakral. Daran kann man erkennen, dass diese erste Form staatlicher Organisation, wenn sie von allen getragen wird, nicht patriarchal ist. Sie stellt nämlich keinen Eroberungsstaat durch eine Kriegerelite mit der Bildung von Klassen dar.
Dennoch entstand durch die massive Zuwanderung fliehender Völkerscharen eine angespannte Situation. Und schon tauchte die nächste Ursache für Patriarchatsentstehung auf, denn bewaffnete, nomadische Hirtenkrieger erschienen nun selbst in Mesopotamien. Sie waren Völker mit semitischer Sprache, die aus ihren sich ebenfalls in Wüste verwandelnden Gebieten in die Länder der Levante (Palästina, Syrien) und nach Nordmesopotamien zogen. Obwohl sie nicht zu Pferd waren, stießen sie weit in den Süden Mesopotamiens vor und ließen sich am Rand des urbanen Gebiets von Sumer als die »Akkader« nieder. Sie brachten bereits die Vaterlinie und das Vaterrecht mit sich, was die Sumerer nicht besaßen.
Nachdem die Akkader nun selbst Städte gegründet hatten, weiteten ihre Könige, die Kriegerkönige mit einem Erzwingungsstab waren, das Territorium um ihre Städte äußerst aggressiv aus. Die Folge davon war, dass sich die sumerischen Könige ab jetzt dem Kriegshandwerk widmen mussten, das zuvor nicht zu ihren Aufgaben gehört hatte. Diese einschneidende Veränderung erwuchs aus dem Bedürfnis der sumerischen Stadtstaaten nach Sicherheit und Unabhängigkeit. Das führte zu einer weiteren Ursache: Die Rolle des Königs wandelte sich nun vom obersten Administrator zu einem Krieg führenden König, dem für seine Schutzfunktion zahlreiche Privilegien zugestanden wurden. Er wurde jetzt zum patriarchalen Anführer.

Damit war jedoch die erste Ursache, die ökologische Herausforderung, nicht beseitigt, weil sie sich nicht mit kriegerischen Mitteln lösen lässt: Die Bevölkerung wuchs durch fortwährende Einwanderung aus dem Norden unaufhörlich an, und zugleich nahm das Wasser in den beiden großen Strömen durch zunehmende Trockenheit ab. Eine bedrohliche Wasserknappheit war die Folge, was zur Verringerung der landwirtschaftlichen Flächen führte, bei gleichzeitig ansteigender Zahl der Menschen, die hier wohnten. So veränderte sich die Siedlungs- und Wassersituation derart dramatisch, dass die Könige nun territoriale Ansprüche über ihre Stadtgebiete hinaus erhoben, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Doch dadurch gerieten die sumerischen Stadtstaaten untereinander in Streit, was zum Dauerkonflikt ausartete.
Zugleich versuchte man, das Gedränge mit noch strafferer Organisation zu meistern. Die Zentralisierung nahm zu, selbstständige Dörfer gab es nicht mehr, die Mehrheit der Menschen lebte jetzt abhängig in den immer mehr anschwellenden Städten. Es bildete sich eine enorm aufgeblähte, männlich besetzte Bürokratie, die das Wasser regelte, die knapper werdenden Lebensmittel kontrollierte und die Einwohner überwachte. Damit entstand der erste bürokratische Staat, das heißt, eine patriarchale Herrschaft, die über Bürokratie ausgeübt wurde.
Wir sehen in Mesopotamien also eine ganz andere Entstehungsgeschichte von Patriarchat. Doch damit nicht genug, es gab noch eine weitere Ursache, die zur letzten traurigen Folge in dieser Hinsicht führte:
Um die permanenten Konflikte zwischen den sumerischen und akkadischen Städten einzudämmen, kam nun das Konzept der politischen Einheit des Landes und die Idee vom »König des Landes« auf – ein weiterer Schritt zur Zentralisierung. Da die einzelnen Stadtstaaten ihr Territorium aber nicht freiwillig an einen solchen selbst ernannten Landesherrn abtreten wollten, begann man, sich gegenseitig zu erobern. Zuletzt war es der siegreiche König der Stadt Umma, der sich »König des Landes« nannte und eine kurzfristige Herrschaft über ganz Sumer ausübte. Recht unbescheiden erhob er Anspruch auf »alle Fremdländer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang«.
Das hatte üble Folgen: Was die Sumerer nur als Idee hervorbrachten, verbunden mit gescheiterten Versuchen, vollendete schließlich der semitische König Sargon von Akkad (2292–2236). Er wusste das Kriegführen besser auszuüben als jeder vor ihm, denn er erfand nun den organisierten Krieg im großen Stil. Er besiegte in einer Schlacht den König von Umma und fügte Mesopotamien zu einem gewaltsam geeinten zentralistischen Staat zusammen. Danach machte er sich an die Eroberung aller umgebenden Länder »von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang« und gründete damit das erste Eroberungsreich als Militärstaat. Er etablierte sich selbst als einziger Herrscher, der erste in der Menschheitsgeschichte, und setzte sich als einziger Gott über alle Tempel ein. Es ist die Staatsform des klassischen Patriarchats, das in Mesopotamien erstmals erfunden wurde.
»Frauen in diesen Reichen sanken auf die Stufe des wehrlosen, zu beschützenden Volksteils herab, was sie jeglicher Willkür aussetzte.«
Militärreiche, der sogenannten »Weltreiche« verschiedener Färbung. Sie beruhen auf einem enormen Gewaltpotenzial nach innen und außen, das heißt, der Unterdrückung des eigenen Volkes und der Ausbeutung anderer Völker, was zu fortgesetztem innerem und äußerem Elend führt. Frauen in diesen Reichen sanken auf die Stufe des wehrlosen, zu beschützenden Volksteils herab, was sie jeglicher Willkür aussetzte. Bei der Eroberung fremder Länder wurden sie zu Kriegsbeute und Sklavinnen, womit die erste Form der Sklaverei erfunden wurde. Ein prächtiges Leben führten nur der Herrscher und seine Getreuen, die nun endlich in die Geschichte eingetretene »Elite«, samt dem hierarchischen Erzwingungsstab der kontrollierenden und strafenden Instanzen.
Seither hat das Patriarchat mit seinen verschiedenen Formen in einer fatalen Endlosschleife die Menschheit nicht mehr verlassen.

Dr. Heide Göttner-Abendroth ist Mutter und Großmutter. Sie erwarb ihren Doktortitel an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie zehn Jahre Philosophie und Wissenschaftstheorie lehrte (1973–1983). Durch ihre lebenslange Forschungsarbeit und ihr Hauptwerk »Das Matriarchat« wurde sie zur Begründerin der Modernen Matriarchatsforschung. Sie war Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten (Bremen, Hamburg, Kassel), 1980 Gastprofessorin in Montréal, 1992 Gastprofessorin in Innsbruck. 1986 Gründung und Leitung der »Internationalen Akademie HAGIA für Matriarchatsforschung«. Leitung der drei Weltkongresse für Matriarchatsforschung. Im Jahr 2012 erhielt sie für ihre Forschung einen Award von der »Association of Women & Mythology«. Sie wurde zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
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© Bilder: Wikimedia Commons
Beitragsbild: Nackte Frau mit einem Eidechsenkopf, die ein Kind stillt, aus Ur, Irak, ca. 4000 v. Chr., Irak Museum
Literatur
Anthony, David W.: The Horse, the Wheel, and Language. How Bronze Age Riders from the Eurasian Steppes shaped the Modern World, Princeton & Oxford 2007, Princeton University Press.
DeMeo, James: Saharasia: The 4000 BCE Origins of Child Abuse, Sex-Repression, Warfare and Social Violence in the Deserts of the Old World, Greensprings/Oregon 1998, Orgone Biophysical Research Lab.
Gimbutas, Marija: Die Zivilisation der Göttin. Die Welt des Alten Europa, Frankfurt 1996, Zweitausendeins Verlag.
Göttner-Abendroth, Heide: Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats, Band III: Westasien und Europa, Stuttgart 2019, Kohlhammer Verlag.
Haarmann, Harald: Auf den Spuren der Indoeuropäer, München 2016, Beck Verlag.
Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt 1991, Campus Verlag.
Maisels, Charles Keith: Early Civilizations of the Old World. The Formative Histories of Egypt, The Levant, Mesopotamia, India and China, London, New York 1999, Routledge.
Nissen, Hans J.: Geschichte Alt-Vorderasiens, München 2012 (2.), Oldenbourg Verlag.
Sigrist, Christian: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Frankfurt/Main 1979, Syndikat Verlag.