Die Suche nach dem wahren Selbst
Die Suche nach Heilung führte die selbst von einem Trauma betroffene Autorin zur Neurophilosophie und zur Körperpsychotherapie. Sie entdeckte die alte Weisheit des Yoga als einen Weg zur Heilung und kombinierte ihn mit Erkenntnissen aus der Gehirnforschung und zahlreichen psychologischen Ansätzen. Dabei betont sie, dass bei allen Zugängen traumasensitiv vorgegangen werden muss, um das Trauma nicht weiter zu verstärken.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihre tiefsten Wunden heilen, indem Sie das Potenzial Ihres Gehirns nutzen. Klingt das zu schön, um wahr zu sein? Nun, es gibt zwei aufstrebende Disziplinen, die genau das versprechen – Neurophilosophie und Körperpsychotherapie.
1. Die Bedeutung ganzheitlicher Heilung von Traumata
In unserer modernen Gesellschaft wird das Thema Trauma und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden immer wichtiger. Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach ganzheitlichen Ansätzen, um ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und sich davon zu heilen.
In unserer Welt, in der wir immer noch oft dazu neigen, Körper, Seele und Geist als getrennte Entitäten zu betrachten, eröffnet uns die Neurophilosophie ein neues Verständnis davon, wie unsere körperlichen Erfahrungen und unser geistiges Wohlbefinden miteinander verbunden sind. Körperpsychotherapie ermöglicht uns zugleich die heilende Begleitung des Körpers mit Augenmerk auf die seelische Auswirkung.
Warum wir all das benötigen? Traumata – insbesondere interpersonelle Traumata der Kindheit – können sich tief in unserem Nervensystem und in unserem Gehirn verankern. Sie hinterlassen nicht selten alte und verkrustete Spuren, die unsere Denkweisen, Emotionen, Verhaltensmuster und Anatomie beeinflussen. Sie erzeugen im wahrsten Sinne des Wortes Scherben oder Fragmente sowohl in unserer Ich-Wahrnehmung als auch in unserem Körper.
Neuroplastizität und die Bhagavad-gita
Die Funktionsweise des Gehirns ist äußerst komplex, und wir verstehen noch lange nicht alles darüber. Dennoch sind wir in der Lage, einige grundlegende Prinzipien zu identifizieren. Das Gehirn besteht aus Milliarden von Nervenzellen, die miteinander kommunizieren und Informationen verarbeiten. Diese Kommunikation erfolgt durch elektrische Impulse und chemische Botenstoffe, die als Neurotransmitter bezeichnet werden.
Insbesondere die Stresshormone Adrenalin und Cortisol werden vermehrt ausgeschüttet, wenn wir traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sind.
Neurotransmitter spielen eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung von Traumata. Insbesondere die Stresshormone Adrenalin und Cortisol werden vermehrt ausgeschüttet, wenn wir traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sind. Diese Hormone versetzen den Körper in einen Alarmzustand, der es uns ermöglicht, schnell auf potenziell gefährliche Situationen zu reagieren. Dieser Mechanismus ist evolutionär bedingt und hat uns in der Vergangenheit oft das Überleben gesichert.
Allerdings kann ein übermäßiger und lang anhaltender Stress zu einer Dysregulation des Hormonhaushalts und Stoffwechsels führen und das Gehirn in einen Zustand der Übererregung versetzen. Dies kann zu einer Reihe von psychischen und körperlichen Symptomen führen, die typisch für Traumata sind, wie zum Beispiel Angstzustände, Schlaf- und Verdauungsstörungen und Schmerzen. Wenn das Nervensystem sich nicht von selbst entspannen kann, kann es sein, dass dieser Zustand immer wieder durch die auslösenden Reize hervorgerufen und chronifiziert wird.
Die gute Nachricht ist, dass das Gehirn in der Lage ist, sich an diese Veränderungen anzupassen und zu heilen. Dieser Prozess wird als Neuroplastizität bezeichnet. Das Gehirn kann neue Verbindungen zwischen Nervenzellen herstellen, alte Verbindungen verstärken oder abschwächen und sogar neue Nervenzellen bilden. Diese Veränderungen können dazu führen, dass die negativen Auswirkungen von Traumata reduziert werden.
»Yoga is the journey of the self, through the self, to the self.« – Bhagavad-gita
Und jetzt fragen Sie sich, wie die Bhagavad-gita die Neuroplastizität beeinflussen kann? Durch ihre Einladung, die Reise zur Selbsterkenntnis anzutreten und die durch Verletzungen entstandenen inneren Scherben wieder zum Ursprung, zu der Einheit unseres Körpers, Geistes und unserer Seele zu transformieren. »Yoga is the journey of the self, through the self, to the self.« – Bhagavad-gita
Wie das Gehirn sich anpassen und ein Trauma heilen kann
Neuroplastizität bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, sich ständig zu verändern und anzupassen. Früher glaubte man, dass das Gehirn im Erwachsenenalter festgelegt ist und sich nicht mehr verändern kann. Doch neuere Forschungen zeigten, dass dies nicht der Fall ist. Tatsächlich ist das Gehirn äußerst flexibel und kann sich sogar in hohem Maße regenerieren.
Der Psychologe Donald O. Hebb fand im Jahr 1949 heraus, dass sich unsere Gehirnverbindungen verändern können. Das nennt man synaptische Plastizität. Er stellte eine Regel auf, wie das Lernen im Gehirn funktioniert. Diese Regel nennt man die Hebbsche Lernregel. Donald O. Hebb schrieb darüber in seinem Buch »The Organization of Behavior«. Diese Entdeckung ist wichtig, um Menschen zu helfen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und ihr Leben verbessern möchten.
Dieser Prozess wird alsfunktionelle Umorganisation bezeichnet und ist ein wichtiger Aspekt der neuroplastischen Heilung.
Einer der Hauptmechanismen der Neuroplastizität ist die Bildung neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen, den sogenannten Neuronen. Diese Verbindungen werden durch wiederholtes Üben oder Lernen gestärkt. Wenn wir also eine neue Fähigkeit erlernen oder uns neuen Herausforderungen stellen, bildet das Gehirn neue Verbindungen, um diese Aufgaben zu bewältigen. Traumaüberlebende benötigen nicht nur neue Körperreaktionsmuster, sondern auch neue emotionale Muster, ein neues, gesundes Selbstbild und die Fähigkeit, sich neue Erlebnisse der Sinneswahrnehmung anzueignen.
Ein weiterer Mechanismus der Neuroplastizität ist die Umorganisation der bestehenden neuronalen Schaltkreise. Das bedeutet, dass sich die Funktion bestimmter Bereiche des Gehirns verändern kann. Wenn beispielsweise eine bestimmte Region des Gehirns aufgrund einer Verletzung nicht mehr richtig funktioniert, kann eine andere Region diese Funktion übernehmen. Dieser Prozess wird als funktionelle Umorganisation bezeichnet und ist ein wichtiger Aspekt der neuroplastischen Heilung. Für Menschen mit Traumaerfahrung aus der Kindheit ist diese Eigenschaft der Neuroplastizität besonders von Bedeutung. Umorganisation und verstärkte Verbindung (Assoziation) zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte kann ermöglichen, dass dysregulierte Ich-Erlebnisse wie Panikattacken oder Dissoziation und Flashbacks milder werden und wir uns schneller wieder regulieren (von lateinisch associare »verknüpfen« und nicht aus dem lateinischen dissociare, also »trennen«).
Darüber hinaus können auch bestimmte Neurotransmitter und Hormone eine Rolle bei der neuroplastischen Heilung von Traumata spielen. Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin sind für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen verantwortlich und können durch gezielte Interventionen beeinflusst werden. Hormone wie Cortisol, das als Stresshormon bekannt ist, können ebenfalls auf die Neuroplastizität wirken. Ein erhöhter Cortisolspiegel (Alarmzustand) kann die Bildung neuer Verbindungen im Gehirn hemmen, während ein ausgeglichener Hormonhaushalt (regulierter Zustand) die neuroplastische Heilung fördern kann.
Aber wie genau können wir die Neuroplastizität für die Heilung von Traumata nutzen?
Gezielte Übungen, körperliche Aktivität und Therapien, die die Bildung neuer Verbindungen im Gehirn und die Umorganisation der neuronalen Schaltkreise fördern, sind hierfür hilfreich.
Neuroplastizität und innere Zuwendung durch Achtsamkeit
Wenn Menschen traumatische Erfahrungen gemacht haben und unter einer (komplexen) posttraumatischen Belastungsstörung ((k)PTBS) leiden, kann die gezielte Stimulation des präfrontalen Kortex helfen. Der präfrontale Kortex ist ein Teil des Gehirns, der für die Emotionsregulation und die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen wichtig ist. Diese Stimulation ist auf natürlichem Wege durch traumasensitives Yoga und traumasensitive Achtsamkeit wunderbar und nachweislich erreichbar.
Durch Achtsamkeitspraxis können wir die neuronalen Verbindungen in unserem Gehirn stärken.
Achtsamkeit ist aus medizinischer Sicht eine effektive und beinahe universelle Methode, um das Gehirn zu trainieren und neue Nervenzellen zu bilden. Durch gezielte Übungen können wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken, ohne dabei zu bewerten. Durch Achtsamkeitspraxis können wir die neuronalen Verbindungen in unserem Gehirn stärken.
Der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn belegte die positive Wirkung der Achtsamkeitspraxis im Rahmen seiner Methode »Mindfulness-Based Stress Reduction« (MBSR). Die sogenannten bildgebenden Verfahren wie die Magnetresonanztomografie (MRT) liefern nun seit einigen Jahren hochaufgelöste Bilder der Hirnstruktur und machen sichtbar und belegbar, was im Gehirn durch Achtsamkeitsmeditation geschieht. Mit dieser Methode lernen Patienten, ihre volle Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment zu lenken und dabei ihre Gedanken, Körperempfindungen und Sinneseindrücke zu beobachten, ohne zu bewerten. Dadurch entwickeln sie mehr Akzeptanz, wodurch Beschwerden als weniger quälend empfunden werden.
Kommt es Ihnen bekannt vor? Ja, das klingt wie eine traditionelle Yogapraxis.
Polyvagaltheorie, Achtsamkeit und das Gehirn
Der wohl weltbekannteste Traumaforscher, Psychiater und Neurowissenschaftler ist der amerikanische Dr. Stephen W. Porges. Seine bekannteste Theorie ist die durch ihn im Jahr 1994 postulierte Polyvagaltheorie. Er stellte in seinen Arbeiten die Bedeutung der Polyvagaltheorie für die ganzheitliche Heilung von Traumata heraus. Diese Theorie beschreibt, wie das autonome Nervensystem auf traumatische Ereignisse reagiert und wie diese Reaktionen das Erleben und Verhalten eines Menschen beeinflussen können (Porges SW, (2010). Die Polyvagal-Theorie: Neurophysiologische Grundlagen der Therapie).
Das autonome Nervensystem besteht aus dem Sympathikus, der für die »Kampf-oder-Flucht«-Reaktion verantwortlich ist, dem Parasympathikus, der für die Entspannungs- und Ruhephasen zuständig ist, und dem ventralen Vagusnerv, der eine wichtige Rolle bei der sozialen Interaktion spielt. Bei traumatischen Ereignissen kann es zu einer Dysregulation dieser Systeme kommen, was zu chronischem Stress, Angststörungen und anderen psychischen Problemen führen kann.
Achtsamkeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulation des autonomen Nervensystems.
Achtsamkeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulation des autonomen Nervensystems. Denn durch achtsame Praktiken wie Meditation https://members.tattva.de/prof-dr-martin-mittwede-meditation-und-spiritualitat-aus-sicht-des-ayurveda/ und Körperwahrnehmung kann man lernen, die eigenen Körperempfindungen und -reaktionen besser wahrzunehmen und somit zu regulieren. Studien belegen, dass Achtsamkeitstechniken dazu beitragen können, das autonome Nervensystem zu stabilisieren und die Stressreaktionen zu reduzieren. Aber wie genau wirkt sich das auf das Gehirn aus? Neuroplastizität ist das Stichwort. Und so schließt sich der Kreis für denkbar wirksame Traumatherapiemethoden.
2. Philosophische Ansätze zur Heilung von Traumata
»Cogito ergo sum« – »Ich denke, also bin ich«. Oder etwa doch nicht? Die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie stellen Philosoph:innen vor neue Fragen. Wenn René Descartes rechtzeitig eine psychiatrische Klinik besucht hätte, hätte er vielleicht einen anderen Satz gesagt als »Ich denke, also bin ich«. Denn Krankheiten des Gehirns können Zweifel an Theorien wecken, die Philosoph:innen immer noch für wahr halten. So existierte zum Beispiel die Annahme, dass ein Mensch sich nicht über den Inhalt seines Bewusstseins täuschen kann. Das ist jedoch ein Irrtum, wie Neurolog:innen wissen, die Patient:innen mit »Anton-Syndrom« oder mit Phantomschmerzen behandeln. Bei diesen Patient:innen verursacht eine Hirnschädigung Blindheit oder sie erleiden eine Amputation. Dennoch sind sie davon überzeugt, dass sie sehen können oder ihr amputierter Arm »schmerzt«. Ihnen geschieht, was Descartes für unmöglich hält: Sie irren sich über die objektive Existenz dessen, was von den Sinnen wahrgenommen wird.
Diese Eigenschaft verbindet sie mit Menschen, die an Folgen von einem Trauma leiden. Denn Traumasymptome wie Flashbacks, Dissoziation oder somatoforme Schmerzen sind unter anderem Phänomene, welche die betroffene Person über die Existenz beziehungsweise den Inhalt dieser Sinneswahrnehmungen in die Irre führen.
Die Bedeutung der Lebensphilosophie für die Gestaltung eines neuen Lebens nach Traumata
Nach einem traumatischen Erlebnis kann es schwierig sein, das Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Gehirn nach traumatischen Erfahrungen verändert ist. Doch was bedeutet dies für die Gestaltung eines neuen Lebens? Hier kommt die Lebensphilosophie ins Spiel. Die Lebensphilosophie beschäftigt sich mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, der persönlichen Identität und der Bedeutung von Leid und Trauer. Sie kann uns helfen, eine neue Perspektive auf unser Leben zu gewinnen, und uns dabei unterstützen, nach traumatischen Ereignissen wieder Fuß zu fassen.
Dabei geht es nicht nur um die Bewältigung des Erlebten, sondern auch um die Schaffung eines neuen Lebens, das von Wachstum und positiver Veränderung geprägt ist. Ein wichtiger Teil davon ist es, die eigene Resilienz und Selbstheilungskräfte zu stärken. Dies kann durch die Übernahme philosophischer Grundlagen erreicht werden, die uns helfen, das Erlebte in einen größeren Zusammenhang zu stellen und neue Perspektiven zu entwickeln. Die Integration dieser philosophischen Konzepte in die Therapie ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur ganzheitlichen Heilung von Traumata.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Lebensphilosophie allein nicht ausreicht, um traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Sie ist vielmehr ein Teil eines umfassenden Ansatzes zur Heilung von Traumata. Im Folgenden werden weitere Ansätze vorgestellt, die in Kombination mit philosophischen Konzepten eingesetzt werden können. Dies beinhaltet unter anderem die traumasensitive Yogatherapie oder »Trauma Yoga« nach Dr. Bessel van der Kolk, die eine Verbindung von Körper und Geist herstellt und somit eine ganzheitliche Herangehensweise ermöglicht.
Upanishaden, Patañjali und Yogaphilosophie in modernen körperorientierten Traumatherapiemethoden
Zentrales Vorgehen zur wirksamen Unterstützung von Traumabetroffenen ist das yogische Prinzip der »Des-Identifikation«. Also »ich bin nicht meine Gedanken«, »ich bin nicht meine Gefühle« und »ich bin nicht mein Körper«. Ergänzend bildet die Installation der Rolle des »Beobachters« in unsere Denkweise zur Distanzierung vom Trauma und dessen Folgen ebenfalls eine hilfreiche Komponente.
Diese Philosophie und die damit einhergehenden Prinzipien der »Anhaftung« und »Ablehnung« können wir bereits in alten Yogatexten wie in der Katha Upanishad (d. h. Brihadaranyaka Upanishad, BrU 1.3.28) bzw. Krishna Yajurveda (aus der Zeit vor 600 v. Chr.) entdecken:
ॐ शान्तिः शान्तिः शान्तिः ॥ oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ
»असतो मा सद्गमय । तमसो मा ज्योतिर्गमय । मृत्योर्माऽमृतं गमय ॥«
»asato mā sadgamaya, tamaso mā jyotirgamaya, mṛtyormā’mṛtaṃ gamaya.«
– »Aus dem Nichtseienden führe mich zum Seienden;
Aus der Finsternis führe mich zum Licht;
Aus dem Tod führe mich zur Unsterblichkeit. Om Friede, Friede, Friede.«
oder auch in den Yogasutras von Patañjali (ca. 400 bis 200 v. Chr.) beobachten:
»YS 2.3 अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशः क्लेशाः
avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśaḥ kleśāḥ«
– »Unwissenheit, Selbstbezogenheit, Anziehung und Abneigung sowie Angst vor dem Tod sind Ursachen des Leidens.«
So weisen diese Texte auf fünf Hindernisse hin, die unser Leiden verursachen und überwunden werden müssen, um ein Leben ohne unnötiges Leid zu führen. Diese Hindernisse werden auch »kleśa« genannt. Diese geistigen Eigenschaften betrüben unser Denken und verhindern, dass wir klar sehen:
- avidyā: falsches Wissen oder Verwechslung mit der Wirklichkeit
- asmitā: Ich-Identifikation, Identifikation mit dem Wandelbaren, Vergleichen, Bewerten, Mangel an Erkenntnisfähigkeit
- rāga: blinde Zuneigung, Anziehung, Anhaftung, Abhängigkeit, Sucht
- dveṣa: blinde Abneigung, Ablehnung, Nicht-Offenheit, Hass
- abhiniveśa: unbegründete Angst oder Angst vor dem Tod
Diese Konzepte haben unter anderem Laurence Heller und Aline LaPierre in NARM™ (NeuroAffective Relational Model, »Entwicklungstrauma heilen«, 2012), Somatic Experience SE® nach Dr. Peter Levine (»Sprache ohne Worte«, 2011) oder MBSR von Jon Kabat-Zinn (»Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit«, 2014) für sich entdeckt. Auch die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) als kognitive Verhaltenstherapie wurde basierend auf den Prinzipien von Achtsamkeit und Des-Identifikation von Marsha M. Linehan zur Behandlung von chronisch suizidalen Patient:innen mit einem Borderline-Muster in den 1980ern entwickelt.
3. Yogatherapie als Bindeglied zur Unterstützung der neurophilosophischen Heilung
Wir haben bisher Grundlagen für eine Therapie entwickelt, die sich um ganzheitliche Gesundheit und Wohlbefinden kümmert. Dazu gehören Neuroplastizität, Achtsamkeit, Lebensphilosophien und die Integration des Körpers. Ohne die Einbeziehung des Körpers wäre die Therapie nicht vollständig. Diese Therapie kann Menschen helfen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und ihr Leben verbessern möchten.
Notwendigkeit von Mobilisierung neuronaler Netzwerke im Körper
Dr. Gunther Schmidt, führender hypnosystemischer Therapeut und »Burn-out-Papst aus Heidelberg« fand einen wunderbaren Begriff für im Körper manifestierte Muster einer Erfahrung: Erlebnismuster. Damit wird das Netzwerk abgespeicherter Erfahrungen in unserem Organismus bezeichnet, der nicht aus einem, sondern aus Millionen weiterer Netze auf den Ebenen der Kognition, Emotion, Sinneswahrnehmung und Körper sowie Bewusstsein besteht. Jedes Mal, wenn wir eine Erfahrung in Erinnerung rufen, werden diese Erlebnisnetzwerke aktiviert. Positiv oder negativ, gewollt oder autonom. Freude oder Schmerz verursachend, je nach Erinnerungsmaterial.
So wird uns klar, dass ohne den Körper in die Therapie einzubeziehen, Gesprächstherapien und gar Meditation und Achtsamkeit zur wirksamen Traumaheilung nicht ausreichen.
Yoga als Urquelle für Traumaheilung
Yoga ist ein jahrtausendealter ganzheitlicher Ansatz, der uns hilft, uns mit unserem Körper und unserer inneren Welt zu verbinden. Durch yogatherapeutische Übungen können wir unter anderem unsere Selbstwahrnehmung und -regulierung stärken, unser Selbstmitgefühl erhöhen und das Körpergewahrsein erlernen. Dies ist besonders wichtig nach traumatischen Erfahrungen, da diese oft zu einer Störung der Körperwahrnehmung und einer Dysregulation des Nervensystems führen können. Sich beruhigen zu können, Gefühle zu regulieren und eigene Grenzen und Emotionen zu erkunden, stellt nicht selten eine weitere Herausforderung dar.
Traumasensitives Yoga ist eine spezielle Art von Yoga, die für Menschen mit PTBS und Entwicklungstrauma entwickelt wurde. Es hilft dabei, das dysregulierte Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Im Jahr 2002 haben Dr. Bessel van der Kolk, niederländischer Psychiater und Traumatherapeut (»Verkörperter Schrecken«, 2015), und David Emerson (Direktor des Centers for Trauma and Embodiment – CFTE, »Trauma-Yoga«, 2011 et al.) mit der Entwicklung und Erforschung von TCTSY begonnen. TCTSY steht für »Trauma Center Trauma Sensitive Yoga« und wurde am Trauma Center Boston entwickelt. Damals gab es noch kein Behandlungsprogramm für komplexe Traumata, das Yogaformen in einen klinischen Kontext einbezog.
Das Trauma Center erhielt 2014 Forschungsgelder, um die Wirksamkeit einer Methode zur Behandlung von chronischer PTBS zu untersuchen. Die Methode wurde in verschiedenen Studien getestet und hat vielversprechende Ergebnisse gezeigt. Inzwischen verfügt die Methode über eine robuste Studienlage. Sie wird weltweit in verschiedenen Bereichen, zum Beispiel bei Veteranen, in Beratungsstellen für Frauen, mit Kindern und Jugendlichen und bei Flüchtlingen angewendet.
Warum Yoga und Achtsamkeit traumasensitiv sein müssen
Yogatherapie kann uns dabei helfen, wieder in Kontakt mit unserem Körper zu kommen und ihn als Ressource für unsere Heilung zu nutzen. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Therapie ist die Arbeit mit Atmung und Meditation. Die Atmung hat eine direkte Verbindung zum Nervensystem und kann daher dazu beitragen, den Stresslevel zu regulieren und das Nervensystem zu beruhigen. Meditation wiederum kann uns dabei helfen, uns von belastenden Gedanken und Erinnerungen zu distanzieren und einen Zustand innerer Ruhe und Gelassenheit zu erreichen.
Yogatherapie kann uns dabei helfen, wieder in Kontakt mit unserem Körper zu kommen und ihn als Ressource für unsere Heilung zu nutzen.
Damit Traumabetroffene nicht stets in die Nähe von traumatischen Erinnerungen geführt werden, ist das sogenannte Traumasetting unerlässlich. Nicht selten berichten Patient:innen darüber, dass sie während einer Meditation getriggert wurden, in einer Yogastunde, von Emotionen überschwemmt, dissoziiert haben oder sogar in einer Psychotherapie aufgrund fehlender Traumasensitivität und fehlenden Traumabewusstseins Flashbacks erlitten. Sowohl TCTSY als auch Traumasensitive Achtsamkeit nach David Treleaven richten das Augenmerk darauf, Fähigkeiten von Betroffenen sanft zu fördern. Beide Therapiemethoden ermöglichen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, selbstwirksam – Stück für Stück – in das Körpergewahrsein hineinzufinden. Eine eigene individuelle Heilungspraxis unterstützt dabei, eine wohlwollende, liebevolle Bindung zu sich selbst aufzubauen.
Die größte Suche nach dem wahren Selbst hat ein Ende
Die transformative Kraft der neurophilosophisch-körperorientierten Heilung von Traumata ist ein Prozess der Muße. Muße für den Aufbau einer regelmäßigen Praxis und deren Integration in den Alltag, um die Selbstwahrnehmung und -regulierung zu stärken, die Verbindung von Körper und Geist zu vertiefen und neue Wege der Sinnfindung und Lebensgestaltung zu entdecken. Sie ist eine Entdeckungsreise der wahren Identität, des eigenen Körpers und verborgener Fähigkeiten. Ein Vorgehen, das die einzelnen Schichten einer Blumenzwiebel vom Kern löst, damit die Schleier endlich fallen dürfen, die wahre Identität sich entfalten und als schöne Blume über das ganze Jahr hinweg erblühen darf. Welche Blume möchten Sie sein?
Gabriella Rist, geboren 1972 in Ungarn, ist eine Überlebende und Expertin für Entwicklungstrauma und emotionalen Missbrauch. Gabriella ist Entwicklerin der Ganeshashala® Methode, Verlegerin und Autorin.
Heute leitet sie nach dem Abschluss des Studiums der Psychologie und der Neurowissenschaften bei Prof. Gerald Roth das Trauma Institut für Entwicklungstrauma. Außerdem ist sie Körperpsychotherapeutin für Traumasensitives Yoga nach Dr. Bessel van der Kolk, Ashtanga-Yogalehrerin (BDY 500h), AYI® Advanced-Yoga-Therapeutin sowie ZPP-zertifizierte Entspannungspädagogin. 2019 studierte sie Yogaphilosophie bei BNS Iyengar in Mysore, Indien, und 2021 bei Raghu Ananthanarayanan die Texte des Mahabharata.
Artikel zum Thema
- Thomas Hübl – Kollektives Trauma heilen. Ein Integrationsprozess
- Dr. Ilona Schönwald – Das vererbte Trauma. Gefühle spüren und kollektive Einflüsse heilen
- Ronald Engert – Trauma und Heilung. Wie man an der Ursache ansetzt und nachhaltig heilt
- Dieter Schnocks – C. G. Jungs Verständnis der Seele
- Gabor Maté – Vom Mythos des Normalen
Weitere Beiträge auf www.tattva.de (freu dich, die werden noch als Volltexte in Tattva Members eingepflegt 😀):
- TV 86: Marina Stachowiak – Transgenerationales Erbe.
Die Last der Kriege in den Generationen danach - TV 72: Ronald Engert, Alice Deubzer: Mut zum Fühlen – Die Emotionen meistern.
Bericht von der Integralen Konferenz - TV 52: Ronald Engert: Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung
- TV 38: Prof. Dr. Stanislaw Grof – Außergewöhnliche Bewusstseinszustände.
Heilung durch transpersonale Psychologie - TV 42: Jiddu Krishnamurti – Angst. Ein Gefühl an der Wurzel unseres Seins
- TV 34: Krishna Chandra – Das Prinzip der Entpersönlichung.
Der Missbrauch an Tieren als Vorstufe zum Missbrauch an Menschen - TV 07: Priya Krishna Dasa – Yoga – die Verbindung.
Patanjalis Yoga-sutras und die Bhagavad-gita
Weiterführende Literatur:
Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht. 2014, Klett-Cotta.
Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, Alica Ryba: Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell. Coaching und Beratung in der Praxis. 2019, Klett-Cotta.
Bessel van der Kolk: Verkörperter Schrecken. 2015, G. P. Probst.
David Treleaven: Traumasensitive Achtsamkeit. 2018, Arbor.
David Emerson, Elisabeth Hopper: Trauma-Yoga durch sorgsame Körperarbeit. 2011, G. P. Probst.
David Emerson: Trauma-Yoga in der Therapie. 2015, G. P. Probst.
Patanjali: Das Yogasutra. 2003, Theseus.
Ramananda Prasad: Nine Principal Upanishads. International Gita Society. amazon print 2020 by https://www.gita-society.com
Studien zum traumasensitiven Yoga auf der amerikanischen Webseite des Trauma Centers: traumasensitiveyoga.com/resources/research
Bildnachweis: © Pixabay – BiancaVanDijk