Plädoyer für Walter Benjamin
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Walter Benjamin (1892–1940) war ein wichtiger Philosoph des 20. Jahrhunderts. Geboren und aufgewachsen in Berlin, jüdischer Abstammung, lebte er ab 1933 im Exil in Paris und nahm sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben. Er hinterlässt ein großes Werk, aus dem wir in den kommenden Ausgaben eine kleine Serie von Ausschnitten präsentieren möchten. Sein Blick auf die Wirklichkeit war mystisch inspiriert. Er war ein Seher, der das Göttliche im Weltlichen wahrnehmen konnte.
Zur Einführung
Die Wahrheit ist in jedem Moment ›wahr nehmbar‹. Das ist die elektrisierende und aufregende Sichtweise von Walter Benjamin. In jedem Moment liegt eine revolutionäre Chance. Nichts ist verloren. Die Wahrheit ist immer wieder neu und doch gleichzeitig das nie veränderbare Ewige. Ein Fragment der Vergangenheit tritt mit dem Moment der Gegenwart in eine einmalige, einzigartige Konstellation. Diese Konstellation zu finden und zu lesen – was nie geschrieben wurde, lesen –, ist die genuine Leistung des Sehers, desjenigen, der die Synthese der Extreme zu leisten vermag und die multiperspektivische, integrale Sicht der Dinge hat.
Dieses Sehen ist kein optisches, sondern ein Sehen der Wahrheit. Dieses Sehen sieht das geheime Gewebe hinter den Dingen, den Faden, auf dem alles ruht. Es ist das mystische Element, von dem Benjamin spricht. Es ist nicht hinreichend durch kognitive oder intelligible Kategorien zu erklären, die alle in den Bereich der Erkenntnis und des Begriffs gehören. Es ist eine transzendente, intuitive Herangehensweise, in der sich das ganze Bild wie von selbst manifestiert.1Der Mensch hat immer eine natürliche Anbindung an den transzendenten Bereich. Der Mensch besteht aus Körper, Sexus, Gefühl, Denken und Spirit. Es ist nicht möglich, nur durch Denken zur Wahrheit zu gelangen, wie dies Immanuel Kant und die westlichen Philosophen in seiner Nachfolge versuchen. Allerdings ist das Ergebnis Denken. Man sollte also das Denken nicht geringschätzen. Man sieht es einfach. Es gibt keine logische oder kausale Argumentation. Dieses Bild ist transrational und transkausal.2Translogisch ist streng von unlogisch zu unterscheiden. Es ist ein intuitives Prinzip, das die Logik integriert und überschreitet. Die Herleitung geschieht nicht über Logik und Argument. Das Ergebnis ist indes logisch und sinnvoll. Es ist der dialektische Sprung, die diskrete Vibration im Quantentunnel. Dennoch führt es zu einem logischen Ergebnis und zu dem wahren Grund (causa).
Die Worte sind der materialisierte Ertrag, die Ausflockung, der Zusammenbruch der Wellenfunktion. Alles ist in der wirklichen Ordnung der Dinge an seinem richtigen Platz. Es ist die innerste Struktur, von der aus sich alles Äußere enthüllt und in seinem Sinn offenbart. Es ist unmöglich, vonaußen, über das Begreifen und Abtasten, an die Wahrheit heranzukommen. Das bleibt Stückwerk und blinde Stoppelei. Es ist eine profane Erleuchtung, die analog zur spirituellen Erleuchtung der göttlichen Welt die materielle Welt in ihrem innersten Wirken und Weben erleuchtet.
Die Wirklichkeit ist das, was wirkt. Sobald man das sieht, was wirkt, hat man den Schlüssel zur Wirklichkeit. Dieses Sehen ist vom ideologischen Schleier befreit.3Es ist zugleich die Sicht des dialektisch-materialistischen Prinzips wie auch des Mystikers. Es ist wertfrei, nicht moralisch, nicht dogmatisch, nicht skeptizistisch. Es ist einfach die Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht verhandelbar.4So wie eine Katze eben eine Katze und kein Hund ist. Auch wenn ich die Katze als Hund bezeichne, bleibt sie dennoch eine Katze.
Mit Benjamins theologisch-materialistischer Sicht können der revolutionäre Impuls und die messianische Kraft im Menschen belebt werden. Dies ist die Synthese von Theorie und Praxis, von Bewusstsein und Sein, die Stelle, wo das Bewusstsein das Sein durchdringt. Das ist der Austritt der Handlung aus der Traumwelt in die wirkliche Welt in der nach Ort und Zeit fixierten metaphysischen Kategorie der Entscheidung.

»Die Katastrophe ist nicht das, was uns droht, sondern dass es immer so weiter geht« – dieser Satz Benjamins trifft die Illusion des ideologischen Denkens in sein Herz. Die Drohung liegt im ideologischen Bewusstsein in der Zukunft und ist eine beliebige Spekulation. Sie hat keinerlei Halt in der Wirklichkeit. Diese Drohung oder auch Hoffnung auf die Zukunft wirkt hypnotisch in der Gegenwart und verhindert die Handlung. Die Hypnose durch die Fixierung auf die Zukunft (oder die Vergangenheit) bewirkt, dass es in der Gegenwart immer so weitergeht. Sie durchtrennt die Sehne der stärksten Kraft des unterdrückten Menschengeschlechts. Nur im Jetzt der Erkennbarkeit ordnet sich das Bild der Strukturen und Kräfte gemäß der Wirklichkeit. Das nennt Benjamin die »Dialektik im Stillstand«.
Vererbtes Trauma
Vielleicht kennst Du diesen Satz, mit dem ich aufwuchs, den meine Mutter sagte: »Ich habe den Krieg erlebt« – in diesem Satz steckt schon das Maximum an Beschreibung. Ich konnte diesen Satz als Kind überhaupt nicht begreifen. Erst später, als ich tiefer und tiefer in die Heilarbeit eingedrungen bin, konnte ich verstehen: Das hat auch etwas mit mir zu tun, das habe ich völlig unterschätzt.
Und vielleicht denkst du dir jetzt: »Meine Eltern sind meine Eltern, und ich bin Ich.« Aber Trauma wird vererbt – das ist bewiesen, und damit befasst sich auch die Epigenetik https://members.tattva.de/prof-dr-dr-matthias-beck/. Durch die Erkenntnisse der Epigenetik wird deutlich, wie Umweltfaktoren auf Gene wirken. Die Grundidee des vererbten Traumas ist, dass sich chemische Verbindungen – sogenannte Methylierungen an unserem Erbgut der DNA verändern. Also nicht die Struktur der Doppelhelix und der Sequenzen, sondern chemische Verbindungen, die an der Doppelhelix »draußen« dranhängen. Diese Methylierungen sind für verschiedene Prozesse zuständig, zum Beispiel für Regulationsmechanismen in der Eiweißsynthese und den Nervenregulationsystemen sowie für das An- und Ausschalten bestimmter Abschnitte in der DNA. Diese biochemischen Veränderungen werden weitervererbt. In jeder unserer Zelle findet sich also auch die Information von dem, was unsere Vorfahren erlebt haben. Wenn man es genau nimmt – alle Vorfahren. Wie ein feingetunter biochemischer Riesenrechner und Prozessor.
Es folgt der Originaltext von Walter Benjamin:
Walter Benjamin – Lehren und Lernen
Wie Erziehung gelingt
Ich habe Ihren Aufsatz erhalten und danke Ihnen dafür. Er ist sehr gut. Für eine weitere Ausführung möchte ich Sie auf folgende Gedanken hinweisen. Sie schreiben: »Alle Arbeit ist Unsinn die nicht auf das Beispiel abzielt« »Wenn wir Ernst machen wollen […] so ist das heute wie immer die tiefste Beeinflussung der Seelen der Kommenden und die einzige: durch das Beispiel«.
Der Begriff des Beispiels (von dem der »Beeinflussung« ganz zu schweigen) ist aus der Erziehungslehre völlig auszuschalten. Es haftet ihm einerseits das Empirische und andererseits ein Glaube an die bloße Macht (durch Suggestion oder ähnliches) bei. Beispiel würde bedeuten: durch Vormachen zeigen, dass etwas empirisch möglich ist und zur Nachahmung aneifern.
Das Leben des Erziehenden wirkt aber nicht mittelbar, durch Aufstellung eines Beispiels. Weil ich mich sehr kurzfassen muss, will ich versuchen, das am Unterricht zu erläutern. Unterricht heißt Erziehung durch die Lehre im eigentlichen Sinn und muss deshalb in der Mitte aller Gedanken über Erziehung stehen. Die Loslösung der Erziehung vom Unterricht ist das Anzeichen vollständiger Verwirrung in allen bestehenden Schulen. Der Unterricht ist für alle übrigen Bezirke der Erziehung symbolisch, denn auch in allen übrigen ist der Erzieher der Lehrende. Nun kann man zwar das Lehren als ein »beispielhaftes Lernen« bezeichnen aber man findet sofort, dass der Begriff Beispiel dabei ganz übertragen gebraucht wird. Der Lehrer Iehrt nicht eigentlich, indem er »vor-lernt«, beispielhaft lernt, sondern sein Lernen ist teilweise allmählich und ganz aus sich selbst zum Lehren übergegangen. Wenn man also sagt, der Lehrer gibt das »Beispiel« zum Lernen, so verdeckt man durch den Begriff Beispiel das Eigentümliche, Autonome im Begriff solchen Lernens: nämlich das Lehren.
In einem gewissen Stadium werden bei dem rechten Menschen alle Dinge beispielhaft, aber sie verwandeln sich damit in sich selbst und werden neu. Dieses neue Schöpferische in den Lebensformen des Menschen sich entfalten zu sehen, eröffnet in die Erziehung den Einblick.
Ich wünschte mir, dass Sie in der Ausarbeitung Ihres Aufsatzes den Begriff des Beispiels dergestalt eliminierten und zwar in dem der Tradition aufheben möchten. In bin überzeugt: die Tradition ist das Medium in dem sich kontinuierlich der Lernende in den Lehrenden verwandelt und das im ganzen Umfang der Erziehung. In der Tradition sind alle Erziehende und zu Erziehende und alles ist Erziehung. Symbolisiert und zusammengefasst werden diese Verhältnisse in der Entwicklung der Lehre.
Wer nicht gelernt hat, kann nicht erziehen, denn er sieht nicht, an welcher Stelle er einsam ist, wo er also auf seine Weise die Tradition umfasst und lehrend mitteilbar macht. Wer sein Wissen als Überliefertes begriffen hat, in dem allein wird es überlieferbar, er wird in unerhörter Weise frei. Hier denke ich mir den metaphysischen Ursprung des talmudischen Witzes.

Die Lehre ist wie ein wogendes Meer, für die Welle aber (wenn wir sie als Bild des Menschen nehmen) kommt alles darauf an, sich seiner Bewegung so hinzugeben, dass sie bis zum Kamm wächst und überstürzt mit Schäumen. Diese ungeheure Freiheit des Übersturzes ist die Erziehung, im eigentlichen: Der Unterricht, das Sichtbar- und frei werden der Tradition: ihr Überstürzen aus lebendiger Fülle.
Es ist so schwer, über Erziehung zu reden, weil deren Ordnung mit der Religiösen Ordnung der Tradition ganz zusammenfällt. Erziehen ist nur (im Geiste) die Lehre bereichern; nur wer gelernt hat kann das: darum ist es unmöglich, für die Kommenden anders als lernend zu leben. Die Nachkommen sind aus dem Geist Gottes (Menschen), sie steigen aus der Bewegung des Geistes wie Wellen auf. Unterricht ist der eine einzige Punkt der freien Vereinigung der ältern mit der jüngern Generation, wie Wellen die im Ineinandergehen den Schaumkamm werfen. Jeder Irrtum in der Erziehung geht darauf zurück, dass man in irgendeinem letzten Sinne unsere Nachkommen von uns abhängig denkt. Sie sind von uns nicht anders abhängig als von Gott und der Sprache, in die wir uns daher um irgendeiner Gemeinsamkeit mit unsern Kindern willen versenken müssen. Jünglinge können nur ihresgleichen, nicht Kinder erziehen. Männer erziehen Jünglinge. Denken Sie, wenn Sie können, über die Kinder und Frauen in der Ordnung der Erziehung nach. Hoffentlich geht dieser Brief nicht zu lange. Ich beschließe ihn mit den herzlichsten Grüßen von meiner Frau und mir, der ich bald von Ihnen zu hören gedenke. Ihr Walter Benjamin
(Quelle: Brief von Walter Benjamin an Gershom Scholem vom 6.9.1917, Gesammelte Briefe, Band 1, S. 381–383)
Zur Erläuterung:
Gershom Scholem war der Meinung, dass es notwendig ist, der Jugend ein Beispiel zu geben. Walter Benjamin dementiert dies. Nach seiner Auffassung entfremdet das Beispiel den Lernenden von seiner Kraft und den Lehrenden von seiner Wirkung.
Es gibt eine Beziehung von Erziehung zur Lehre. Die Lehre ist im religiösen Sinne des Judentums die Überlieferung oder Tradition, also die Weitergabe des heiligen Wissens vom Lehrer zum Schüler. Der normale weltliche Unterricht in den Schulen sollte also die ursprüngliche Form der Lehre, wie sie in der Religion gegeben ist, praktizieren.
Der Lehrende war zuerst Lernender und weiß deshalb, wie es ist, zu lernen. Insbesondere in der jüdischen Religion herrscht das Verständnis, dass Lehrer und Schüler immer gegenseitig voneinander lernen. Tatsächlich lernt man durch lehren und lehrt durch lernen. Lernen wird so zu einem autonomen Vorgang, den der Lernende aus sich selbst heraus entwickelt. Er ist also nicht abhängig von dem Lehrer, sondern ist im Vollzug des Lernens immer auch selbst Lehrer. Nur indem ich mir bewusst bin, dass ich selbst gelernt habe, und dieses Gelernte im Sinne der Tradition weitergebe, kann ich wirklich lehren. Wir folgen dieser Tradition in einem freien Flow, wie die Welle im Meer. Die Nachkommen sind nicht von uns abhängig, sondern von Gott und der Sprache.
Das ist die richtige Ordnung. Der Lehrer ist nicht der Herrschende, er ist ein Diener. Er dient der Überlieferung, von der er immer weiter lernt. Er steht in der Kette der Schülernachfolge in Demut und Dankbarkeit. Er erkennt in den lebenden Wesen, die ihm nachfolgen, eigenständige Seelen, die in ihrer uneingeschränkten Freiheit aus Freude heraus lernen und zugleich lehren, genau wie er selbst.
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