Wie wir zu Wissen kommen und was wir wissen können
Die Menschen verlieren sich in ideologischen Glaubenskriegen und zerstören so sich und die Welt. In den Diskussionen auf den diversen gesellschaftlichen Ebenen (Politik, Wissenschaft, Religion u. a.) besteht kein Bewusstsein davon, wie die gemachten Aussagen überhaupt entstehen. Welche Instanz bringt diese Erkenntnisse hervor und wie? Was ist der Unterschied von Fakten und Meinungen? Wie entstehen »alternative Fakten«? Was ist objektives Wissen? Wer hat die Wahrheit? Vielleicht ist es an der Zeit, sich über die Grundstruktur unserer Erkenntnis klarzuwerden, um endlich zu echtem Wissen zu gelangen. Dazu gehört die eminent wichtige Synthese von Wissenschaft und Spiritualität. Philosophie ist die Metawissenschaft, die diese Synthese zu leisten vermag.
Wenn wir die Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität diskutieren wollen, müssen wir die Frage stellen, wie Erkenntnis überhaupt zu Stande kommt, d. h. wie können wir die Wirklichkeit erkennen. Erst dann können wir die Frage stellen, was denn Wirklichkeit ist.
Der Beitrag diskutiert einige Fragen der Erkenntnis und der Struktur der Wirklichkeit und soll in diesem Sinne für beide Weltanschauungen, die spirituelle und die wissenschaftliche, Grundbedingungen definieren. Dieser Aufsatz soll also im besten Sinne Philosophie sein, die die Tiefenstruktur unter diesen beiden Zugangsmethoden zur Wirklichkeit untersucht. Von dieser Tiefenstruktur aus dürfte eine Verbindung der beiden Welten möglich sein.
Die Frage des Was beschäftigt beide Welten, die Wissenschaft und die Spiritualität. Die Menschen wollen wissen, wer sie sind und was da draußen ist. Wissenschaft und Spiritualität streiten sich jedoch über die Methode, wie man zu dieser Erkenntnis kommt, und aufgrund unterschiedlicher Methoden kommen sie auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Vielleicht obliegt es der Philosophie, diesen Streit zu schlichten und die Welten zu verbinden.
Theorie und Praxis
Für nicht wissenschaftlich ausgebildete Menschen wirkt der Begriff der Theorie oft fremd oder ist sogar negativ besetzt. Sofern man nicht direkt eine wissenschaftliche Ausbildung hat, weiß man in der Regel nicht so genau, was Theorie eigentlich ist, und sie hat eher die Aura des Komplizierten, Schwerverständlichen, Verkopften. Viele Menschen bevorzugen die Praxis, denn das ist etwas Handfestes, etwas, das man sehen und anfassen kann, etwas, das ein Ergebnis bringt.
Vielleicht ist der Begriff der Theorie auch zu speziell. Theorie bedeutet, allgemeiner formuliert, Wissen. Jede Form von Wissen, die wir aus der Welt ziehen wollen, beruht auf bestimmten gedanklichen Operationen und Erkenntnissen. Wir können nichts wissen, ohne zu denken. Auch um praktisch tätig zu werden, müssen wir zunächst wissen, was zu tun ist. Dieses Denken und Erkennen ist Voraussetzung dafür, uns in der Welt zurecht zu finden.
Das Wort ›Theorie‹ kommt aus der Religion. ›Theoros‹ hieß der Vertreter, den griechische Städte zu den Mysterienspielen entsandten (vgl. Habermas 1965, 1139). Seine Aufgabe war es, sich in die sakralen Darstellungen zu vertiefen und sein Bewusstsein auf die spirituelle Ebene zu erheben, um der Gemeinschaft zu Hause zu berichten und diese Anbindung an die Götterwelt zu pflegen. ›Theos‹ oder ›Deus‹ sind der griechische beziehungsweise lateinische Name für Gott, und im Sanskrit ist mit ›Deva‹ (gesprochen: Deua, vgl. lat: divinus) die gleiche Etymologie zu finden.
Aus dem Sanskrit kommt auch das Wort ›Prakriti‹ (p-r-k-r-t), das materielle Welt bedeutet und sich im Lateinischen als ›Praxis‹ (praktisch, p-r-k-t) wiederfindet. Der ›Purusha‹ (p-r-s, die Person, die spirituelle Seele, der Genießer) wiederum steht laut Bhagavad-gita der Prakriti gegenüber, nimmt sie wahr, genießt sie, verbindet sich mit ihr.1Bhagavad-gita Vers 7.4-5
So bilden Theorie und Praxis eine untrennbare Einheit in uns als Person. Man kann sie auch Erkenntnis und Erfahrung nennen. Ohne Erfahrung haben wir keine Erkenntnis, aber ohne Erkenntnis wissen wir nicht, was wir praktisch tun sollen.
Naturgemäß betrifft die Frage des Wissens vor allem die Wissenschaft.
Schauen wir uns nun an, was die moderne Philosophie zu den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu sagen hat. Naturgemäß betrifft die Frage des Wissens vor allem die Wissenschaft. Hier liegen einige Grundvoraussetzungen, die auch für das Denken allgemein und für die Spiritualität gelten. Gleichwohl gibt es Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis, wo dann die Spiritualität Antworten geben kann.
Kritische Theorie
Der Philosoph Max Horkheimer (1895–1973) schrieb schon 1937 einen Aufsatz, in dem er mit der traditionellen Vorstellung von Theorie abrechnete und ihr eine neue ›kritische Theorie‹ gegenüberstellte. Zunächst definiert er, was Theorie im grundsätzlichsten Sinne ist: »Theorie gilt in der gebräuchlichen Forschung als ein Inbegriff von Sätzen über ein Sachgebiet, die so miteinander verbunden sind, dass aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können.« (Horkheimer 1992, 205).2Die Seitenzahlen aller folgenden Horkheimer-Zitate beziehen sich auf diesen Band. Der Sinn von Theorie besteht darin, aus bestimmten Erfahrungswerten beziehungsweise empirischen Ergebnissen Schlussfolgerungen zu ziehen, um daraus weitere Erkenntnisse zu bekommen, die danach experimentell überprüft werden können. Zuerst beobachtet man, dann denkt man nach und entwickelt eine Prognose, wie etwas funktionieren könnte. Dann prüft man es wieder in der praktischen Erfahrung. Wenn diese abgeleiteten Sätze mit tatsächlichen Ereignissen übereinstimmen, dann ist die Theorie gültig.
»Als Ziel der Theorie überhaupt erscheint das universale System der Wissenschaft.« (205) Dabei wird eine Ordnung der Welt vorausgesetzt. Die Idee der Ordnung ist die grundlegende Hypothese, von der aus Sätze über die Welt abgeleitet werden.
Nun haben wir das Problem zu erklären, wo diese allgemeinsten Sätze ihren Ausgangspunkt haben. Wie kommt man beim Denken auf diese allgemeinsten Hypothesen, wie, dass die Welt geordnet ist? John Stuart Mill betrachtet die allgemeinsten Sätze, von denen die Deduktion ihren Ausgang nimmt, selbst noch als Erfahrungsurteile, als Induktion3Induktion bedeutet, man geht vom Besonderen, von den Einzelfällen, zum Allgemeinen, zur allgemeinen Hypothese. Man schließt von der persönlichen Erfahrung oder einzelnen empirischen Befunden auf die Allgemeinheit. Deduktion bedeutet, man beginnt beim Allgemeinen und endet beim Besonderen. Man beginnt mit der Idee und sucht dann empirische, praktische Beweise, die diese Idee bzw. Hypothese bestätigen.. Die Phänomenologie4Eine der wichtigsten philosophischen Schulen der Neuzeit ist die Phänomenologie, entwickelt von Edmund Husserl. Diese versucht, jede Art von Urteilen über die Phänomene auszusetzen und in das reine Schauen zu kommen. Die Phänomene, die nicht weiter auf tiefere Gründe zurückzuführen sind, gelten dann als evident (von lat.: videre = sehen, deutsches Äquivalent: offensichtlich). ordnet sie als evidente Einsichten ein, und die moderne Axiomatik5Axiom: nicht weiter beweisbare Aussage. Mehr dazu in folgenden Text. sieht in ihnen willkürliche Festsetzungen (vgl. 206f.).
Was wir im Außen als ›Tatsache‹ wahrnehmen, geht schon durch den Filter unseres Geistes.Die empirischen Wissenschaften sind sich dieses Sachverhaltes oft nicht bewusst, da sie von den ›Tatsachen‹ bzw. ›Fakten‹ ausgehen. Inwieweit es unmöglich ist, eine Tatsache rein objektiv zu erkennen, wird in der Folge Gegenstand der Erörterung sein.8Die elementare epistemologische (erkenntnistheoretische) Untersuchung zur Frage der Objektivität vs. Subjektivität kann hier aus Platzgründen nicht vorgenommen werden. Dazu ist ein weiterführender Aufsatz von mir auf der Basis von Edmund Husserls Buch »Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie« in Vorbereitung.Was wir im Außen als ›Tatsache‹ wahrnehmen, geht schon durch den Filter unseres Geistes und unterliegt den oben beschriebenen Voraussetzungen. Je unwissenschaftlicher bestimmte Aussagen sind, umso wildere Behauptungen werden als Tatsachen dargestellt. In der Regel handelt es sich bei solchen Aussagen um Dogmatismus. Dogmatismus bedeutet hier, dass nicht das Interesse an Erkenntnis hinter der Aussage steht, sondern ein beliebiges weltanschauliches Interesse religiöser oder politischer Art oder eine durch Egoismus, Trauma oder sonstige psychische Dispositionen bedingte individuelle Deutung. In der Regel liegt dieser vorurteilsbelastete oder parteiische Ursprung der Aussagen im Unbewussten und wird nicht als solcher erkannt. Man glaubt ›tatsächlich‹, das, was man denkt, sei die Wahrheit. Dieser Ursprung des sogenannten »bias«, des Vorurteils, müsste erkannt und offen benannt werden, dann könnte von einer Annäherung an objektives und unparteiisches Wissen gesprochen werden.
Wissenschaft bemüht sich um die Aufdeckung dieser Zusammenhänge und um die Erfüllung des Anspruches auf Objektivität. Vielfach wird dieser Anspruch jedoch durch die Beschränkung auf die empirischen Daten und Fakten erreicht. Die höheren geistigen Ebenen der Ideen und der Metaphysik werden negiert. Der ganze Bereich der Metaphysik (also Fragen z. B. zu Freiheit, Seele, Gott, dem Wesen der Dinge) wurde von der modernen Wissenschaft ausgeklammert, weil man über diese Dinge keine verbindliche und valide Aussage im Sinne der Objektivität machen kann.9Vgl. hierzu die Aussagen von Thomas Metzinger in »Der Elefant und die Blinden«. Ihm zufolge kann aus Metaphysik keine Erkenntnis gewonnen werden. Diese Ansicht ist heutiger Standard in der Wissenschaft und akademischen Philosophie. Sie bleiben angeblich im Subjektiven und Beliebigen verhaftet. Dahinter steht das Axiom, dass nur empirisch gewonnene Daten wahr sind, also Wahrnehmungen mithilfe der Sinnesorgane und daran angelehnter Hilfsmittel wie Mikroskope oder Teleskope, kurz Messgeräte, die die menschliche Sinneswahrnehmung erweitern und verbessern. Man bezeichnet das dann als ›Messung‹.
Obwohl sich die Wissenschaft dadurch auf einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit beschränkt, muss ihr dennoch als Vorteil zugutegehalten werden, dass sie sich überhaupt mit der Validierung von Wissen auf seriöse Weise beschäftigt. Weltanschauliche und demagogische Ansätze – und dazu gehören sowohl die politischen als auch die meisten religiösen, esoterischen und spirituellen Ansätze – erheben gar keinen Anspruch auf echte Validierung, da sie andere Interessen verfolgen. So gibt es im Bereich der neureligiösen Spiritualität neben der fehlenden wissenschaftlichen Ausbildung eine hohe weltanschauliche Aufladung, die von erkenntnisfernen Interessen ausgeht, zum Beispiel dem Wunsch nach Harmonie, Beendigung des Leidens, Reduzierung von Angst, Kontrollbedürfnis, Sendungsbewusstsein und ähnliches. In den traditionellen Religionen ist das Glaubensdogma selbst das treibende Interesse. In weltlichen Glaubenssystemen liegt unter dem Objektivitätsanspruch oft das Motiv der Machtausübung oder Machterhaltung.
Das Problem tritt aber bei diesen rein weltanschaulichen und demagogischen Ansätzen nur deutlicher zu Tage als in den Wissenschaften. Von dem Problem befreit sind die Wissenschaften selbst auch nicht. Nachdem man eine Hypothese ausgesprochen hat, gilt es, jedes Phänomen oder Exemplar an dieser Hypothese zu messen. Ein Problem tritt dahingehend auf, »ob im Einzelfall ein Exemplar des betreffenden oder eines verwandten Wesens vorliegt, ob es sich um ein schlechtes Exemplar des einen oder ein gutes der anderen Gattung handelt.« (209f.) Es stellt sich also die Frage, wie man die Einzelfälle in das allgemeine Gesetz einordnet. Passt das Exemplar zu diesem Gesetz oder zu einem anderen? Ist es ein gutes oder ein schlechtes Beispiel? Hier ist für die Willkür ein Einfallstor geöffnet.
Theorie und Wissenschaft ebenso wie Religion und Politik können immer nur Annäherungen an die Wirklichkeit liefern.
Theorie und Wissenschaft ebenso wie Religion und Politik können immer nur Annäherungen an die Wirklichkeit liefern. Problematisch wird es, wenn die hinter den gefundenen Ordnungen angenommenen Hypothesen und Grundsätze im Unbewussten verborgen bleiben. Die Ordnung entsteht schon durch unser Denken. Es ist deshalb notwendig, hinter die Theorie zu blicken, um die wahren Motive zu erkennen.
Wie geht Erkenntnis?
Beim Nachdenken über einen Sachverhalt versucht man, ein Muster zu erkennen und »Erfahrungsregeln« (210) aufzustellen. Auch in den historischen Wissenschaften wie zum Beispiel der Kulturwissenschaft, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften und der Psychologie werden solche logischen Kalkulationen angestellt, zum Beispiel: Unter Voraussetzung bestimmter Umstände muss dieses oder jenes Ergebnis eintreten, und wenn sich ein Umstand ändert, entsteht ein anderes Ergebnis. Das Wissensmaterial wird geformt, um es in das Ordnungsgefüge der Hypothesen einzufügen. Aus diesem Procedere ist unser technischer und kultureller Fortschritt hervorgegangen. Es ist ein notwendiger Vorgang, der aber eine Gefahr in sich birgt, denn »soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbstständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonst wie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie« (211). Es wird dabei übersehen, »dass die Änderung wissenschaftlicher Strukturen von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abhängt« (212).
Die Veränderung der wissenschaftlichen Erkenntnis geht nicht allein auf rein logische oder methodologische Elemente zurück. Die Menschen sind immer Kinder ihre Zeit, sie sind also historisch bedingt, und sie stehen unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben. Insbesondere die wirtschaftlichen und industriellen Verhältnisse bestimmen, welche Richtung und Ziel eine Forschung hat. »Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie.« (213)
Dies betrifft nicht nur die Gelehrten, sondern auch die sonstigen Gebiete der kulturellen Arbeit. Auch wenn ein Gebiet wie die Spiritualität sich von der Gesellschaft abzuheben scheint oder sogar als Gegensatz verstanden werden will, ist es doch nicht selbstständig und unabhängig. Das wäre eben diese Idee, dass dieses ganze Wissen aus sich selbst hervorginge oder unhistorisch wäre. Auch wenn diese Formen nicht sonderlich produktiv innerhalb des gesellschaftlichen Systems zu sein scheinen, sind sie doch Teil des Ganzen und unterstützen das System.
Es ist wichtig zu verstehen, dass wir es nicht mit ewigen oder natürlichen Verhältnissen zu tun haben, sondern dass diese Theoriebildungen relativ zu der historischen und materiellen Situation entstehen. Die Idee von ewigen oder natürlichen Wahrheiten, die von Zeit und Raum unabhängig sind, wäre Metaphysik, und deshalb ist die Metaphysik von der historisch-kritischen Theorie dekonstruiert worden.
Die ewige Wahrheit ist die elementarste Größe im metaphysischen Denken.
Theoriebildung ist also immer abhängig von der Zeit, in der sie geschieht. Jeder Mensch ist historisch zu verstehen und verändert sich und sein Denken in Relation zu der Zeit, in der er lebt. »Niemand kann sich zu einem anderen Subjekt machen als zu dem des geschichtlichen Augenblicks. Das Reden über Konstanz oder Wandelbarkeit der Wahrheit ist streng genommen nur in polemischem Verstand sinnvoll. Es richtet sich gegen die Annahme eines absoluten, übergeschichtlichen Subjekts. […]« (256). Das absolute Subjekt würde mit einer unwandelbaren Wahrheit korrelieren. Die Frage, ob die Wahrheit wandelbar ist, stellt sich laut Horkheimer gar nicht. Wenn es dieses absolute Subjekt, dass über jeglicher historischen Veränderung steht, nicht gibt, dann gibt es auch keine ewige Wahrheit. Die ewige Wahrheit ist die elementarste Größe im metaphysischen Denken. Dies ist einer der fundamentalsten Kritikpunkte der Wissenschaft an der Metaphysik, und damit an der Religion.
Horkheimer unterliegt hier allerdings auch einem undialektischen Widerspruch in seinem Denken. Weil er die traditionelle Metaphysik als unhistorisch erkennt, zieht er die Schlussfolgerung, dass die Metaphysik als Ganzes obsolet ist.
Metaphysik und Geschichte
Es ist jedoch auch eine historisch-kritische Metaphysik denkbar, insofern nämlich, als eine solche metaphysische Anschauung die Kategorie der Zeit integriert. Auch die Zeit ist eine metaphysische Kategorie, in dem Sinne, dass sie ewig existiert, aber es geht darum, zeitbewusst zu denken. Der Philosoph Walter Benjamin hat diese Bewegung in seinen Gedanken vollzogen: »Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht […] nur eine zeitliche Funktion des Erkennens, sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee.« (Benjamin 1940, GS V, 578)10Theodor W. Adorno konstatierte: »Nach Benjamins Lehre wohnt der Wahrheit selbst ein ›Zeitkern‹ inne, der den Begriff eines ontologisch reinen Seins verwehrt.« (Theodor W. Adorno in seinem Vorwort zu: Rolf Tiedemann, Mystik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Walter Benjamins, München 2002 [1965], S. 15.) Die Wahrheit ist also sehr wohl erkennbar, sie muss nur die Zeit integrieren. Dann wird die Ewigkeit nur einer von vielen Aspekten der Zeit, eine Rüsche am Kleid.
Die klassische Metaphysik ebenso wie der sogenannte Historismus11Der Historismus als ein Merkmal der traditionellen Geisteswissenschaften wird in der Folge noch näher erklärt werden. denken außerhalb der Zeit. Sie denken unhistorisch. Angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt und der katastrophalen geschichtlichen Ereignisse verewigen sie damit die bestehenden Verhältnisse, anstatt zu einer Veränderung beizutragen. Aus der Sicht der Kritischen Theorie werden deshalb die traditionelle Theorie und Metaphysik als reaktionär angesehen. Benjamin sagt dazu: »Der Historismus stellt das ›ewige‹ Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt es andern, bei der Hure ›Es war einmal‹ im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.« (GS I, 702)
Der Historismus ist ein unbewusster Umgang mit der historischen Bedingtheit. Er ist eine Art metaphysischer Umgang mit der Vergangenheit, mit der Geschichte. Das Urteil über die Vergangenheit wird unbewusst gebildet. Man denkt, das sei so gewesen, ohne Einsicht in die eigene historische Bedingtheit zu bekommen. Das ist exemplarisch symbolisiert in dem Satz: ›Es war einmal‹. Man betrachtet die Vergangenheit als feste, abgeschlossene Einheit, ohne zu überlegen, wie die Wahrnehmung und Erklärung der Vergangenheit aus der eigenen Gegenwart geprägt werden. Man stellt absolute Behauptungen auf, die die eigene Relativität in Raum und Zeit und die eigene gesellschaftlichen Position nicht reflektieren. Man verallgemeinert in absolute Behauptungen und baut sich daraus ein Dogma oder eine Ideologie – man bildet sich eine Meinung.
Historischer Materialismus als philosophische Methode bedeutet dagegen zum einen ein Bewusstsein der Bedingtheit der eigenen historischen Position in der Zeit, zum anderen ein Bewusstsein von den materiellen Umständen, also den realen Lebensbedingungen der Menschen im Raum.
In Benjamins philosophischem Ansatz gibt es also keine ewige Situation in der Welt. Selbst die Vergangenheit ist veränderbar, in dem Sinne, dass wir auch auf die Vergangenheit aus unserer jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Situation blicken. Zum Beispiel wird ein armer Mensch die gleiche Vergangenheit anders wahrnehmen als ein reicher Mensch. Frauen nehmen das gleiche Ereignis unter Umständen anders wahr als Männer, Unterdrückte anders als Unterdrücker, Besiegte anders als Sieger.
Echte Erfahrung ist somit einzigartig und konkret an die jeweilige historische Person gebunden. Die Vorstellung von ›es war einmal‹ ist damit eine unzulässige Fest-Stellung eines fließenden und subjektiven Vorgangs, eine Verewigung und Verfestigung, die immer andere ausschließt und keine objektive Wahrheit darstellt. Da dieser Umstand aber auch verschleiert wird und der Anschein erweckt wird, dass es sich um objektive Wahrheit handelt, ist diese Anschauung der Welt Ideologie und fällt unter das Verdikt, Herrschaftswissen zu sein, dass andere unterdrückt. Das ›es war einmal‹ verewigt die Vergangenheit und macht daraus eine schicksalhafte Macht, die uns widerfährt, ohne dass wir etwas daran ändern können.
Diese Sichtweise liegt im Interesse der Herrschenden, die an einer Erhaltung des Bestehenden interessiert sind. Man nennt das ›mythisches Denken‹. Die bestehende Ordnung wird als schicksalhaft oder gottgegeben angesehen. So wird auch die Vergangenheit durch die Sieger fest gestellt, um ihre Macht zu verewigen. Diese Vergangenheitserzählung ist die ›Hure‹, die käuflich ist und einfach den Interessen derer dient, die die Macht haben. Die sogenannte Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen und die Vergangenheit neu zu lesen, im Sinne der Besiegten oder der Unterdrückten, ist die Aufgabe der Kritischen Theorie und des revolutionären Bewusstseins.12Siehe dazu Walter Benjamin: Thesen zum Begriff der Geschichte, GS I, 691–704.
Trifft diese Notwendigkeit der Ideologiekritik auf die Geistes- und Sozialwissenschaften sicherlich zu, so ist doch auch die Naturwissenschaft nicht von dieser Verfälschung ausgenommen. Reaktionär ist nämlich auch sie, wenn sie sich einbildet, von der gesellschaftlichen Praxis, der sie dient, getrennt zu sein: »Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbstständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die Humanität schon verzichtet.« (Horkheimer 1992, 259). Wissenschaft sollte also berücksichtigen, was ihre Forschungen für Folgen für die gesellschaftliche Praxis haben.
Erkenntnis und Interesse
Nachdem nun deutlich wurde, dass Erkenntnis nicht naiv zu haben ist, sondern philosophischer Analyse und Reflexion bedarf, schauen wir zu dem Philosophen Jürgen Habermas, der in seinem Aufsatz »Erkenntnis und Interesse« (Habermas 1965) diese Problematik brillant untersucht.13Es geht hier um die Antrittsvorlesung zu seinem Lehrstuhl für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt M. von 1965, nicht um das gleichnamige Buch aus dem Jahre 1968. Habermas unterscheidet in seiner Abhandlung die Erkenntnismethoden der verschiedenen Wissenschaften. Hinter allen steht der Anspruch auf objektives Wissen, d. h. ein Wissen, dass unabhängig vom Wissenschaftler, der dieses Wissen hervorbringt, wahr ist, und dementsprechend für alle Menschen gilt. Er sagt dazu, dass sowohl die empirischen Wissenschaften14Die empirischen Wissenschaften sind alle Wissenschaften, die sich auf Messungen, im allgemeinsten Sinne auf Sinneswahrnehmung, berufen. Dies betrifft vor allem die Naturwissenschaften. als auch die Hermeneutik15Hermeneutik arbeitet nicht empirisch, sondern verwendet die geistigen Mittel, um zu Erkenntnis zu kommen, um zu verstehen, insbesondere Logik und Argument, aber auch Geschichte, Psychologie, Einfühlung u.ä. Die klassischen Geisteswissenschaften arbeiten hermeneutisch. Die hermeneutische Methode wird von der sog. analytischen Philosophie und vom Poststrukturalismus wegen des Ideologieverdachts abgelehnt. ein Methodenbewusstsein teilen: »eine strukturierte Wirklichkeit in theoretischer Einstellung zu beschreiben« (ebd., 1141). Es soll eine »Werturteilsfreiheit« (ebd.) gelten, die epistemologisch16Epistemologie ist die Lehre von der Erkenntnis, auch Erkenntnistheorie genannt. die Abtrennung der Erkenntnis von Interesse bedeutet. Habermas unterscheidet drei Wissenschaftsbereiche: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Sozialwissenschaft.Naturwissenschaften
Die Naturwissenschaft verwendet die empirisch-analytische Methode. »In der kontrollierten Beobachtung, die oft die Form des Experiments annimmt, erzeugen wir Anfangsbedingungen und messen den Erfolg der dabei ausgeführten Operationen.« (1146). Daraus soll »ein evident Unmittelbares ohne subjektive Zutat« (ebd.) als Erkenntnis hervorgehen. In Wahrheit handelt es sich aber nicht um eine Abbildung von Tatsachen, sondern es wird festgestellt, ob unsere Operationen ein Erfolg waren oder nicht. Es wird also eine a priori-Annahme vorgegeben, nämlich diese vom Experimentator gesetzten Anfangsbedingungen, auf deren Erfolg oder Misserfolg getestet wird. Dies alles vollzieht sich »im Funktionskreis instrumentalen Handelns« (ebd.). Das Experiment legt materielle, mechanistische oder kausale Anfangsbedingungen fest und misst dann das Ergebnis.
»Beide Momente zusammen genommen, der logische Aufbau der zulässigen Aussagensysteme und der Typus der Prüfungsbedingungen, legen die Deutung nahe: dass erfahrungswissenschaftliche Theorien die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der möglichen informativen Sicherung und Erweiterung erfolgskontrollierten Handelns erschließen. Dies ist das Erkenntnisinteresse an der technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse.« (1146, Hervorhg. v. RE)
Das bedeutet, es handelt sich nicht um objektives Wissen an und für sich, sondern es steht ein Interesse hinter dieser empirisch-analytischen Methode: der Erfolg oder Misserfolg des Versuchsaufbaus zum Zweck der technischen Verfügbarkeit. Dieses Versuchsszenario geht aus der subjektiven Setzung des Experimentators hervor. Hier gibt es vorwissenschaftliche Annahmen. Wir haben es deshalb bei der naturwissenschaftlichen Methode nicht mit einer objektiven Methode zu tun.
Die empirisch-analytische Methode der Naturwissenschaften bezeichnet er als Positivismus. Positivismus bedeutet, man beschränkt die wissenschaftliche Forschung auf sinnlich wahrnehmbare und überprüfbare Befunde, also auf positive Ergebnisse oder Positionen, gegebenenfalls Erfolge, und lehnt philosophische, theologische oder metaphysische Deutungen ab. Aber diese positivistische Haltung unterschlägt »den Zusammenhang von Messoperationen und Erfolgskontrolle« (ebd.), also eben ihr eigentliches Interesse, dass hinter der Erkenntniserbringung steht, sowie die subjektiv gesetzten Vorgaben, die zur Versuchsanordnung führen. Diese müssten bei dem Aufbau und der Interpretation des Experiments bewusst mit einbezogen werden. Da dies aber einfach stillschweigend vorausgesetzt und nicht thematisiert wird, kann von Objektivität nicht die Rede sein. Diese Forschung hat nur den Schein einer Objektivität, übersieht aber ihre subjektiven Vorbedingungen.
Geisteswissenschaften
Die Geisteswissenschaften arbeiten anders. Ihre Methode nennt sich ›hermeneutisch‹. »Die Ebenen von formalisierter Sprache und objektivierter Erfahrung sind noch nicht auseinander getreten; denn weder sind die Theorien deduktiv aufgebaut, noch werden die Erfahrungen organisiert im Hinblick auf den Erfolg von Operationen. Sinnverstehen bahnt anstelle der Beobachtung den Zugang zu den Tatsachen.« (1146) Das bedeutet, es werden keine operativen Vorannahmen angenommen und demzufolge auch nicht auf den Erfolg getestet.
Das Forschungsobjekt bildet ein Ganzes innerhalb der Sprache, da es sich nicht um ein materielles Objekt, sondern um einen geistigen Inhalt handelt. Wir denken und forschen innerhalb der Sprache. Es gibt keine Aufspaltung in formalisierte Sprache einerseits und objektivierte Erfahrung im Experiment andererseits. Deshalb kann es hier auch nicht um den Erfolg von Operationen gehen, sondern die Frage nach dem Sinn einer sprachlichen Aussage ist der Gegenstand der Untersuchung. Das ist mit dem Begriff Hermeneutik gemeint, der übersetzt ›Verstehen‹ bedeutet. Das Erkenntnisinteresse der Geisteswissenschaften sei nicht technisch, sondern praktisch: »Sinnverstehen richtet sich seiner Struktur nach auf möglichen Konsensus von Handelnden im Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses.« (1147, Hervorhg. v. RE) Das bedeutet, kurz gesagt, das Interesse ist Verständigung und Gemeinschaftsbildung.
Erkenntniskritisch zeigt Habermas, dass die traditionelle Hermeneutik hier von einer gewissen Evidenz bezüglich der Tatsachen des Geistes ausgeht, d. h. es steht die unausgesprochene Annahme dahinter, man könne den Sinn unabhängig von der zeitlichen Situation, in der man sich selbst befindet, objektiv erkennen: »An jenes Sinnverstehen, dem die Tatsachen des Geistes evident gegeben sein sollen, hat der Historismus den objektivistischen Schein seiner Theorie geknüpft.« (1146). Man nimmt einfach an, der Interpret könnte sich in die Welt des überlieferten Textes hineinversetzen oder einfühlen. Aber auch hier gehen den vermeintlichen Tatsachen bestimmte Vorannahmen voraus, nämlich »Standards ihrer Feststellung« (ebd.). Auch diese Erkenntnismethode ist für Habermas unzulänglich.
Analog zum Positivismus der Naturwissenschaften ist bei den hermeneutischen Wissenschaften der Historismus das Problem. Historismus bedeutet, wie weiter oben bereits angesprochen, einen unbewussten historischen Umgang mit den Erkenntnisinhalten: »Es sieht so aus, als ob sich der Interpret in den Horizont der Welt oder der Sprache hineinversetzte, aus der ein überlieferter Text jeweils seinen Sinn bezieht.« (1146). Man sprach im Historismus auch von Einfühlung, und das ist das grundlegende Prinzip der Hermeneutik. Man versetzt sich in die Lage des Autors eines bestimmten Textes, als ob man genau das fühlen und denken könne, was der Autor fühlte und dachte. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass man in einer anderen Zeit und in anderen Umständen lebt, die das Bewusstsein anders prägen. Man übersieht, dass man die Sachverhalte oder Sinnbezüge aus einem anderen zeitlichen Erfahrungshorizont heraus betrachtet. Man blickt unvermeidlich aus einer historisch späteren Zeit auf diese Überlieferung, und versteht die Aussagen niemals so, wie sie der Urheber gemeint hat. Man müsste also diese zeitliche Achse mit in die Betrachtung einbeziehen und historisch-kritisch an die Interpretation herangehen. Man betrachtet seine eigene historische Situation, die den ganzen Wissensstand der Zeit sowie auch die sozialen Bedingungen, in denen der Forschende lebt, berücksichtigt, und unterscheidet sie von der historischen Situation des Autors des Textes.
Sozialwissenschaften
Neben der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft benennt Habermas noch die »systematischen Handlungswissenschaften, nämlich Ökonomie, Soziologie und Politik« (1147), also die Sozialwissenschaften. Auch sie hätten das Ziel, gesetzmäßiges Wissen hervorzubringen. Die traditionellen Sozialwissenschaften stehen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, versuchen aber, sich auf die Seite der Naturwissenschaft zu schlagen, um durch ihre empirische und statistische Herangehensweise den Schein der wissenschaftlichen Objektivität zu vergrößern.
Kritische Sozialwissenschaft bemüht sich dagegen darum, zu unterscheiden, ob man es mit echten Gesetzmäßigkeiten sozialen Handels zu tun hat, oder ob es sich um lediglich »ideologisch festgefrorene, im Prinzip aber veränderliche Abhängigkeitsverhältnisse« (ebd.) handelt. Diese Form der kritischen Sozialwissenschaft nennt sich ›Ideologiekritik‹. Es muss also im Bewusstsein des Betroffenen ein Vorgang der Reflexion ausgelöst werden, um das unreflektierte Bewusstsein bezüglich der eigenen Ausgangsbedingungen der Untersuchung bewusst zu machen.
»Der methodologische Rahmen […] bemisst sich am Begriff der Selbstreflektion. Diese löst das Subjekt aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten.« (1147) Hypostasierte Gewalten sind diejenigen Bedingungen, die unbewusst vorausgesetzt und dann unreflektiert als herrschende Bedingungen angenommen werden (»the myth of the given«), Sie beeinflussen das Ergebnis, ohne dass man es merkt.
Philosophie
Die Aufklärung dieser Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis ist die ureigenste Aufgabe der Philosophie. Die Philosophie als Metawissenschaft hat damit den positiven Wissenschaften (Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften) voraus, dass sie immer auch die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis mitdenkt und nicht diesem unreflektierten Modus in die Falle läuft, bei dem die Vorannahmen unbewusst bleiben.
Aber auch hier droht die Gefahr der Scheinobjektivität. Hier ist es analog zum Positivismus der Naturwissenschaften und zum Historismus der Geisteswissenschaften die Ontologie, die Lehre vom Sein, die den Philosophen in die Irre führt. Die Ontologie geht davon aus, dass Dinge in ihrem Sein unmittelbar erkennbar sind, dass man also beschreiben könne, wie sie sind. Daraus entsteht ein »Schein reiner Theorie« (ebd.). Dahinter steht aber laut Habermas ein »Interesse an Mündigkeit« (ebd.). Die Philosophie müsse sich diese Abhängigkeit eingestehen. Dann hätte sie echte Erkenntniskraft. Man soll also auch in der Philosophie nicht glauben, man könne voraussetzungslos arbeiten. Es gibt keine rein objektive theoretische Methodik.
Die Vorannahmen
»Abbildungen oder Beschreibungen sind niemals unabhängig von Standards. Und die Wahl solcher Standards beruht auf Einstellungen, die der kritischen Abwägung durch Argumente bedürfen, weil sie weder logisch abgeleitet, noch empirisch nachgewiesen werden können. « (1149)
Weiter oben wurde bereits gesagt, dass die Vorannahmen auf »Standards ihrer Feststellung« (1147) beruhen. Was sind diese Standards? Habermas sagt dazu: »Die Einstellung auf technische Verfügung, auf lebenspraktische Verständigung und auf Emanzipation von naturwüchsigem Zwang legt nämlich die spezifischen Gesichtspunkte fest, unter denen wir die Realität als solche erst auffassen können.« (1148, Hervorhg. v. Ronald Engert). Es geht also darum, Techniken und Methoden zu finden, um mit dem Leben klarzukommen (technische Verfügung), es geht um Gemeinschaftsbildung (lebenspraktische Verständigung), und es geht um ein Freiwerden von Naturbedingtheiten (Emanzipation von naturwüchsigem Zwang). Habermas spricht hier auch von »transzendentalen Grenzen« (ebd.). Dies sind Aspekte, die wir nicht übersteigen können. Es sind elementare und fundamentale Interessen, die die Erkenntnis leiten. Habermas prägte dazu den Begriff des »erkenntnisleitenden Interesses« (1148).
Die Unterscheidung in echtes Wissen und subjektives Meinen ist deshalb extrem wichtig.
Wenn diese Manöver unbewusst geschehen und man sie sich nicht ehrlich bewusst macht, spricht man auf der individuellen Ebene von ›Rationalisierung‹ und auf der kollektiven Ebene von ›Ideologie‹. Es entsteht der Schein eines autonomen Bewusstseins, das aber in Wirklichkeit von unbewussten Interessen verfälscht wird. Es versteht sich fast von selbst, dass rein glaubensbasierte Zugänge zur Wirklichkeit wie Religion und Spiritualität in der Regel unter dieses Verdikt fallen. Die Erkenntnis ist von den Vorannahmen des jeweiligen Glaubens geprägt. Sie ist keine objektive Erkenntnis und von daher nicht viel mehr als Ideologie, beliebig konstruierbares Herrschaftswissen. Als Ideologie ist sie Ursache von Glaubenskriegen, Fanatismus, Rassismus etc.
In der Wissenschaft sind viele Maßnahmen ausgebildet worden, um dieser Subjektivität des Glaubens und Meinens vorzubeugen. Die Unterscheidung in echtes Wissen und subjektives Meinen ist deshalb extrem wichtig.
In den empirischen Wissenschaften spricht man vom Unterschied von Fakten und Meinungen. Die Beschränkung auf ›Fakten‹ zeigt den Wunsch nach Objektivität. Das bedeutet aber die Einschränkung des wissenschaftlichen Denkens auf die positivistische Grundidee. Es sollen nur Fakten Geltung haben. Aber diese Fakten entstehen aus der empirischen Methode mit der oben beschriebenen fehlenden Einsicht in die subjektive Setzung der Vorbedingungen. Vielfach werden diese empirischen Methoden auch auf die Sozialwissenschaften angewendet, sowie sehr häufig im Bereich der Politik. Es entsteht dieser Schein der Objektivität, der aber in Wirklichkeit einen ideologischen Unterbau hat. Man bezieht sich dann auf Statistiken, die zwar mehr Objektivität als eine unbewiesene Behauptung haben, aber im Grunde auch nicht dem ideologischen Bias entrinnen können.17s gibt dieses geflügelte Wort: »Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Das ist etwas zu extrem, denn die Statistik muss gar nicht bewusst gefälscht sein. Das wäre schon viel zu grob gedacht. Die ideologische Voreingenommenheit und selektive Tendenz liegen in der Methode an sich bereits begründet. Die einzige Absicherung gegen falsche Statistiken sehe ich in der offengelegten Ethik de:r Wissenschaftler:in. Die Subjektivität ist unreduzierbar. Besonders skurril wird es, wenn Verschwörungsnarrative Meinungen als Fakten oder Tatsachen behaupten, um sich die Reputation der wissenschaftlichen Methode nutzbar zu machen.
Auf diese Weise entstehen ›alternative Fakten‹, denn unterschiedliche ideologische Vorbedingungen lassen unterschiedliche Fakten in den Blick treten. Es wäre also auf jeden Fall wichtig, bei jeder Aussage den ideologischen Unterbau zu betrachten. Gerade bei Reizthemen wie der Corona-Pandemie, dem Ukraine-Krieg oder dem Palästina-Konflikt lässt sich deutlich nachzeichnen, wie ideologische Grundhaltungen die Definition dessen, was als Faktum anerkannt wird, beeinflussen. Diese Forderung geht an alle Parteien. Habermas spricht von »Einstellungen, die […] weder logisch abgeleitet, noch empirisch nachgewiesen werden können« (1149, s.o.).
Das erkenntnisleitende Interesse, dass fundamental allen anderen Interessen zu Grunde liegt, ist das Interesse der Selbsterhaltung »des Ich, dass sich in Lernprozessen an seine externen Lebensbedingungen anpasst; dass sich durch Bildungsprozesse in den Kommunikationszusammenhang einer sozialen Lebenswelt einübt; und das im Konflikt zwischen Triebansprüchen und gesellschaftlichen Zwängen eine Identität aufbaut.« (1150) Hier sehen wir wieder die drei Interessen technische Verfügbarkeit, Verständigung und Emanzipation (s. Zitat 1148 weiter oben mit den kursiven Hervorhebungen).
Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir immer ein Interesse haben. Es gibt praktisch keine interessenfreie Erkenntnis.18Das berührt die Frage der Mystik, denn wenn es überhaupt eine interessefreie Erkenntnis gibt, dann da. Walter Benjamin formulierte in seiner »Erkenntniskritischen Vorrede« dazu den monolithischen Satz: »Die Wahrheit ist der Tod der Intention.« (GS I, 216) Wenn wir aber dieses Interesse, das hinter unseren Aussagen steht, erkennen und kommunizieren, können wir auf diese Weise zu einer objektiven Erkenntnis voranschreiten, so die These der vorliegenden Untersuchung. Die Verfügbarkeit ist in der Selbsterkenntnis gegeben, die Gemeinschaftsbildung darin, dass wir unser Interesse klar kommunizieren, und die Emanzipation vom naturwüchsigen Zwang entsteht durch die Integration und Ganzwerdung meiner Selbst, wenn ich mich ehrlich zeige. Echte Objektivität ist nur in der Offenbarung der eigenen Subjektivität möglich.
Die unerlässliche Voraussetzung für eine richtige Erkenntnis ist deshalb Selbstreflektion, in der man sich selbst und seine jeweiligen Interessen klar und ehrlich erkennt. Aus dieser Selbstreflektion geht auch das Interesse der Mündigkeit hervor, dass für Habermas das tiefste und reinste Interesse zu sein scheint. Wenn wir uns selbst erkennen, wissen wir auch, wer wir sind. Das kann mit Mündigkeit gleichgesetzt werden. Diese Mündigkeit ist eine Erfüllung der drei Selbsterhaltungsaspekte Technik, Verständigung und Emanzipation.
Im Emanzipationsvorgang gegenüber der Natur setzen wir uns der Natur gegenüber und aus ihr heraus, um Erkenntnis zu erlangen. Die Natur wird zum Objekt, zum Gegen-über, und wir ragen aus der Einheit der Natur heraus, d. h. wir werden ›heraus-ragend‹. Wir werden ex-statisch, ›heraus-stehend‹: »Mündigkeit ist die einzige Idee, deren wir im Sinne der philosophischen Tradition mächtig sind.« (1151) So werden wir zu selbstreflexiven, philosophischen Wesen.
Der Ursprung dieser Bewegung ist die Subjekt-Objekt-Spaltung: »Wenn Erkenntnis je ihr eingeborenes Interesse überlisten könnte, dann in dieser Einsicht, dass die Vermittlung von Subjekt und Objekt, die das philosophische Bewusstsein ausschließlich seiner Synthesis zurechnet, anfänglich durch Interesse hergestellt ist. Reflexiv kann der Geist dieser Naturbasis innewerden. Deren Gewalt reicht aber bis in die Logik der Forschung.« (1148f., Hervorhg. v. Habermas)
Das basale Interesse ist der Selbsterhaltungstrieb, der uns dazu verleitet, die Natur als etwas uns Äußerliches, eben Objektives zu betrachten, um sie zu kontrollieren. Gerade die Forschung ist sich oft dessen nicht bewusst, dass sogar ihre rationale Logik von diesem Interesse beeinflusst ist. Die Wissenschaft glaubt in Bezug auf die Logik an ewige, unveränderliche Prinzipien. Die Logik ist ihre Metaphysik.
Dieser Selbsterhaltungstrieb hat eine doppelläufige Dynamik. Tatsächlich gehen unsere Interessen »zugleich aus Natur und aus dem kulturellen Bruch mit Natur hervor.« (1149, Hervorhg. v. Habermas). Nicht nur Durchsetzung des Naturtriebs, sondern Lösung von Naturzwang spielt hier mit. Habermas formuliert die These: »Erkennen ist im gleichen Maße Instrument der Selbsterhaltung, wie es bloße Selbsterhaltung transzendiert.« (1149f.).
Diese Transzendierung der bloßen Selbsterhaltung wäre auch die Überwindung der Ego-Perspektive und damit die vornehmste Aufgabe der spirituellen Entwicklung. Es gibt nämlich doch eine interessenfreie Erkenntnis: im Geistigen Sehen. Dieses ist aber ein Spezialfall, der nur durch ein mystisches Bewusstsein als Grenzwert – Erwachen oder Erleuchtung – erreicht werden kann und nicht in den Bereichen der historischen Wissenschaften oder aller Arten von materiellem Wissen zu finden ist.19Das Geistige Sehen ist ein eigenes Thema, das in anderen Arbeiten des Autors behandelt wird. Siehe dazu die Literaturliste.
Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–23 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2023 Masterabschluss zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« (2012) und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts« (2 Bände, 2014 und 2015). Blog: www.ronaldengert.com / Zeitschrift: www.tattva.de
Literatur
Benjamin, Walter (1940): Thesen zum Begriff der Geschichte, GS I, 691–704, in: ders. (1972–1989): Gesammelte Schriften (GS), Band I–VII (14 Teilbände), unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main.
Habermas, Jürgen (1965): Erkenntnis und Interesse. In: Merkur. 19. Jahrgang, Heft 213, S. 1139–1153.
Horkheimer, Max (1937): Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, hier: Frankfurt Main 1992, S. 205–269.
Beiträge vom Autor zum Geistigen Sehen:
Engert, Ronald (2017): Die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Das Geistige Sehen als Methode der Erkenntnis bei Walter Benjamin, Bachelorarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin, abrufbar bei acedemia.edu.
Engert, Ronald (2023): Die Magie der Sprache im Werk Walter Benjamins. Franz Joseph Molitor, die Kabbala und jüdisches Denken, Masterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin, abrufbar: academia.edu.
Artikel zum Thema
- Sebastian F. Seeber – Die Seele bei Platon. Über die Selbsterkenntnis des Menschen
- Walter Benjamin – Die magische Sprache der Kraft. Wirkende Worte
- Alle Artikel von Ronald Engert bei Tattva Members
- Prof. Dr. Dr. Matthias Beck – Theologie und Epigenetik (Video-Interview)
- Prof. Dr. Thomas und Dr. Brigitte Görnitz – Quantentheorie und Bewusstsein (Video-Interview)
Weitere Beiträge auf www.tattva.de (noch nicht als Volltexte in Tattva Members eingepflegt):
- TV 91: Walter Benjamin / Ronald Engert – Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen
- TV 86: Ronald Engert – Was ist ein Subjekt? Das Grundaxiom der Existenz
- TV 86: Ken Wilber – Dem Urgrund des Seins auf der Spur. Sind wir mehr als das Ego?
- TV 66: Ronald Engert – Der Andere. Erkenntnis jenseits des Ich
- TV 61: Prof. Dr. Harald Walach – Die vergessenen Erkenntnisse des Hugo de Balma. Spirituelle Erfahrung als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis
- TV 53: Ronald Engert / Gabriele Sigg – Der subjektive Faktor. Innere Reife als Schlüssel zu objektiver Wissenschaft
- TV 49: Prof. Peter Gottwald / Dr. Tom Steininger – Das aperspektivische Zeitalter. Jean Gebser und die Vision des integralen Bewusstseins