Von der Trennung zur Einheit
Bereits Werner Heisenberg hoffte, die Weltformel zu finden, eine Gleichung, die alle physikalischen Phänomene im bekannten Universum präzise beschreibt und verknüpft. Die Physik entdeckte alsbald, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile und dass der Mensch Teil der höheren Ordnungsstruktur der Natur ist. Evolution geschieht demnach, wenn sich der Mensch gegenüber dieser höheren Ordnungsstruktur hin öffnet und statt der Trennung von der Natur die Einheit mit ihr erfährt.
Aktuell befindet sich die Menschheit in der schwersten globalen Krise seit Menschengedenken. Das Artensterben hat ein Ausmaß angenommen, das seinesgleichen nur noch beim Aussterben der Dinosaurier findet. Der synchrone Verlauf zwischen Industrialisierung und globaler Veränderung ist augenfällig. Die Industrialisierung ihrerseits ist im Wesentlichen das Produkt physikalischer Erkenntnisse. Es ist darum legitim, die Frage nach der Mitverantwortung der Physik zu stellen. Wir wissen, dass die Physik bis heute kein abgeschlossenes Ganzes ist und sie die »Weltformel« noch nicht gefunden hat. Es muss also in Betracht gezogen werden, dass elementare Erkenntnisse noch fehlen.
»Die Physik ist, wie die Chemie, die Biologie, Medizin, Psychologie und Religion, ein Teilaspekt der Alchemie, die bis zur Zeit Newtons als Universalwissenschaft galt.«
Die Physik ist, wie die Chemie, die Biologie, Medizin, Psychologie und Religion, ein Teilaspekt der Alchemie, die bis zur Zeit Newtons als Universalwissenschaft galt. Wenn sie auch heutzutage gern belächelt wird, so zeichnete sie sich doch durch die Verknüpfung der heutigen wissenschaftlichen Teildisziplinen aus. In komplexen Systemen ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, das wissen wir heute. Das in der Alchemie noch vorhandene verbindende geistige Element ist durch ihre Zerstückelung verloren gegangen. Goethe gibt diesem Geschehen bildhaft Ausdruck, wenn er seinen Mephistopheles die Verse in den Mund legt:
»Wer will was lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in der Hand,
Fehlt, leider! Nur das geistige Band.«1Faust I, Studierzimmer, 1936 – 1939
Da die Physiker in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung der Relativitäts- und Quantenphysik sehr elementare Prinzipien der Materie zu formulieren vermochten, hoffte Werner Heisenberg in absehbarer Zeit eine grundlegende Materiegleichung, die sogenannte Weltformel zu finden. Sein Physiker-Kollege Wolfgang Pauli, der die Arbeit daran anfangs mit großem Interesse verfolgte, hatte für die verfrühte Veröffentlichung der noch lückenhaften Ergebnisse 1958 nur Spott übrig. Gleichwohl sah auch er in der Physik das Potential einer umfassenden Welterklärung. Er vertiefte sich, im Austausch mit dem Psychologen C. G. Jung, in die archetypische Symbolik und die Alchemie, in der er den Versuch einer »psychophysischen Einheitssprache«2Pauli, Wolfgang: Brief an C. F. v. Weizsäcker vom 5.5.1953 vermutete. Diese alte Sprache scheiterte seiner Meinung nach, »weil diese auf die sichtbare, konkrete Realität bezogen wurde.« In der neuen Physik sah er nun ein geeigneteres Mittel, denn nun habe man in der »unsichtbaren Realität (der atomaren Objekte)« und einer gewissen Freiheit des »Beobachters« eine Parallele zu Vorgängen in der Psychologie des Unbewussten, die auch »nicht immer eindeutig einem bestimmten Subjekt zugeschrieben werden können.«3ebd.
Die Einheit der Natur
1971 machte Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Buch »Die Einheit der Natur« auf einen bemerkenswerten Aspekt der Quantenmechanik aufmerksam: Quantenobjekte lassen sich nur durch Wechselwirkungen beschreiben. Solche Beschreibungen sind also das Ergebnis der Wechselwirkung der Objekte mit ihrer Umwelt. Es ist also im Grunde nicht sinnvoll, von »isolierten« Objekten zu sprechen.4Weizsäcker, Carl Friedrich von: »Die Einheit der Natur«, S. 164
Objekte, die miteinander in Wechselwirkung stehen, bilden gleichsam ein Gesamtobjekt, dessen Teile sie sind. Ihre Wechselwirkung ist somit »die innere Dynamik eines aus den wechselwirkenden Objekten bestehenden Gesamtobjekts; das ursprünglich betrachtete Objekt ist in diesem Gesamtobjekt ›untergegangen‹.«5Ebd., S. 485
Wasser zum Beispiel besteht aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen (H2O), aber aus Sauerstoff und Wasserstoff lässt sich Wasser nicht erklären.6nach B. Russell in: Vollmer, Gerhard: »Evolutionäre Erkenntnistheorie«, S. 82 Was wir als »Wasser« bezeichnen, ist das Ergebnis der miteinander wechselwirkenden Objekte Sauerstoff und Wasserstoff, anders ausgedrückt, die innere Dynamik des Objekts Wasser, die Wechselwirkung oder Zusammenarbeit seiner Teile. »Wasser« ist somit etwas über seine materielle Grundlage (Sauerstoff und Wasserstoff) Hinausgehendes und zeigt darum völlig andere Eigenschaften.
Carl Friedrich von Weizsäcker schloss darum weiter:
»Das Objekt wäre nicht Objekt in der Welt, wenn es nicht durch Wechselwirkung mit ihr verbunden wäre. Dann aber ist es strenggenommen gar kein Objekt mehr. Wenn es etwas geben könnte, was in Strenge ein quantentheoretisches Objekt sein könnte, dann allenfalls die ganze Welt.«7ebd., S. 486
Das gleiche Bild lässt sich im Hinblick auf kybernetische oder biologische Regelkreise zeichnen. Die über Rückkopplungen zusammenwirkenden Zellen, Organe, Lebewesen und Ökosysteme bestimmen mit ihren Reiz-Reaktions-Schemata den aktuellen Gleichgewichtszustand der sie jeweils umfassenden nächsthöheren Ordnungen. Die aktuelle Klimakrise konfrontiert uns direkt mit diesem Sachverhalt. Nichts und niemand ist nur für sich selbst da. Alles lebt auf Kosten der Umwelt und ist im Gegenzug der Umwelt zum Dienst verpflichtet. Letzteres geschieht im animalischen Bereich unbewusst, instinktgesteuert. Dagegen zielt das menschliche Streben auf eine bewusste Mitwirkung an der schöpferischen Gestaltung der Lebensprozesse. Es ist darum selbstverständlich, wenn ein Unglück vermieden werden soll, dass sich der Mensch über die Art seiner Antriebe wird Rechenschaft geben müssen. Dies erfordert, dass Bewusstseinsniveau aus der animalischen Selbstbezogenheit zu einer übergeordneten Organisationsebene zu erheben, um in deren Dienst mitwirken zu können.
Die Einheit des Einzelnen
Hinsichtlich der Relevanz quantenphysikalischer Mikroereignisse für Objekte der Makrowelt wird zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Quanteneffekte der vielen vergleichbaren Mikroereignisse sich gegenseitig ausmitteln würden. Diese Betrachtungsweise geht davon aus, dass ein Makroobjekt, etwa ein Waschbär, aus der Summe seiner Atome, das heißt seiner Mikroereignisse besteht. Das ist unbestreitbar, aber die materielle Substanz des Waschbären macht den Waschbären nicht aus. Wie oben am Beispiel des Wassers gezeigt, ist auch der Waschbär, als quantenphysikalische Einheit, das Ergebnis der inneren Dynamik der in ihm in Wechselwirkung stehenden untergeordneten Organstrukturen, wie Lunge, Leber, Herz und Gehirn. Auch er ist darum etwas über die materiellen Grundlagen Hinausgehendes und zeigt darum völlig andere Eigenschaften. Kommen diese Wechselwirkungen zum Erliegen, dann kann nicht mehr sinnvoll von einem aktuell physisch existierenden Waschbären gesprochen werden.
Die Gesetze der Quantenphysik wurden im atomaren Bereich entdeckt, weil sie dort nicht mehr ignoriert werden konnten. Sie gelten für »Einheiten«, zum Beispiel Protonen, in denen Quarks miteinander wechselwirken, oder Atome, in denen die Kernbausteine (Protonen und Neutronen) und die Elektronen aufeinander einwirken. Diese im Allerkleinsten geltenden Gesetzmäßigkeiten sind sehr elementar und darum für alle »Einheiten« des Universums (wörtlich) bindend.
Ein Beispiel soll das veranschaulichen: Beim radioaktiven Zerfall wird die allen Quantenereignissen innewohnende Gegensatzspannung von Gesetzmäßigkeit und Unbestimmtheit klar erkennbar. Für jede radioaktive Substanz lässt sich eine sogenannte Halbwertszeit angeben, nach der die Hälfte aller radioaktiven Atome zerfallen ist. Vom verbleibenden Rest zerfällt nach gleicher Zeitspanne wieder die Hälfte usw. Hiermit ist das statistische Zusammenwirken der Einzelelemente beschrieben. Für ein bestimmtes Atom macht es keine Aussage, wann es zerfallen wird, ob in der nächsten Sekunde oder erst nach tausenden von Jahren. Ohne über eine Einführung des Zufalls in die Physik, individuelle oder schöpferische Freiheit zu spekulieren, können wir jedenfalls feststellen: Das Atom zerfällt ohne äußere Ursache. Damit ist das Kausalitätsprinzip, das Prinzip, wonach jeder Wirkung eine Ursache zugrunde liegt, auf Einzelobjekte nicht anwendbar. Gleiches gilt für Einheiten unseres Erfahrungsbereichs: Wer zehn Jahre in Grindelwald sein Urlaubsdomizil gefunden hat und nun, auf neues Erleben aus, nach Capri reist, der benimmt sich doch nicht anders als ein radioaktiv zerfallendes Cäsiumatom? Wir konnten voraussehen, dass es einmal zu einem Wechsel kommen würde, der Zeitpunkt hat uns aber doch überrascht. Der langjährige Mitarbeiter von Weizsäckers am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Thomas Görnitz, sieht in solchen Ereignissen mit Quantencharakter in unserer Erfahrungswelt ein Zusammenspiel von Quantenphysik und klassischer Physik in einer dynamischen Schichtenstruktur.8Görnitz, Th. / Görnitz B.: »Der kreative Kosmos«
Information und Zeit als Weltformel
Das von Carl Friedrich von Weizsäcker dargestellte System der »Einheiten« im Gesamtobjekt ist klar, einfach und in seiner unmittelbaren Erfahrbarkeit überzeugend. Im Grunde ist hiermit eine Weltformel formuliert, die Carl Friedrich von Weizsäcker auf Information in der Zeit zurückführte, sogenannte Ur-Alternativen.9Weizsäcker: Carl Friedrich von: »Die Einheit der Natur«, S. 209
»Das von Carl Friedrich von Weizsäcker dargestellte System der »Einheiten« im Gesamtobjekt ist klar, einfach und in seiner unmittelbaren Erfahrbarkeit überzeugend.«
Werner Heisenberg schien die exakte Durchführung eines solchen Projekts außerordentlich schwierig, da es ein Denken so hoher Abstraktheit erfordere, wie es bisher, wenigstens in der Physik, nie vorgekommen sei.10Werner Heisenberg zu Carl Friedrich von Weizsäcker: »Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik«, S. 286 Inzwischen ist diese Theorie aber mathematisch in den Grundzügen ausformuliert11Siehe dazu die Weiterentwicklungen von Thomas Görnitz zur Theorie der Protyposis und Martin Kober zur mathematischen Formulierung. und verdient, schon ihrer Schlüssigkeit wegen, Beachtung. Die Klärung noch offener mathematisch-physikalischer Bezüge mag später erfolgen, wenn nur die zentrale Idee klar ans Licht tritt. Die heutige Weltkrise verlangt nach einer »Theorie von Allem«, einer Weltformel, die Orientierung über die Ordnungsstruktur unserer Welt gibt.
Eine Weltformel, die Anspruch auf die Einheit der Natur erhebt, greift allerdings auch unser durch Trennungsdenken bestimmtes Weltbild an. Der Mensch steht der Natur dann nicht mehr als höchstes Wesen gegenüber, sondern muss sich als Teil in einem größeren Zusammenhang begreifen, der ihm Verantwortung abverlangt. Noch elementarer, weil oft ideologisch aufgeladen, ist die Unterscheidung von Materie und Leben oder gar Beseelung. Es lassen sich also gute Gründe finden, am Status quo nicht zu rühren. Da der Mensch gegenwärtig aber, in seinem Selbstverständnis als »Herr der Welt«, das ihm anvertraute Lebenssystem Erde zu vernichten droht, muss es erlaubt sein, die bisherigen Denkgewohnheiten zumindest zu hinterfragen.
Zur Stellung des Menschen in der Welt:
Was für die atomare Einheit gilt, das gilt auch für den sich als Einheit begreifenden Menschen, nämlich, dass er mit den Objekten seiner Umgebung in Wechselwirkung steht.
»Was für die atomare Einheit gilt, das gilt auch für den sich als Einheit begreifenden Menschen, nämlich, dass er mit den Objekten seiner Umgebung in Wechselwirkung steht.«
Dann aber ist er nach quantenphysikalischem Verständnis Teil eines größeren Objektes, zum Beispiel der Familie, Firma oder Dorfgemeinschaft. Wenn wir vom Staat als Einheit ausgehen, dann sprechen wir hier auch ganz richtig von seinen Organen und Zellen. Aber sie sind es auch tatsächlich. Dass wir sie nicht als geschlossene Körpergestalt sehen können, wie etwa eine Niere, besagt nichts. Die Nierenzelle wird die Einheit der Niere und den Menschen, zu dem diese gehört, auch nicht »sehen« können. Wenn dies wahr ist, dann spricht nichts dagegen, den einzelnen Menschen als Zelle in einer größeren Organstruktur aufzufassen, etwa dem Volk, der Menschheit, der Natur, der Erde oder gar des ganzen Universums.
Zum Leben:
Unsere Interaktionen mit der Umwelt fassen wir als Lebensprozesse auf, ebenso das Zusammenspiel unserer Organe und Körpersäfte, die unter anderem mit von außen aufgenommener Materie (Nahrung, Wasser, Luft) interagieren. Wenn wir die Wechselwirkung der Lebewesen, Organe und Zellen als Ausdruck des Lebendigen nehmen, warum dann nicht auch die Wechselwirkungen auf molekularer und atomarer Ebene? Eine Trennung in lebendige und tote Materie erscheint unnötig und recht willkürlich. »Tot« nennen wir eine Einheit, deren Organe nicht mehr in Wechselwirkung miteinander sind. Ein Tier nennen wir »tot«, wenn seine Organe alle ausgefallen sind, eine Pflanze, wenn ihre Zellen nicht mehr im Austausch miteinander stehen und ein Wassermolekül, wenn sich seine beiden Wasserstoffatome vom Sauerstoffatom getrennt haben.
»Es gibt keine tote Materie – alles ist lebendig!«
Leben ist ein fortdauernder dynamischer Prozess, in dem die einzelnen Lebensformen sich in gegenseitiger Interaktion aufeinander abstimmen, alte Formen aufgelöst und neue gebildet werden. Kurzum: Es gibt keine tote Materie – alles ist lebendig!
Zur Evolution:
Materie als solche, Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen unterscheiden sich vom Prinzip her also nicht durch ihr Leben, wohl aber hinsichtlich ihrer Bewusstseinsebene. Der Physiker Erwin Schrödinger hat zudem darauf aufmerksam gemacht, »dass Bewusstsein ein Singular ist, dessen Plural wir nicht kennen.«12Schrödinger, Erwin: »Was ist Leben?«, S. 124 Neben der physikalischen Einheit der Natur stehen somit die Einheit des Bewusstseins und das EINE Leben – denn das Leben des einen Wesens ist nicht anders als das Leben des anderen. Hier zeigt sich eine Dreieinigkeit des Seins, wie wir sie auch in den Religionen finden, zum Beispiel Vater, Sohn und Heiliger Geist im Christentum oder Brahman, Vishnu und Shiva in den Veden. Heute könnten wir also sagen: Die verborgene Einheit des Seins oder der Natur offenbart sich im Leben durch Bewusstwerdung, das in der Form Ausdruck findet. Die Vielheit unserer Welt bedeutet demnach ein Teilhaben am Leben und Bewusstsein des EINEN. Die Evolution ist dann nicht primär eine der Formen, sondern eine des Bewusstseins. Im hegelschen Sinne wird das EINE sich durch das Leben seiner selbst bewusst, und wir haben Teil daran. Wir haben Teil daran als ein Mikrokosmos im Makrokosmos, denn auch unser hinter der Form verborgenes Sein offenbart sich im Leben entsprechend unserem Bewusstseinsniveau.
Diese Denkweise ist vielleicht ungewohnt, aber in sich schlüssig. Unsere gewohnte Sichtweise hingegen arbeitet mit recht willkürlichen Grenzziehungen zwischen tot und lebendig und es bleibt dabei die Frage unbeantwortet, warum eine tote Natur plötzlich Leben hervorbringen sollte. Je nach Weltanschauung müssen dann mysteriöse Zufälle oder unergründliche Götter zur Erklärung herangezogen werden, womit wir dann im Spekulativen verblieben.
Der Mensch in der Evolution
Die verbreitete Vorstellung, der Mensch sei, so wie wir ihn kennen, gottgewollt und vollendet, ist sehr bequem, da sie uns keine weiteren Anstrengungen abverlangt. Allein die von der Menschheit ausgehende Naturzerstörung belehrt uns eines Besseren.
»Als Gotteskind (also bewusster Teil des EINEN) ist der Mensch gerufen, schöpferisch und im Einklang mit der Natur am Werden der Schöpfung mitzuwirken.«
Im Rahmen der oben genannten Bewusstseinsevolution können wir einen augenblicklich sich vollziehenden Lernprozess erkennen. Mit den Auswirkungen seines Handelns konfrontiert, wird der Mensch sich seiner Verantwortung für sein Lebensfeld bewusst. Bei genügend tiefer Selbsterkenntnis wird das menschliche Bewusstsein die Beschränkung seiner überzogenen animalischen Selbstbezogenheit erkennen und sich eingeladen sehen, seine selbstbezogene Ichheit zu übersteigen. Als Gotteskind (also bewusster Teil des EINEN) ist der Mensch gerufen, schöpferisch und im Einklang mit der Natur am Werden der Schöpfung mitzuwirken. Das setzt jedoch voraus, dass er sich dem Geist der höheren Ordnungsstruktur öffnet. Die Schwierigkeit liegt zunächst darin, den animalischen Selbsterhaltungstrieb zugunsten der Bedürftigkeit anderen Lebens zurückzustellen. Darum steht am Anfang der Lern- und Bewusstwerdungsprozess; erst danach kann der Erneuerungsprozess folgen.
Bei der aktuellen globalen Menschheitskrise geht es also primär um eine Bewusstseinserhebung des Menschen. Die Umweltprobleme sind hinsichtlich des Entwicklungsziels sekundär. Sie werden durch ein noch unzureichendes Verantwortungsbewusstsein des Menschen verursacht und dienen nun als Mittel zum Zweck. Bemerkenswert ist, dass der hier wirkende Geist der höheren Ordnungsstrukturen den Menschen in seiner Entscheidung frei lässt und ausschließlich an dessen Herz und Bewusstsein appelliert. Dabei geht es um die Bewusstwerdung der einzelnen Zellen, also der Individuen. Unsere Gesellschaftsstrukturen sind selbstorganisierende Systeme zahlreicher zusammenwirkender Individuen, die sich gegenseitig beeinflussen. So wird auch der Handlungsspielraum der Ordnungs- oder Leitungsebene durch die Individuen gebildet und instandgehalten. Systemische Lösungen können darum von führenden Stellen in Staat und Wirtschaft nicht erwartet werden. Das ganze Zusammenwirken liegt im Argen. Deshalb vollziehen sich Veränderungen in der Natur stets durch kleinste, etwa genetische Änderungen einzelner Individuen, die schließlich eine völlige Neuordnung für alle erzwingen.
Die evolutionäre Freiheit des Individuums wird durch übergeordnete Notwendigkeiten des Gesamtobjekts begrenzt, was durch Rückkopplungsprozesse, wie Umweltänderungen, sichergestellt wird. Der Evolutionsprozess unterliegt also weder reiner Zufälligkeit noch völliger Determiniertheit, sondern kann als lebendige Entfaltung oder Offenbarwerdung einer universellen bewusstseinsbildenden Idee, im platonischen Sinne, aufgefasst werden. So erzeugt das übergeordnete Ordnungssystem der Natur, mit Hilfe der sich ändernden Rahmenbedingungen unserer Umwelt, einen Evolutionsdruck auf der individuellen Bewusstseinsebene der Menschheit.
Die aktuelle Situation
Es ist kein Geheimnis, dass das von der Wirtschaft mantrahaft geforderte ewige Wachstum vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus nicht haltbar ist. Die Natur ist tatsächlich beständig im Werden, aber ihr Wachstum beruht auf einem anderen Grund. Teilhard de Chardin hat bereits in den 40er-Jahren erkannt, dass das »Wachstumsfieber« der Menschheit in Wirklichkeit »ein Durst nach Mehr-Sein« ist.13Teilhard de Chardin: »Sinn und Ziel der Evolution«, S. 160
Erich Fromm sah darum die Notwendigkeit, einen neuen Menschentyp auszubilden, der nicht das Haben, sondern das Sein in den Mittelpunkt seines Interesses stellen würde.14Fromm, Erich: »Haben oder Sein«, 1976
Es gilt darum, den überhandnehmenden animalischen Überlebenstrieb mit seinem unstillbaren Haben-Wollen, in die Schranken zu weisen, um den berechtigten Wunsch nach Wachstum, ja ewigem Wachstum, in die Seelenebene zu verlegen. Das kann man aber nicht einfach so beschließen; jedenfalls wird man es ohne tiefgehende Einsicht nicht wahrhaftig umzusetzen vermögen. Carl Friedrich von Weizsäcker hält darum einen inneren Erfahrungsprozess für notwendig, der die angstvolle Selbstbeschützung des Ich überwindet dadurch, dass das Ich sich als nicht die letzte und unbedingt zu behütende Wirklichkeit erfährt, sondern als Organ in einem größeren Zusammenhang.15Weizsäcker, Carl Friedrich von: Carl Friedrich von Weizsäcker im Gespräch mit Udo Reiter für eine Rundfunksendung: »Gespräch über Meditation.« In: »Der Garten des Menschlichen«, S. 544, nach Reiter, Udo (Hrsg.): »Meditation – Wege zum Selbst.«
Auf dieser Basis wird ein objektiverer, weil angstfreier Blick aus einer übergeordneten Ebene möglich, der neue Handlungsoptionen schafft.
»Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind«, sagte Albert Einstein einmal. Es entspringt darum keineswegs einer versponnenen Denkart, wenn wir die Menschheit hier zu einer erhabeneren Bewusstseinsebene gerufen finden, einer Bewusstseinsebene in der nicht materielle Optimierung, sondern bewusstes Leben, nicht äußeres, sondern inneres Wissen die Leitgedanken bilden. Der Evolutionsdruck zielt – wie schon immer – durch Individualisierung auf die Entfaltung verborgener Möglichkeiten. Darum steht stets das Individuum im Zentrum und wir täten gut daran, ihm die dazu förderlichsten Rahmenbedingungen zu schaffen.
Ausblick
Wissenschaft kann viel, doch eine Weltformel, eine »Theorie von Allem«, muss auch die Grenzen der Naturwissenschaft berücksichtigen, so wie sie von dem Physiker Hans-Peter Dürr einmal formuliert wurden und wie wir sie in der aktuellen Weltkrise überdeutlich vor uns gestellt sehen:
»Naturwissenschaft sagt uns, was ist, aber sie gibt keine Auskunft darüber, was sein soll, wie wir handeln sollen. Der Mensch bedarf, um handeln zu können, einer über seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hinausgehende Einsicht – er bedarf der Führung durch das Transzendente.«16Dürr, Hans-Peter: »Physik und Transzendenz – Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren«, S. 8
Das bedeutet nun keineswegs, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren, sondern Offenheit zu schaffen für größere Perspektiven, auch dem entwicklungsgeschichtlich älteren Herzen den ihm zukommenden Raum einzuräumen, denn, wie bereits der französische Philosoph Blaise Pascal wusste: »das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt«. Sicher, wir betreten damit Neuland; die Weltformel, die »Theorie von Allem«, sehen wir unversehens in das Zentrum unserer Seele gestellt. Um mit den sich daraus ergebenden Entwicklungsmöglichkeiten und Gefahren besonnen umgehen zu können, haben wir, wie oben bereits angedeutet, auch das Selbstverständnis des Menschen in diesem neuen Rahmen einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen, was aber hier den Rahmen sprengen würde und an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt wurde.17Siehe hierzu: Kahle, Ronald: »Weltformel Seele – Quantensprung der Evolution«, Hamburg, 2014
Abschließend dürfen wir feststellen, dass die Weltkrise die Menschheit einlädt, ja geradezu drängt, der der Natur und darum auch jedem Menschen innewohnenden Weltformel der Einheiten Gehör zu schenken, die auf die Entfaltung einer selbstverantwortlichen, selbstschöpferischen Individualität hinwirkt.
Ronald Kahle war beruflich als Ingenieur tätig, ist freier Buchautor und hat sich seit 1983 im Rahmen des Lectorium Rosicrucianum mit den elementaren Lebensfragen der Menschheit auseinandergesetzt.
Artikel zum Thema
- Dr. Stephan Krall – Vom Sein zum Bewusstsein. Eine Erklärung aus quantenphysikalischer Sicht
- Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Dürr – Das Geistige ist die treibende Kraft. Wie das Bewusstsein die Materie erzeugt
- »Neue Perspektiven« mit Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Dürr u.a. (Video-Talk)
- Ronald Engert – Wie funktioniert die Wirklichkeit?
- Marcus Schmieke – Bewusstsein, Leben und Kohärenz
- Marcus Schmieke – Integrales Bewusstsein und Komplementarität (Video Interview)
Weitere Beiträge auf www.tattva.de (noch nicht als Volltexte in Tattva Members eingepflegt):
- TV 77-79: Jürgen Schröter – Teilhard de Chardin. Bewusstseinspionier für eine Religion und eine Wissenschaft der Liebe
- TV 78: Dipl.-Ing. Klemens J. P. Speer – Hat der Physiker Burkhard Heim die »Weltformel« gefunden?
- TV 73: Dr. Ulrich Warnke – Quantenphilosophie. Weisheitslehren aus Sicht der Quantenphysik
- TV 70: Dr. Stephan Krall – Quantenphysik, Protyposis und Geist
Quellennachweis:
Chardin, Pierre Teilhard de: »Sinn und Ziel der Evolution«, ausgewählte Texte von Peter Gotthard Bieri (Hrsg.), Shaker Media, Aachen 2010.
Dürr, Hans-Peter (Hrsg.): »Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren«. Scherz, Bern, München, Wien, 6. Aufl. 1992 der Sonderausgabe 1986.
Fromm, Erich: »To have or to be?«, Harper & Row, Publishers, New York, Hagerstown, San Francisco, London, 1976, deutsche Übersetzung »Haben oder Sein«, Deutsche Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart, 1976.
Görnitz, Th. / Görnitz B. »Der kreative Kosmos – Geist und Materie aus Information«, Heidelberg, 2002.
Heisenberg, Werner: »Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik«, Piper Verlag, München, 1969.
Kahle, Ronald: »Weltformel Seele – Quantensprung der Evolution«, Hamburg, 2014.
Kober, Immanuel: »Die einheitliche Beschreibung der fundamentalen Objekte und Wechselwirkungen der Natur in der Quantentheorie der Ur-Alternativen«, München, GRIN Verlag, 2018, https://www.grin.com/document/438604
Pauli, Wolfgang: Brief an C. F. v. Weizsäcker vom 5.5.1953, in: »Wolfgang Pauli, Wissenschaftlicher Briefwechsel mit Bohr, Einstein, Heisenberg u. a.«. Band 4, 1953–1954, Hrsg. Karl von Meyenn, Springer, Berlin, Heidelberg, 1999,
S. 138-142.
Reiter, Udo (Hrsg.): »Meditation – Wege zum Selbst.« München, Mosaik Verlag, 1976.
Schrödinger, Erwin: »Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet«, 3. Auflage 1989, Piper, Originalausgabe 1944: »What is life?« Cambridge University Press.
Vollmer, Gerhard: »Evolutionäre Erkenntnistheorie«. Hirtzel, Stuttgart 1975.
Weizsäcker, Carl Friedrich von: »Die Einheit der Natur«. Hanser, München, 2. Aufl. 1971.