Zur Unterscheidung von Maschinen und Lebewesen
Nein, man kann der KI keine Ethik beibringen, sagt Dr. Justina Fischer. Aufbauend auf der Ethiklehre von Aristoteles untersucht die Autorin minutiös, wie Ethik zustande kommt und was bei der Künstlichen Intelligenz dazu fehlt. Obwohl die KI viele ästhetische und logische Aufgaben übernehmen kann, fehlt ihr etwas Entscheidendes: der Lebensfunke und das darin gründende Ziel des glücklichen Lebens – und damit die Ethik.
Die KI – eine Abkürzung für Künstliche Intelligenz – ist ein neuartiger Typ von Computer. Die KI gilt als im hohen Masse lernfähig und als relativ selbständig handelnd. Daher eignet sie sich für Tätigkeiten in Interaktion mit Menschen – beispielsweise als Busfahrer und somit Verkehrsteilnehmer, als Serviceroboter im Restaurant, als Pflegekraft im Altersheim. Aufgrund solcher Interaktionen stellt sich die Frage nach der Ethik im Tun der KI: Ethik, das sich ableitet vom griechischen ethos – das heißt Sittlichkeit oder sittliche Gesinnung –, ist die Frage nach dem guten Tun, nach dem ethisch korrekten Verhalten. Informatiker zerbrechen sich die Köpfe darüber, wie sie der KI Ethik und Moral antrainieren können.
In diesem Artikel beleuchte ich diese Frage aus einer rein philosophischen und damit viel grundsätzlicheren Perspektive: Ist die KI überhaupt fähig, ethisch gut zu handeln, dem Prinzip nach? Für meinen Antwortversuch möchte ich dafür die in der westlichen Welt erste und fundamentalste Ethiklehre heranziehen: die Nikomachische Ethik des Aristoteles.
Wie funktioniert eine KI?
In einem ersten Schritt sollten wir verstehen, wie eine KI arbeitet, das heißt wie sie entscheidet und wie sie dafür trainiert wird. Eine KI arbeitet mit Hilfe von Mustererkennung (pattern recognition). Während ein klassischer Computer vom Menschen geschriebene Programme Schritt für Schritt abarbeitet, verfügt die KI über eine Art Archiv von Mustern – wie etwa von Gegenständen mit den dazugehörigen Namen, Alltagssituationen wie im Straßenverkehr oder von Textbausteinen. Wird der KI etwas Neues präsentiert, dann sucht sie in ihrem Archiv, was dem ihr Vorgebenen mit der höchsten Wahrscheinlichkeit ähnlich ist. Das Ähnlichste ihrer Muster dient der KI dann als Antwort auf eine gestellte Frage oder Verhalten in einer Situation.
Dieses Archiv von Mustern wird der KI von Menschen antrainiert: es entsteht mit Hilfe von vielen Beispielen aus der Praxis, die man der KI präsentiert und ihr deklariert, etwa so wie man einem Kleinkind mit Hilfe von Bilderbüchern das Sprechen beibringt. Dabei generiert die KI eine Art von repräsentativem Durchschnitt der bisher gezeigten Beispiele – das Muster. Es braucht Tausende von Bildern und Trainingsstunden, bis die KI ein einzelnes Muster erlernt hat.
Die KI ist ein lernfähiges System: sie nimmt selbständig Fehlerkorrekturen (Updates) an den bereits gespeicherten Mustern vor, indem sie eigenständig mittels Abgleichs der neuen Beispiele Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit den bereits vorhandenen Mustern entdeckt. Die Beispiele und Lernanreize müssen jedoch weiterhin vom Menschen geliefert werden. Die KI lernt mit Hilfe verfügbarer Daten aus Internet und social media – Folge ist eine Art von Konservatismus: die KI gibt jede Verzerrung in den Ausgangsdaten ungefiltert wieder und ist daher tendenziell rassistisch, binär, und frauenfeindlich.
Wie könnte man einer KI eine ethische Haltung antrainieren? Ethik besteht, grob gesprochen, aus zwei Bestandteilen: zum einen aus der Gesetzestreue und zum anderen aus dem ethisch guten Handeln, das nicht von festgeschriebenen Normen geregelt wird. Gesetzliche Regeln kann man der KI beibringen. Ein gutes Beispiel ist hier die StVO: bei Grün fährt man über die Kreuzung und bei Rot nicht; Fußgänger haben auf dem Zebrastreifen Vorfahrt. Überhaupt fährt man auf der Straße und nicht auf dem Gehweg.
Das ethische Problem liegt in solchen Situationen, bei denen es keine eindeutige rechtliche Regelung gibt und eine Güterabwägung stattfinden muss. Klassisches Beispiel ist der Unfall, der nicht vermieden werden kann, zum Beispiel im folgenden hypothetischen Fall: ein alter Mann und eine junge Frau überqueren gleichzeitig eine Straße. Die autofahrende KI muss einen der beiden umfahren und tödlich verletzen, um den anderen zu retten – wie soll sie sich verhalten? Hat der eine Mensch weniger Recht weiterzuleben als der andere? Soll die KI würfeln, oder soll sie sich nach volkswirtschaftlicher Nützlichkeit (erwarteter Beitrag zum BIP) entscheiden? Und wenn die Frau schwanger ist, aber der alte Mann der Bundeskanzler Scholz? Versteht die im Prinzip unsterbliche KI überhaupt, was es bedeutet, zu sterben, und nicht wiedererweckt werden zu können wie ein PC, den man zur Reparatur bringt und dann wieder anschaltet?
»Meine Schlussfolgerung ist, dass die KI nicht ethisch gut handeln kann, weil es ihr an etwas Grundsätzlichem mangelt: am Mensch-Sein.«
Die Frage, ob die KI fähig ist, ethisch (gut) zu handeln, lässt sich an der Ethiklehre des Aristoteles reflektieren, die er in seiner Schrift »Nikomachische Ethik« dargelegt hat. Die daraus geschlossenen Ergebnisse werden überraschen: Meine Schlussfolgerung ist, dass die KI nicht ethisch gut handeln kann, weil es ihr an etwas Grundsätzlichem mangelt: am Mensch-Sein.
Mensch-Sein meint hier nicht das Vorhandensein der Ratio im Gegensatz zum unvernünftigen Tier, wie es die klassische Philosophie sieht; sondern in Hinblick auf den Vergleich mit der KI-Maschine bedeutet Mensch-Sein das Vorhandensein einer Körperlichkeit und Organik, das heißt Emotionen, der genetisch kodierte Wunsch nach Eudaimonie (Glück), und das Vermögen zu einer trans-logischen Intuition.
Ethik nach Aristoteles
Gemäß der aristotelischen Philosophie besteht die Seele eines Menschen aus mehreren Bestandteilen. Zunächst unterscheidet Aristoteles zwischen dem Teil mit Vernunft (logon echon) und dem ohne Vernunft (alogon).
- Der vernunftlose Teil besteht zum großen Teil aus dem sogenannten vegetativen Teil (phytikon), der mit organisch-biologischen Bedürfnissen wie Wachstum und Ernährung zu tun hat.
- Der vernünftige Teil besteht aus einem nachdenkenden und einem abwägenden Teil. Der (nach)denkende Teil (epistemonikon) bezieht sich auf die Theoriebildung und die Wissenschaft (theoria). Der überlegende oder abwägende Teil (logistikon bzw. phronesis) beschäftigt sich entweder mit dem Handeln in der sozialen Interaktion (praxis) oder mit der Produktion (Handwerk, Technik etc. – techné). Das Abwägen von ›gut‹ oder ›schlecht‹ übernimmt die phronesis, die man auch praktische Vernunft nennt.
- Der letzte Teil der Seele ist das Strebevermögen, oder auch der begehrende Teil (orektikon) genannt: hier sind die Wahrnehmung mit den fünf Sinnen (aisthesis), die Emotionen und Begierden (pathos) und das körperliche Bewegungsvermögen (kinesis) angesiedelt. Psychologisch interpretiert führt das Strebevermögen zu sogenannten Handlungsimpulsen.
»Ein gutes Mittel lässt ein schlechtes Ziel nicht gut erscheinen, und das an sich gute Ziel verliert durch das falsch gewählte Mittel seinen Charakter der Gutheit.«
Wie funktioniert nun ethisches Handeln nach Aristoteles? Dreh- und Angelpunkt ist die phronesis, die praktische Vernunft. Diese hat zwei Aufgaben: zum einen setzt sie das (ethisch gute) Ziel und zum anderen wählt sie das (ethisch gute) Mittel für die Zielerreichung. Beides ist nach Aristoteles untrennbar miteinander verbunden: Ein gutes Mittel lässt ein schlechtes Ziel nicht gut erscheinen, und das an sich gute Ziel verliert durch das falsch gewählte Mittel seinen Charakter der Gutheit. Die Wahl der Mittel wiederum orientiert sich an einem Tugendkatalog, den Aristoteles in der Nikomachischen Ethik vorstellt: Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Großzügigkeit und viele mehr. Dieser Tugendkatalog fungiert als eine Art von ›Ethik-Kompass‹, denn was ein ethisch gutes Handeln (die eupraxia) ausmacht, lässt sich nur allgemein darstellen oder beschreiben: Die praktische Vernunft bestimmt für jede Handlung ein Mittleres, das weder ein Zuviel noch ein Zuwenig ist, sowie den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Empfänger, die richtige Stimmung im Handelnden, wenn er handelt, und den richtigen Zweck sowie den richtigen Anlass. Etwa so beschreibt Aristoteles die ›Tugend‹ in seiner sogenannte ›Mesotes-Lehre‹, der Lehre von dem Mittleren, im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik. Was dies in der jeweiligen spezifischen Situation sein soll, bestimmt die phronesis des tugendhaften Menschen.
»Die phronesis formt also den ungefilterten Trieb in ein überlegtes Streben und damit in einen guten Vorsatz um.«
Wie entsteht nun das gute Ziel? Einerseits kann das Handlungsziel aus einem durch die praktische Vernunft (phronesis) überformten Trieb entstehen, der wiederum vom vegetativen Teil oder dem Strebeteil der Seele selbst herrühren kann. Ein klassisches Beispiel wäre der Hunger: im vegetativen Teil entsteht ein Bedürfnis nach Nahrung, was im strebenden Teil in ein Gefühl von Mangel (pathos) und den Trieb (orexis) zu essen umgeformt wird. Anstelle sich nun wie ein Kind gierig auf Süßigkeiten zu stürzen, sorgt die praktische Vernunft dafür, dass dieses Bedürfnis nach Kalorienzufuhr in eine sinnvolle und gesittete Nahrungsaufnahme umgewandelt wird: gesunde Nahrung in gesunder Menge zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die phronesis formt also den ungefilterten Trieb in ein überlegtes Streben und damit in einen guten Vorsatz um.
Es ist jedoch auch möglich, dass anstelle eines Triebes ein Vorsatz, der wiederum nur auf Überlegung (phronesis) beruht, zu einem Handlungsimpuls führt. Zum Beispiel könnte ich mir vornehmen, in einem Studiengang einen Abschluss zu machen. Dabei ist der Vorsatz nur dann gut, wenn die Überlegung wahr ist und das Streben richtig, also wenn die Zielsetzung stimmt. Das Ziel des Handelns wird aber mit der phronesis letztlich wieder in Verbindung mit den Tugenden, das heißt der ethischen Haltung des Handelnden, bestimmt.
Zentraler Punkt in der Nikomachische Ethik ist, dass sie ein höchstes Ziel des ethisch Handelnden kennt: das gute Leben, was auch ein glückliches Leben ist – die Eudaimonie (eudaimonia): alle Handlungen streben nach diesem Endziel mittels der Realisierung von nützlichen oder notwendigen Unterzielen. Aristoteles schwebt dabei eine Art zirkulärer Zusammenhang sich gegenseitig bedingender Faktoren vor: weil das gute Leben das Endziel ist, darum müssen auch die Mittel gut sein (sonst wäre das Endziel schlecht gemacht), und daher muss der Charakter der Person gut sein (sie muss ethisch gut sein), um das richtige Ziel und die richtigen Mittel wählen zu können, was wiederum den guten Charakter verstärkt. Der gute Charakter, das heißt die tugendhaften Haltungen in ihrer Gesamtheit, werden in der Jugend durch Erziehung eingeübt und als Gewohnheiten zu einem ›Charakter‹ verfestigt. Wählt die Person im Laufe ihres Lebens die falschen Mittel oder Ziele, verdirbt sie ihren Charakter, was wiederum eine zukünftige gute Wahl erschwert.
Vergleich der KI mit dem Menschen
Um nun bestimmen zu können, ob die KI imstande ist, im Sinne der aristotelischen Ethik ethisch gut zu handeln, müssen wir die beim Menschen vorausgesetzte seelische Struktur in Bezug zu den Fähigkeiten der KI setzen. Oberflächlich betrachtet scheinen bei einem solchen Vergleich die Gemeinsamkeiten zu überwiegen:
Zum einen könnte man die KI als eine auf Leistung optimierte Version des menschlichen Gehirns betrachten: die KI besitzt die Fähigkeit, aus einer Masse von Daten Muster zu erkennen, wie eingangs erläutert, wobei sie durch induktive Ableitung aus vielen Fallbeispielen eine Art Theorie bildet. Damit ähnelt die KI dem Menschen, der mit Hilfe seiner theoretischen Vernunft (epistemonikon) Wissenschaft betreibt. (Meiner Meinung nach kann man ein solches Muster, beispielsweise das von einem ›Apfel‹, nicht als ›Idee vom Apfel‹ bezeichnen, da zu der Idee so viel mehr gehört als nur das äußere Erscheinungsbild. Platon würde hier schon einen Gegensatz zum Menschen sehen, der als Philosoph Einsicht in die Idee von einer Sache haben kann.)
Zum anderen vermag die KI ihre gespeicherten Muster auch in die Praxis umzusetzen: entweder im Treffen von (Handlungs-)Entscheidungen nach solch erlernten Standardsituationen oder in der Herstellung von Dingen nach solcher Vorlage. Diese Tätigkeiten der KI sind beim Menschen vergleichbar mit der Anwendung seiner praktischen Vernunft (phronesis), wenn er sich zum Beispiel im Straßenverkehr regelkonform verhält oder als Maler eine Vorstellung von einem Apfel auf Papier abbildet.
Wie steht es um das Strebevermögen (orektikon), das Gefühle (pathos), Bewegungsfähigkeit (kinesis) und Wahrnehmung (aisthesis) umfasst? Beim Menschen ist das Strebevermögen an einen biologischen Körper mit Organen, einem Nervensystem und chemischen Botenstoffen gebunden, und dieses reagiert oft auf Signale aus dem völlig unbewussten phytikon, dessen Vorhandensein ebenfalls an einen solchen Körper gekoppelt ist. Beim jetzigen Stand der Technik fehlt der KI die emotionale Ebene (pathos) wie Schmerz, Lust, Ärger, Eifersucht oder Begierde. Was die KI jedoch, je nach Konstruktion, durchaus an Strebevermögen besitzen könnte ist 1) die Fähigkeit sich zu bewegen sowie 2) die Wahrnehmung ihrer Umwelt.
Beispielsweise kann eine das Auto steuernde KI sich mit Hilfe des Motors und der Räder fortbewegen (kinesis) und mit Hilfe von Sensoren, Mikrophonen und Lautsprechern kann sie ›sehen‹, ›hören‹ und ›sprechen‹ (aisthesis). Erweitert man also die ursprüngliche KI (als reine Recheneinheit) um technische Hilfsmittel, dann kann die KI physisch mit der Umwelt in Interaktion treten und auf Reize aus der Umwelt reagieren. Als Verkehrsteilnehmerin beispielsweise erkennt die KI mit Hilfe ihrer Sensoren nicht nur die Fahrbahn, sondern auch andere Verkehrsteilnehmer – es entsteht ein äußerer Anreiz zu handeln – und die KI reagiert auf Standardsituationen mit Hilfe ihrer phronesis autonom adäquat und korrekt.
Möglicherwiese findet man auch ein Analogon zum phytikon-Teil der menschlichen Seele in dem Bedarf der KI an Strom als Energiequelle. Bei heutigem Stand der Technik jedoch spürt die KI weder so etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb noch auch nur ein rein physisches Bedürfnis nach Strom. Möglicherweise sind hier Handlungsimpulse antrainierbar oder könnten auf der nicht-körperlichen (Vernunft-)Ebene der KI simuliert werden. Seien wir großzügig und gestehen wir der KI eine Art von phytikon zu und die Fähigkeit zur aisthesis sowie zur kinesis als Teile des Strebevermögens. Für die Frage nach dem ethisch guten Handeln jedoch spielen sie eine untergeordnete Rolle.
Dass der KI eine Gefühlsebene (pathos) fehlt, ist historisch bedingt: die ersten Konstrukteure der KI wollten eine reine Rechenmaschine mit der Befähigung, auf Basis riesiger Datenmengen schnelle Entscheidungen zu treffen, natürlich ohne emotionale Färbung, um dadurch dem überforderten Menschen zu assistieren. Das Fehlen des pathos impliziert auch ein Fehlen eines inneren Handlungsantriebs: beim Menschen dienen viele Aktivitäten der Beseitigung von schmerzhaften Mangelzuständen oder der Erlangung von Lustgefühlen. Gerade viele Künstler
, Literaten und Musiker erfahren im eigenen Gefühlserleben ihre Motivation für ihr kreatives Schaffen. Und ebenso ›antwortet‹ der ethisch gute Mensch als soziales Wesen autonom auf soziale Krisen und politische Erfordernisse. Eine KI wird also wohl kaum ohne menschlichen Befehl ein Musikstück komponieren – und dann fehlt dem Produkt wohl die emotionale Komponente, da die KI keinen pathos besitzt. Auch würde die KI wohl nie aus eigener Motivation heraus eine institutionelle Lösung für ein kriselndes politisches System entwerfen. In diesem Sinne verharrt die KI auf dem Zustand eines Sklaven, der immer auf den Befehl seines Herrn als einen ersten Handlungsanstoß wartet (›prompt‹).
Aber genügt die Beobachtung, dass die KI letztlich über keine eigene Motivation verfügt, um zu folgern, sie könne nicht ethisch handeln? Könnte man nicht die lernfähige KI mit Fallbeispielen ethisch guten Handelns füttern, und so, ganz im Sinne des Aristoteles, wie einem Menschenkind einen ethischen Kompass für das Erwachsenenleben anerziehen?
Das Defizit der KI
Der entscheidende Punkt in den akademischen Diskussionen über die Möglichkeiten der KI auf dem Bereich der Ethik wird oft übersehen: die KI lebt nicht. Nicht nur verfügt die KI über keinen biologischen Körper mit seiner Sensorik, seiner Organik etc. – das alleine ließe sich möglicherweise durch technische Weiterentwicklungen ergänzen –, vielmehr ist die KI schlichtweg nicht lebendig: sie wird nicht geboren und sie stirbt nicht. Die KI lebt nicht, sie hat kein Leben, das einen Anfang und ein Ende besitzt.
»Die KI ist schlichtweg nicht lebendig: sie wird nicht geboren und sie stirbt nicht. Die KI lebt nicht, sie hat kein Leben, das einen Anfang und ein Ende besitzt.«
Die Frage nach dem Leben-habend (bion echon), ist eine entscheidende: das ethisch gute Handeln ist kein Selbstzweck! Aristoteles begründet seine Ethik auch nicht wie Immanuel Kant in seinem kategorischen Imperativ, dass der Mensch in einer Gemeinschaft lebt und daher so handeln solle, dass seine Handlungsmaxime einen Allgemeingültigkeitsanspruch haben könnte. Nach Aristoteles ist der einzige Sinn und Zweck ethischen Handelns (eupraxia) das glückselige Leben, die eudaimonia. Dabei erkennt der ethisch gute Mensch, dass die eudaimonia das einzige wahre Lebensziel ist, das wirklich glücklich machen kann – es ist der einzig wahre Selbst- und Endzweck. Alternative Lebensziele wie Reichtum oder Macht, Lust oder Ehre, so Aristoteles, sind Ersatzbefriedigungen und schaffen lediglich eine Illusion des Glücklichseins.
Dabei ist das, was ein wahrhaft glückliches Leben ausmacht, nicht beliebig, sondern wiederum durch das Menschsein selbst determiniert: es ist also nicht so, dass einer beschlösse, er sei dann glücklich, wenn er beispielsweise möglichst reich oder berühmt würde. Nach Aristoteles kann dieses höchste Glück nur dadurch erreicht werden, dass der Mensch sein ergon (wörtl. ›Werk‹), also seine eigentliche Bestimmung als Mensch, erkennt und dieses in seinem Leben verwirklicht.
Dieses ergon ist verknüpft mit dem Seelenbestandteil, der den Menschen von den anderen (organischen) Lebewesen unterscheidet: das ist nach Aristoteles die Vernunft, und damit seine Fähigkeit zur Gutheit beziehungsweise Tugendhaftigkeit, die ja zirkulär mit der praktischen Vernunft, der Zielsetzung im Leben und den vergangenen Handlungsentscheidungen verknüpft ist (s.o.). Ein glückliches beziehungsweise zufriedenes Leben zu führen, ist dabei für Aristoteles eine innere Motivation eines jeden Menschen: jeder Mensch strebe danach, wahrhaft glücklich zu sein. Diese Behauptung stellt für den Philosophen eine unverbrüchliche Wahrheit dar. Wie ein Bogenschütze, so Aristoteles, visiere der Mensch zu Beginn seines Erwachsenendaseins die Eudaimonie an, und schieße dann den Pfeil ab – die Flugbahn ist Metapher für den Verlauf des Lebens, durchaus mit gewissen Aufs und Abs, aber immer das große Ziel im Visier. Daher sind alle (guten) Taten und Handlungen lediglich Mittel zum Zweck: Dieses Endziel, die eudaimonia, bestimmt dann letztlich unsere Lebensführung das ganze Leben lang.
»Der ›Ethik-Kompass‹ für die Mittelwahl wiederum kann nur funktionieren, wenn er auf die eudaimonia, das (ethisch) höchste und beste Ziel, geeicht ist.«
Da die KI nicht Leben-habend (bion echon) ist und nicht lebt, hat sie auch kein Lebensziel. Daher kann sie auch nicht nach einem glücklichen Leben streben. So fehlt es der KI am Grundlegendesten für ein ethisches Handeln. Für eine KI schwebt das Ethische immer in einem philosophisch leeren Raum – das Ethische ist nicht auf einer höheren Ebene verankert, erfüllt schlichtweg keinen (höheren) Zweck. Für den Menschen jedoch ist ethisches Handeln nicht zweckfrei, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, und das (gute) Lebensziel bestimmt die guten Zwischenziele sowie die guten Mittel. Das ethische Handeln findet damit zugleich auf zwei Ebenen statt: der Ebene des Lebensziels sowie der Ebene der Zwischenziele und ihrer jeweiligen Mittel, wobei diese wiederum, absolut gesehen, ebenfalls ethisch gut sein müssen. Der ›Ethik-Kompass‹ für die Mittelwahl wiederum kann nur funktionieren, wenn er auf die eudaimonia, das (ethisch) höchste und beste Ziel, geeicht ist.
Erhellend ist auch der Hinweis des Aristoteles über die mangelnde Tugendhaftigkeit von Tieren und von ›Barbaren‹: Tiere handeln nicht ethisch, weil sie keine Vernunft wie der Mensch besitzen – sie handeln aus Instinkt oder wie sie es von ihren Elterntieren gelernt hatten, aber sie wägen nicht bewusst das Pro und Contra ihrer Handlungen ab. Tiere handeln also deterministisch nach einem gegebenen Schema, ähnlich wie klassische PCs, die vom Informatiker bis ins kleinste Detail vorprogrammiert worden sind.
›Barbaren‹1Der Begriff ist hier philosophisch zu verstehen, nicht politisch. Auf der politischen Ebene gibt es natürlich ziemlich oft den Fall, dass Menschen anderen Glaubens, einer anderen Ethnie oder eines anderen Geschlechts als ›Barbaren‹ bezeichnet werden und ihnen damit eine Ethik abgesprochen wird, um sie zu unterdrücken. Diese Menschen haben aber sehr wohl eine Ethik. Auf der philosophischen Ebene verwenden wir hier den Terminus von Aristoteles, um seine Ethik-Lehre wiederzugeben. wiederum sind zwar ebenfalls Menschen, aber ihre phronesis wurde nicht mittels Erziehung gefördert und geformt. Daher fehlt den Barbaren sowohl ein philosophisches Konzept vom guten Leben (diese sind dann von ihren unreflektierten Trieben dominiert und wählen als Lebensziele beispielsweise den Reichtum oder die Macht) noch besitzen sie einen inneren Ethik-Kompass, der sie ›gut‹ von ›richtig‹ zu unterscheiden befähigt. Selbst dann, wenn ein Barbar als mutig im Kampfe erscheint (Tapferkeit ist eine Tugend), so Aristoteles, dann ist er nicht wahrhaft mutig, weil sein Mut auf keiner bewussten Entscheidung im Sinne der Zielerreichung eines guten Lebens mit guten Mitteln basiert. In der Spätantike unterschied der Römer auch gerne zwischen Barbaren und Halbbarbaren, die sich als gut integrierte Mitbürger das Mäntelchen der römischen Zivilisation übergeworfen hatten, aber eben über keinen ›richtigen‹ Ethik-Kompass verfügten und die ›falschen‹ Lebensziele verfolgten. Hier könnten wir eine Parallele zur KI ziehen: sie besitzt ebenfalls die Anlage zur phronesis und kann zu einem gewissen Grad auch für Standardsituationen trainiert werden, aber letztlich fehlt es ihr an philosophischer Einsicht, sich das einzige wertvolle und beste Lebensziel zu setzen. Ethik ist eine Haltung bzw. Lebenseinstellung, und Entscheidungen auf Vernunftbasis treffen zu können ist lediglich ein Teil davon. Aus Sicht der Antike könnte man die KI daher auch als ›Barbar‹ oder ›Halb-Barbar‹ bezeichnen.
Die trans-logische Intuition als spiritueller Kompass
Es gibt einen letzten wichtigen Unterschied zwischen Menschen und KI: die Intuition (nous). Aristoteles schreibt, dass viele Menschen den nous für von göttlicher Herkunft oder zumindest für etwas Göttliches hielten. Aristoteles ordnet die Intuition dem Bereich der theoretischen Vernunft (epistemonikon) zu. Während die Wissenschaftler lediglich vom wissenschaftlichen Teil der theoretischen Vernunft Gebrauch machen (logisch argumentieren, Schlüsse ziehen etc.), so bedient sich der Philosoph zusätzlich seiner Intuition und gelangt so zur Weisheit. Der nous ermöglicht es, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Wissenschaftsgebieten zu sehen, das Überspannende zu erkennen, die Meta-Ebene zu betrachten. Die Intuition als eine Form von trans-logischer Einsicht ist nicht-intellektualer Natur, und als eine Art von ›Bauch-Hirn‹ auf geheimnisvolle Weise an den organischen Körper gebunden.
Intuition kann daher nicht per Mustererkennung von der KI erlernt werden. Da der nous nicht Teil der praktischen Vernunft ist, spielt er für die ethischen Überlegungen bei Aristoteles keine Rolle. Es stellt sich aber die Frage, ob er vielleicht doch manchmal eine Rolle spielt, und wenn ja, auf welche Weise?
In der Apologie (Verteidigungsschrift) nach Platon berichtet Sokrates, als er vor dem Gericht der Athener unter Todesanklage stand, von einem Daimon, der ihm bei wichtigen Entscheidungen Rat erteilt hätte. Für Sokrates hatte dieser Daimon eine eigene Persönlichkeit und erschien ihm als autonom handelndes Etwas, das ihn führte. Gemeinhin übersetzen die Gräzisten diesen Daimon, der etymologische Vorläufer des teuflischen Dämons, als ›Gewissen‹. Das Gewissen jedoch ist in der von Eltern und Lehrern geeichten praktischen Vernunft (phronesis) verortet, ähnlich wie bei Freud. Oder meinte Sokrates etwas völlig anderes, nämlich das, was wir heute ›Intuition‹ nennen würden, eine Instanz, die sich ohne willentliche Aufforderung als gefühlte Zweitmeinung zu Wort meldet? Dann wäre sie eine wichtige Ergänzung zum Ethik- Kompass, respektive zum Gewissen. Möglicherweise ist es die Intuition (nous), die in solchen Situationen weiterhilft, wo es keine eindeutig ›richtige‹ Entscheidung gibt, und jede Alternative, objektiv betrachtet, gleichermaßen schlecht ist.
Lassen Sie mich noch einen Schritt weiter gehen in meinen philosophischen Spekulationen: Möglicherweise ist die Intuition ein Organ, dass in einer Weise, die wir noch nicht verstehen, kosmische Schwingungen und Energiefelder im Universum spürt. Das Ergebnis dieses ›Fühlens‹ ist dann das ›gute‹ oder ›schlechte‹ Bauchgefühl des Handelnden: das Gefühl, dass eine Aktion in Einklang oder eben auch in Dissonanz mit den kosmischen Energien steht, und zwar unabhängig davon, wie unsere praktische Vernunft diese Handlung ethisch bewerten mag. Kommen wir zu dem Beispiel vom Anfang zurück: das Auto überfährt entweder den alten Mann oder die junge Frau. Im Gegensatz zu einer KI würde ein menschlicher Fahrzeugführer sich intuitiv entscheiden – wenige Bruchteile von Sekunden ließen kein rationales Abwägen eines Für und Wider zu. Und jedes Gericht der Welt würde den Fahrer von jeglicher Schuld freisprechen, da ja kein Tötungsvorsatz vorgelegen hätte – ein solcher Vorsatz setzt schließlich eine bewusst getroffene Entscheidung voraus.
Aber könnte in unserem Beispiel eine solche Entscheidung aus dem Bauchgefühl heraus dennoch ethisch gut sein? Aristoteles würde dies wohl verneinen, da ja die phronesis, der überlegende und abwägende Teil der Vernunft, nicht zum Zuge käme, und die zwei Handlungsoptionen nicht am Ethik-Kompass gemessen werden könnten, quasi mangels Zeit (wobei Aristoteles auch an eine gewisse Automatisierung durch Einübung glaubte). Alternativ kann man sich vorstellen, dass der Ethik-Kompass des Fahrers beide Optionen als gleichermaßen schlecht bewerten würde, da ja in jedem Fall ein Mensch zu Schaden käme. Meine Spekulation hingegen ist, dass in solchen ausweglosen Situationen die getroffene Entscheidung dennoch per Intuition im Einklang mit den Gesetzmäßigkeiten des Kosmos sein könnte, sofern das dafür notwendige Organ nicht blockiert ist. Auch die Intuition (nous) ist eine Fähigkeit der menschlichen Seele, die in den Menschen mehr oder weniger stark vorhanden ist, und die mittels Übung verfeinert oder auch durch schlechte Entscheidungen abgestumpft werden kann.
Die menschliche Intuition fungiert möglicherweise in solchen ethisch uneindeutigen Situationen als eine Kompassnadel in Ausrichtung auf den Kosmos als entscheidenden Wegweiser. Diese Vorstellung erinnert an die Philosophie Platons, der die Basis für das gerechte (ethische) Handeln des Menschen in der Ausrichtung seiner seelischen Struktur nach der göttlichen Struktur des Kosmos sah. Möglicherweise ist unsere menschliche Intuition eine solche Antenne ›nach oben‹, die überprüft, ob unsere Entscheidung mit der Grundgestimmtheit des Kosmos übereinstimmt oder nicht: dann wäre eine solche Schaden verursachende Tat dennoch vertretbar im Blicklicht der platonischen Ethik. In einem gewissen Sinne könnte man hier von Spiritualität sprechen: der spirituelle Mensch handelt auf natürliche Weise gerecht. Die Intuition prüft, ob der Mensch gemäß dem göttlichen Plan handelt oder nicht. Möglicherweise ist seine Handlung im engeren Sinne unethisch, aber im weiteren Sinne im Einklang mit den kosmischen Gesetzmäßigkeiten und damit dennoch (s)einem glücklichen Leben zuträglich.
Zusammenfassend schließe ich, dass die KI zu ethischen Handlungen nicht fähig ist: nicht deswegen, weil es ihr an Ratio mangeln würde – immerhin vermag sie induktiv Theorien zu entwickeln und diese adäquat anwenden –, sondern vor allem deswegen, weil sie nicht versteht, was das ist, ›Leben zu haben‹, und deswegen nicht nach einem guten und glücklichen Leben strebt, wie es der Mensch seiner Natur nach tut. Des Weiteren mangelt es der KI an Intuition als quasi sechstem Sinn, die beim Menschen auch in seiner Körperlichkeit begründet ist, so dass Handlungen auch nicht auf einer Meta-Ebene mit der Meta-Ethik des Kosmos abgeglichen werden können.
Dr. Justina Fischer studierte zuerst Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg, worauf nach ihrer Promotion über direkte Demokratie eine internationale Forscherkarriere startete. Im Zweitstudium machte sie ihren Master in Philosophie (Heidelberg, Mannheim, HFG Karlsruhe). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ästhetik, Metaphysik, Ethik und politischen Philosophie.
Artikel zum Thema
- Lea Loeschmann – »Körperloses Bewusstsein kann nicht sterben«
- Dr. Jens Heisterkamp – Die Seelen-Lehre Rudolf Steiners
- Sebastian Seeber – Die Seele bei Platon
- Ronald Engert – Ewiger Frieden durch Transzendenz
- Prof. Dr. Thomas Metzinger – Der Elefant und die Blinden
- Marcus Schmieke – Bewusstsein, Leben und Kohärenz
- »Gefühle, Geist, Epigenetik« mit Prof. Dr. Dr. Matthias Beck u.a. (Video Symposiumsgespräch)
- Dr. Stephan Krall – Vom Sein zum Bewusstsein
- Dipl. Chem. Werner Merker – Organisch Denken (Video-Interview)