Ronald Engert

Ronald Engert – Das personale Selbst

Vielfalt und Individualität in der jüdischen Mystik

In der jüdischen Mystik der Kabbala finden wir eine hermetische Entsprechung von Transzendenz und Immanenz, von Spirit und Materie. Das Verbindende dieser beiden Sphären ist das personale Selbst, unsere individuelle Seelenidentität, denn Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Die Vielfalt in der materiellen Welt hat ihren Ursprung in der Vielfalt der spirituellen Welt. Nur die Absicht ist in beiden Welten eine andere.

Mystik

»Oh schmeckt und seht, dass der Herr gut ist.« (Psalm 34, 9) Dieses Schmecken und Sehen, so vergeistigt es sein mag, ist es, worauf der Mystiker hinauswill. Es ist eine bestimmte fundamentale Erfahrung des eigenen Selbst, das in einen unmittelbaren Kontakt mit Gott oder der metaphysischen Realität tritt, die die Haltung des Mystikers bestimmt.

Das Wort ›Mystik‹ kommt vom Griechischen ›myein‹ = ›Augen oder Lippen schließen‹, um dadurch die äußere Wahrnehmung auszuschalten und zur inneren Erfahrung zu gelangen. Mystik bezeichnet die eigene persönliche spirituelle Erfahrung einer höheren Wirklichkeit, die allgemein als Gott, Göttin oder Göttliches verstanden wird. Diese Erfahrung ist nicht vorwiegend rational. Sie ist vor allem emotio-spirituell, kann sich aber in allen fünf Ebenen des Menschen manifestieren: Körper, Gefühle, Geist, Seele und Sexus. Auf allen diesen Gebieten kann eine mystische Erfahrung gemacht werden. Der Geist als rationale Instanz ist dabei nicht ausgeschlossen. Eine kontemplative Versenkung in Gedanken über bestimmte Aspekte der Wirklichkeit wie zum Beispiel die Zeit, das Selbst, die Ewigkeit, den Sinn oder die Auseinandersetzung mit heiligen Schriften kann eine Erleuchtungserfahrung hervorbringen. Vorwiegend geschieht eine solche Erfahrung aber durch Dienst, Meditation oder Zeremonien.

Erleuchtung

Erleuchtung ist definiert als eine ekstatische Erfahrung von innerem Frieden, vollkommenem Wissen und Glückseligkeit (Sanskrit: sat-cid-ananda). Im Wissensaspekt macht plötzlich alles Sinn, und es offenbaren sich innere Zusammenhänge. 

»Erleuchtung ist definiert als eine ekstatische Erfahrung von innerem Frieden, vollkommenem Wissen und Glückseligkeit.«

Man versteht, wie alles zusammenhängt, warum etwas Bestimmtes passiert oder warum ein Mensch sich auf eine bestimmte Weise verhält. In diesem Zustand lassen sich hervorragend Gespräche führen oder Bücher schreiben. Im Freudenaspekt treten emotionale Erlebnisse der Glückseligkeit oder Liebe auf. Meine eigenen Erfahrungen waren zum Beispiel intensive Gefühle der Liebe zu Göttin-Gott und zu allen Lebewesen, wobei ich gleichzeitig lachte und weinte.

»Die Seele ruht in sich, alles ist gut, es gibt nichts zu tun.«

Im Friedensaspekt machen wir eine subjektive Erfahrung des Einklangs mit uns selbst und einer großen Seelenruhe. In einer Meditation, in der es darum ging, 30 Minuten absolut bewegungslos zu bleiben, erfuhr ich es einmal folgendermaßen: »Die Seele ruht in sich, alles ist gut, es gibt nichts zu tun.« Das ist ein innerer Frieden, der, wenn man ihn erreicht hat, nie wieder zu enden braucht. In der Bhagavad-gita, der Heiligen Schrift der vedischen Kultur, wird die Seele als ewig, allglückselig und voller Wissen beschrieben. Sie befindet sich in einem Zustand der inneren Ruhe, der zeitlich unbegrenzt ist. Es gibt keinen Grund, diesen Zustand zu verändern. Von diesem Zustand aus offenbart sich das universale Wissen.

Die zwei Wege

Die mystische Erfahrung teilt sich im Wesentlichen in zwei große Wege auf: die Unpersönlichkeitsphilosophie und die Persönlichkeitsphilosophie. In der Unpersönlichkeitsphilosophie erleben wir die Unio Mystica, die Vereinigung mit dem Göttlichen, die eigene getrennte Personalität löst sich auf (advaita im Indischen). In der Persönlichkeitsphilosophie bleibt der Mystiker als Person von Gott verschieden und sieht, hört oder schmeckt Gott (bhakti in der indischen Tradition).

Der größte Kabbala-Forscher der Neuzeit, Gershom Scholem, schreibt dazu: »Die allgemeine Religionsgeschichte kennt dieses Fundamental-Erlebnis unter dem Namen der unio mystica, der mystischen Vereinigung mit Gott. Aber auch dies ist nur ein Wort. Gibt es doch viele Mystiker, Juden und Christen, die ihre ekstatische Erfahrung, den unendlichen Aufschwung der Seele zur höchsten Stufe, keineswegs als eine Vereinigung mit Gott dargestellt haben. Um ein Beispiel zu bringen: Die ältesten jüdischen Mystiker, die in der talmudischen Zeit und später eine organisierte Gruppe bildeten, beschreiben ihre Erfahrung in Bildern, die ihrem Anschauungskreis gemäß waren. Sie sehen in ihr einen Aufstieg der Seele bis vor den Gottes Thron, wo ihr eine ekstatische Anschauung der Majestät Gottes und der Geheimnisse des himmlischen Thrones vermittelt wurden.« (Scholem, S. 6)

Die Mystik war ursprünglich den Einzelreligionen zugeordnet. So gibt es eine Mystik des Christentums, Mystik des Islam, Mystik des Judentums. In heutiger Zeit wird aber auch von einer konfessionslosen Mystik gesprochen, die von Religion im konventionellen Sinne unterschieden wird. Im Neo-Buddhismus wird bisweilen sogar von einer atheistischen Spiritualität gesprochen. Insgesamt ist die mystische Erfahrung ein Bewusstseinszustand, der unabhängig von historischen Religionen erreichbar ist, aber gleichwohl durch eine tradierte Praxis, wie sie den gewordenen Religionen innewohnt, erleichtert werden kann.

Einheit, Dualität, Trinität

Häufiges Motiv der mystischen Erfahrung ist das Nichts, das aber oft auch mit dem Alles gleichgesetzt wird. So erfolgt die Beschreibung mystischer Erfahrungen und die Erklärung der mystischen Realität oft mit paradoxen Begriffspaaren, da sie über den rationalen Verstand hinausgeht. 

»Der Anspruch der Mystik ist es, die Realität zu beschreiben, und diese passt mitunter nicht in die einfache duale Logik.«

Der Anspruch der Mystik ist es, die Realität zu beschreiben, und diese passt mitunter nicht in die einfache duale Logik. Schon der Satz des Aristoteles »tertium non datur« (»ein Drittes ist nicht gegeben« – Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten) wird durch die Mystik infrage gestellt. Unpersönliche Mystik stellt dem aristotelischen Dualismus den Monismus entgegen. Man möchte der dualen Spaltung eine non-duale Einheitsidee entgegenstellen, wodurch das Leiden beendet werden kann. Persönliche Mystik erweitert die Dualität in der Regel in eine Trinität: tertium datur. So finden wir im Christentum die Lehre von der Dreifaltigkeit, in den Veden die drei Aspekte Gottes: bhagavan, paramatma und brahman, und in der Kabbala ist die Struktur der Sefiroth dreiwertig.

Ronald Engert

Die Spezifikation der Kabbala besteht darin, dass hier das Unpersönliche in der Form des En-Sof – das Unendliche – mit dem persönlichen Gott, wie wir ihn aus der Bibel kennen und wie er sich in den Emanationen der Sefiroth zu erkennen gibt, kombiniert ist.

Obwohl Mystik von der persönlichen spirituellen Erfahrung des Einzelnen ausgeht, beansprucht sie das ursprüngliche Wissen der Menschheit überhaupt zu erfassen. Die Reinheit der inneren Erfahrung ist zugleich subjektiv wie objektiv. (vgl. Scholem, S. 23) Die Kabbala stellt im Sinne der Kabbalisten die verlorene Urtradition dar, wie sie zum Beginn der Menschheit bekannt war. Diese Menschheit stammt in diesem Kontext nicht vom Affen, sondern von Gott ab, und hat eine unmittelbare Beziehung zur göttlichen Sphäre als ihres Herkunftsortes.

Transzendenz und Immanenz

Der Philosoph Walter Benjamin, jüdischer Herkunft und mit tiefen mystischen Erfahrungen gesegnet, übertrug die jüdische Mystik auf die philosophische Erklärung des Diesseits. Er schlug eine Brücke von der Transzendenz zur Immanenz. Dadurch war es ihm möglich, in der Welt die gleichen Prinzipien zu entdecken, über die die Mystiker in der Beschreibung der spirituellen Welten berichten. Deshalb sprach er von der »profanen Erleuchtung« (vgl. Benjamin, GS II, S. 297). Die Erleuchtung, die ursprünglich dem Mystiker vorbehalten ist, der sich mit der Transzendenz beschäftigt, wird von Benjamin auf die irdische Welt ausgedehnt. Beide, Transzendenz und Immanenz, fallen zusammen und bilden eine einheitliche Realität. Benjamin überwindet damit die klassische Spaltung in Geist und Materie.

Die Zeit

Scholem spricht im Fortgang seiner Definition vom mystischen Augenblick: »Ist doch das Symbol (…) eine ›momentane Totalität‹, die in der Intuition, im mystischen Augenblick, als der dem Symbol gemäßen Zeitdimension erfasst wird« (Scholem, S. 30). Benjamin spricht vom »Jetzt der Erkennbarkeit« (Benjamin, GS I, S. 682 / GS VI, S. 46 u. a.). Es ist das gleiche Motiv. Die mystische Erkenntnis vollzieht sich in Echtzeit, »jede Minute sechzig Sekunden lang« (Benjamin, GS II, S. 310), nicht abgetrennt von der Zeit. Die mystische Intuition ist ein Moment des Erwachens, in dem sich die gegenwärtige Konstellation zeigt. Diese Konstellation kann nur dann einen Wahrheitsgehalt haben, wenn sie sich synchron zur historischen Zeit vollzieht, denn die Zeit ist ein Teil der Wahrheit. Wie Benjamin sagte: »Wahrheit ist […] an einen Zeitkern […] gebunden.« (Benjamin, GS V, S. 578). Die Zeit ist also ein Bindeglied zur spirituellen Sphäre. Einerseits geht es um das Jetzt, andererseits darf dieses nicht als statisch außerhalb der Zeit gesehen werden, sondern als dynamischer Prozess, in dem auch Vergangenheit und Zukunft gerettet sind.

Das Wirken Gottes

Auch Scholem spricht von dieser Kohärenz des Irdischen mit dem Transzendenten. Für die Kabbalisten sei die ganze Welt »ein solches corpus symbolicum: aus der Realität der Schöpfung heraus, ohne dass diese ihr Sein zu verleugnen oder zu annihilieren braucht, wird das unaussprechliche Geheimnis der Gottheit sichtbar« (Scholem, S. 30). Bei Scholem bzw. den Kabbalisten liegt die Betonung auf der Gottheit, bei Benjamin auf der Welt.

So schreibt Scholem am Ende seines ersten Kapitels: »Aber der Versuch, das hinter aller Wirklichkeit verborgene Leben zu entdecken und jenen Abgrund zu enthüllen, in dem die symbolische Natur alles Seienden sich offenbart – dieser Versuch ist für uns Heutige ebenso wichtig wie für jene alten Mystiker. Denn solange man Natur und Menschheit als Seine Schöpfung begreift – und das ist die unabdingbare Voraussetzung allen hochentwickelten religiösen Lebens –, solange wird die Frage nach dem verborgenen Leben des Transzendenten in solcher Schöpfung eines der wichtigsten Probleme menschlichen Denkens bleiben.« (ebd., S. 42)

Sepher Jezira Frontispiz
Sepher Jezira Frontispiz

Die wichtigste Frage ist also, wie Gott in unserem Leben wirkt. Sehr deutlich fokussiert sich Scholem hier auf die Schöpfung Gottes und das religiöse Leben. Aber es wird ebenso deutlich, dass es bei der Betrachtung der Natur und der Menschheit – also der Welt – um diese Verwobenheit mit der Transzendenz geht. Das Symbol ist nicht nur das Zeichen, das diese Inhalte ausdrückt, sondern auch das unmittelbare Sinnbild, dass das Unerkennbare mit dem Erkennbaren eine Einheit bildet. Dies ist eine der wichtigsten Fragen menschlichen Denkens, denn es ist kaum plausibel, dass eine Betrachtung untergeordneter Teilbereiche der Wirklichkeit zu einer schlüssigen Erklärung dieser Teile führen könnte, so als ob man einzelne Organe aus einem Gesamtorganismus isolieren und so ihre Funktionsweise erschöpfend erklären könnte. Es ist notwendig, vor aller Einzeluntersuchung den vollständigen Bezugsrahmen a priori zu erkennen. Bei Scholem und den Kabbalisten ist dieser Bezugsrahmen durch die Einbeziehung der Transzendenz gegeben.

Der lebendige Funke

Bei Benjamin ist es nicht grundsätzlich anders. Seine kleine Geschichte vom Schachautomaten mag dies verdeutlichen:

»Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« (Benjamin, GS I, S. 693)

Der kleine Mann im Innern des Tisches ist der Theologe, und die Puppe vor dem Tisch ist der materialistische Wissenschaftler. Das materialistisch-rationale Denken gleicht einer Maschine, die den kausalen Gesetzen der Physis und der Natur folgt. In ihr muss aber dieser lebendige Funke sein, der die Maschine bewegt. Dieser lebendige Funke ist das individuelle Selbst, unsere spirituelle Identität, die die materielle Welt bewohnt und beseelt.

In der Heiligen Schrift der vedischen Kultur, der Bhagavad-gita, Vers 18.61, wird der menschliche Körper als Yantra beschrieben, eine Maschine aus materieller Energie, in der der Atman, die Seele, sitzt und dieses Yantra bewegt. Um es mit einem ganz einfachen Bild zu verdeutlichen: Was wäre ein Auto ohne den Fahrer? ›Automobil‹ bedeutet ›selbst bewegend‹, aber ohne den lebendigen menschlichen Akteur fährt kein Auto und fliegt auch keine Boeing 747. Auch die Technik des autonomen Fahrens oder der Fernsteuerung wird daran nichts ändern. Sie verlagert die Notwendigkeit des lebenden Akteurs nur auf die nächste dahinter liegende Ebene. Vieles kann von der Maschine erledigt werden, aber nicht alles. Die aktuelle technische Entwicklung vermag den Anschein zu erwecken, dass der subjektive Faktor immer unwichtiger werden würde und schließlich ganz durch die Maschine ersetzbar wäre. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Der subjektive, menschliche Faktor wird durch diesen technischen Fortschritt seiner materiellen, mechanischen Anteile enthoben, die ohnehin maschinell und nicht Teil seiner subjektiven Lebendigkeit waren. Diese werden auf die intelligenten Maschinen ausgelagert. Aber was dann in umso reinerer Essenz zurückbleibt, ist dasjenige, was nicht auf die Materialität reduziert werden kann: unser spiritueller Anteil, unsere wahre Subjektivität als lebendige, immaterielle, spirituelle Seelen, unsere wahre Identität, unser mystischer Anteil.

Falsche Identifikation

Der Verlust unserer materiellen Identität macht Angst, aber genau dieser materielle Identitätsanteil von uns ist die falsche Identifikation, die Illusion, die Maya, das flackerhafte materielle Trugbild, das uns als lebende Subjekte nicht gerecht wird. Mit der Einbeziehung unseres transzendenten Anteils kommen wir somit zu einem vollständigeren Bild der Wirklichkeit und verstehen erst dann, an welchem Ort wir uns als Menschen überhaupt befinden.

Ronald Engert
Der Baum der Sephiroth, Kether: Krone, Binah: Verständnis, Chochmah: Weisheit, Geburah: Macht, Chesed: Liebe, Tifereth: Schönheit, Hod: Glanz, Nezach: Dauer, Jesod: Fundament, Malkuth: Reich (nach Daniel Matt, The Sohar)

Dies bedeutet aber nicht, dass sich mit Maya auch die Identität auflöst. Nur die falsche Identifizierung mit materiellen Bezeichnungen hört auf. Im Erwachen bzw. der Erleuchtung finden wir vielmehr unsere wahre Identität als spirituelle Seele, die in einem ewigen liebevollen Austausch mit Göttin-Gott steht. Die Entsprechung von Immanenz und Transzendenz, wie sie in der jüdischen Mystik verstanden wird, funktioniert nur, wenn die Individualität der Person, wie wir sie hier auf der Erde beobachten, auch in der Transzendenz gegeben ist. Sollte diese Individualität, die unsere menschliche Existenz prägt, im Jenseits nicht vorhanden sein, dann gäbe es keine Entsprechung und es wäre nicht möglich, unser diesseitiges Sein mit spirituellem Sinn und Bedeutung zu füllen.

Die Immanenz des Diesseits funktioniert im Grunde genauso wie die Transzendenz des Jenseits, nur die Absicht ist eine andere. Im materiellen Bewusstsein dient das Ich seinen selbstischen und egoistischen Interessen. Im transzendenten, spirituellen Bewusstsein dient das Selbst Gott und den anderen Seelen. Aber in beiden Fällen gibt es ein Ich und ein Dienen. Wenn der Bürger des Abends mit seinem Hund spazieren geht und dessen Kot in einem Plastiktütchen zum nächsten Abfalleimer trägt, so dient er diesem Hund. Dieses Dienen ist liebevolle Hingabe und das Urbedürfnis der Seele. Warum dient diese Seele aber dem Hund und nicht Gott? Im Dienst zu Gott kann weitaus mehr Freude als im Dienst zum Hund erreicht werden. Schon in der Bhagavad-gita, Vers 2.46, heißt es, dass alle Zwecke, die ein kleiner Brunnen erfüllt, auch ein großer See erfüllen kann. Ein reines Dienen ist jedoch rein selbstlos und für den Ego-Aspekt unseres Selbst nicht anziehend. Deswegen ziehen wir bisweilen den Dienst an materiellen Körpern dem Dienst an Gott vor. Dieser Dienst an materiellen Körpern kommt unseren eigenen materiellen Interessen nach Genuss und Kontrolle entgegen.

Anhängen an Gott

In der Kabbala wird laut Scholem immer wieder deutlich: »Nur in außerordentlich seltenen Fällen ist die Ekstase als wirkliche Vereinigung mit Gott empfunden worden, in der die menschliche Individualität sich vollständig verliert und ungeschieden in den Strom des Göttlichen eintaucht. Der jüdische Mystiker behält fast stets auch in der Ekstase einen Sinn für die Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf. Beide mögen sich berühren, ja es ist eben dieser Punkt der Berührung, den ihre Theorien zu determinieren suchen, aber es findet nicht ohne weiteres eine Identifikation zwischen ihnen statt.« (ebd., S. 132)

Was vielmehr in den Vordergrund tritt, ist »debekuth«, das Anhängen oder Kleben an Gott. »Die Errungenschaft der debekuth wird von vielen höher gestellt als irgendeine Form der Ekstase, die auf Auslöschung der Welt und des Selbst in der Vereinigung mit Gott ausgeht.« (ebd., S. 133)

»Aus dieser Berührung mit Gott entsteht eine unglaubliche Ekstase, bei der die Mystikerin oder der Mystiker sofort weiß, dass dies die wahre Bestimmung seiner Seele ist.«

Aus dieser Berührung mit Gott entsteht eine unglaubliche Ekstase, bei der die Mystikerin oder der Mystiker sofort weiß, dass dies die wahre Bestimmung seiner Seele ist. Sie fühlt sich glücklich, zufrieden, wissend und von einer göttlichen Liebe erfüllt. Plötzlich ergibt alles einen Sinn. Diese Erfahrung ist von existenzieller Natur.

Abraham Abulafia, ein jüdischer Mystiker aus dem 13. Jahrhundert, beschreibt es so: »Dein ganzer Körper wird in ein überaus starkes Zittern verfallen, sodass du schon denkst, dass du jedenfalls sterben wirst, weil deine Seele sich wegen des Übermaßes ihrer Freude über ihre Erkenntnis von deinem Körper trennen wird. Und sei in diesem Moment bereit, den Tod bewusst zu wählen, und dann wirst du wissen, dass du soweit gekommen bist, um den Einfluss aufnehmen zu können. Und wenn du dann den glorreichen Namen ehren willst, ihm mit dem Leben der Seele und des Körpers zu dienen, so verhülle dein Antlitz und fürchte dich auf Gott hinzusehen. Dann kehre zu den Anliegen des Körpers zurück, stehe auf und iss und trink ein wenig und erquicke dich an einem schönen Geruch und halte deinen Geist, der ausbrechen will, in seiner Hülle zurück bis zu einer anderen Zeit und freue dich über dein Los und wisse, dass Gott dich liebt.« (ebd., S. 149)

Ronald Engert

Diese Beziehung zwischen der Seele und Gott beruht auf ihrer Verschiedenheit. Die Ehrfurcht vor Gott ist gleichzeitig die große Liebe. Die Verhüllung des Antlitzes ist ein Zeichen der Ergriffenheit und der Intensität, denn die vollständige Begegnung mit Gott bedeutet den Tod der körperlichen Hülle. In diese soll der Aspirant jedoch zurückkehren, ein wenig essen und trinken, sich dadurch erden und in diesem Schwebezustand zwischen Materie und Spirit sich in der Verehrung der heiligen Namen Gottes betätigen. Es ist gerade diese stehende Spannung, die zum Tanz der Seelen wird.

Abulafia spricht von sieben Stufen der mystischen Erhebung. In der siebten und letzten Stufe erfolgt der vollständige Durchbruch, und das göttliche Leben strömt in die Seele ein. Scholem erklärt: »Aber er erstickt nun in der solcherart methodisch vorbereiteten Seele nicht mehr jedes persönliche Bewusstsein, er tötet die Seele nicht und verwirrt sie nicht, vielmehr steht der Mensch, der nun die siebente und höchste Stufe auf der Leiter des mystischen Aufstiegs erklommen hat, mit vollem Bewusstsein in der Welt des göttlichen Lichtes, das ihn erleuchtet und heilt. Dies ist die Stufe der Prophetie, in der die unaussprechbaren Geheimnisse von Gottes Namen und die ganze Herrlichkeit seines Reiches sich erschließen. Von ihnen gibt der Prophet dann in Worten Kunde, die von der Größe Gottes zeugen und einen Abglanz von ihr in sich tragen.« (ebd., S. 150)

Es ist gerade dieses persönliche Bewusstsein, dass den Adepten zum Propheten macht, der von Gott berichten kann. Bei geeigneter Vorbereitung muss man seine Individualität nicht aufgeben. Die sogenannte Spaltung, die von non-dualen Mystikern als Quelle des Leids verstanden wird, wird hier zur Quelle der innigen Verbindung, der Erleuchtung und Heilung. Auch wenn man die Größe Gottes nicht mit menschlichen Maßstäben beschreiben kann, so ist es doch möglich, sich ihr in menschlichen Worten anzunähern, wie Walter Benjamin zum Begriff der Offenbarung sagte: »Je tiefer, d. h. je existenter und wirklicher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener« ist er, sodass »das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige ist.« (Benjamin, GS II, S. 146)

Nach dem Bilde Gottes

»Das Göttliche Selbst«, schreibt Arthur Green im Vorwort zur Pritzker-Edition des Sohar, »wie es in der Kabbala wahrgenommen wird, ist die Interaktion zwischen diesen sieben Kräften oder inneren Richtungen. In gleicher Weise ist auch jede menschliche Person Gottes Abbild in der Welt. Die heilige Struktur des inneren Lebens von Gott wird im Sohar auch das ›Mysterium des Glaubens‹ genannt und wird von den Kabbalisten durch die Jahrhunderte hindurch in zahllosen Bildern immer wieder verfeinert. ›Gott‹ ist in anderen Worten das erste Wesen, das aus der göttlichen Gebärmutter entspringt, das urerste ›Wesen‹, das Form annimmt in dem Maße, wie die unendlichen Energien des Ein Sof beginnen sich zu verbinden.« (Matt, Sohar, XLVIII)

Ronald Engert

Die sieben Kräfte sind hier die vierte bis zehnte Sefiroth, die aus der dritten Sefira, Binah, hervorgehen, die als die Gebärmutter bzw. das weibliche Prinzip verstanden wird. Keter, die erste Sefira, ist die erste Regung einer Absicht innerhalb des Ein Sof, des Unendlichen. Keter ist die Krone, die Personifikation einer königlichen Identität, die höchste Manifestation des spirituellen Körpers, sowohl Gottes als auch der Seele. Keter bedeutet auch Kreis. Im Sefer Jezira, einer mystischen Schrift des Judentums aus dem 2. Jahrhundert, werden die Sefiroth als große Kreise beschrieben, »deren Ende in ihrem Anfang und deren Beginn in ihrem Ende eingebettet ist« (ebd., XLVII, vgl. Sepher Jezira 2:4). So schließt also Keter, als höchste Sefira, auch mit Malkuth, der untersten Sefira, einen Kreis, wo oben und unten gleich sind. Keter steht für Gott und Malkuth für die Shekhina, die Göttin. Auf diese Weise bilden die zehn Sefiroth auch die heilige Hochzeit von Göttin und Gott, Hieros Gamos. Aus Keter emergiert Chochmah, die zweite Sefira, »der erste und feinste Punkt einer realen Existenz« (ebd., XLVII). Chochmah ist die heilige Weisheit, die als Gegenstück zur weiblichen Binah männlich ist. Dies ist die erste Triade. Die zweite Triade beginnt wieder mit Gott, und faltet sich in die sieben weiteren Sefiroth aus.

Göttin-Gott sind multidimensional differenziert, und die Sefiroth sind die Beschreibungen bzw. Namen der ursprünglichen göttlichen Kräfte bzw. Ideen, die analog auch in unserer menschlichen Realität wirken. Transzendenz und Immanenz entsprechen sich im hermetischen Prinzip.

Hermetik und Trinität

Die Hermetik war von jeher ein dritter Weg zwischen der Theologie und der Wissenschaft. Während die Theologie sich nur dem Jenseits bzw. der Transzendenz zuwendet, nur diese als wirklich und wahrhaftig akzeptiert und das irdische Dasein als Illusion oder Jammertal abtut, dreht die Wissenschaft dieses Verhältnis genau um, denn für sie ist nur das Diesseits, das materiell Fassbare und Messbare real, wohingegen metaphysische und spirituelle Ebenen als frommer Wunsch oder Einbildung zurückgewiesen werden.

Ronald Engert

Die Hermetik sieht diese hermetische, d. h. im Innersten verschlossene und von außen nicht erkennbare, Entsprechung zwischen oben und unten, innen und außen, Makrokosmos und Mikrokosmos, spirituell und materiell. Das hermetische Zentrum ist der dritte ontologische Wert, der Mesokosmos, die Mitte, das Lebendige. So wird die Dreiwertigkeit, die Trinität oder die terziale Struktur zu einer Überwindung des Dualismus und zur Lösung des Problems der Wirklichkeit, bei der das individuelle Selbst nicht preisgegeben werden muss.

Auch in der vedischen Bhaktivedanta-Tradition bleibt der Atman als individuelles Selbst erhalten und steht in einer spirituellen, liebevollen Beziehung mit Göttin-Gott. Das Bedürfnis der Seele nach Liebe und Dienst begründet sich daraus, dass sie eine individuelle personale Entität mit Gefühlen, Wünschen, Eigenschaften, Handlungen, Form und Namen ist. Die Befreiung aus dem Leiden erfolgt durch die Verwirklichung unserer Seele, die Transformation des Egos in das Höhere Selbst, das unsere wahre Identität ist.

Literatur:

  • Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften (GS) (1972ff.), Band I-VII (14 Teilbände), unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main
  • Scholem, Gershom (1980): Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main
  • The Zohar. Pritzker Edition (2004), Volume One, Translation and Commentary by Daniel Matt, Stanford
Ronald Engert

Zum Autor

Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–23 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2023 Masterabschluss zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« (2012) und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts« (2 Bände, 2014 und 2015).  Blog: www.ronaldengert.com / Zeitschrift: www.tattva.de

Bildnachweis: © Adobe Photostock

FOOTNOTES

Vgl. Eugen Doubrawa: »Die Politik des Ich-Du. Der Anarchist Martin Buber, Gustav Landauer, Gestalttherapie«, in: Tattva Viveka 12, Darmstadt 1999. Sowie Dr. Silvia Richter: »Liebe in der jüdischen Philosophie. Die Entdeckung des Du«, in: Tattva Viveka 79, Berlin 2019

Vgl. Ronald Engert: »Das Eigene und das Fremde. Die Philosophie des Emmanuel Levinas«, in: Tattva Viveka 10, Darmstadt 1998. Sowie Ronald Engert: »Der Andere. Erkenntnis jenseits des Ich«, in: Tattva Viveka 66, Berlin 2016.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen