Zwei Frauen teilen ihre Erlebnisse
Dagmar Margotsdotter und Uscha Madeisky haben bereits mehrere Matriarchate besucht und deren »anderes«, das Mütterliche und Fürsorgliche ins Zentrum stellende Gesellschafts- und Familiengefüge selbst erleben dürfen. Diese Erfahrungen veränderten nachhaltig ihr Leben und ihre Sicht auf unser Mensch-Sein, und sie teilten diese auf lebhafte und berührende Weise mit der Redaktion im folgenden Gespräch.
Tattva Viveka: Ich begrüße herzlich Dagmar und Uscha. Wir unterhalten uns heute über die vielfältigen Erfahrungen, die ihr in matriarchalen Gesellschaften sammeln durftet, inwiefern sich Matriarchate von unserer patriarchal geprägten Gesellschaft unterscheiden und was wir von ihnen lernen können. Im Folgenden möchte ich euch kurz vorstellen: Dagmar ist von Haus aus Diplom-Sozialpädagogin und Autorin für Frauenschicksale. Du hast lange Zeit an der Akademie Alma Mater gelehrt und die Schule MatriCon – Internationale Schule für Matriarchales Bewusstsein gegründet. Uscha hat ihre zweite Sozialisation bei matriarchalen Kulturen erlebt, darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Von Beruf bist du Filmemacherin. Seit den 1990er-Jahren produzierst du Dokumentarfilme, die sich mit matriarchalen Gesellschaften und ihren Lebensweisen befassen. Für diese Filme hast du zahlreiche Preise erhalten.
Wie seid ihr mit matriarchalen Kulturen und ihrer für uns anderen Lebensweise in Berührung gekommen, obwohl ihr beide aus Deutschland stammt?
Uscha: Ich war noch nie wirklich glücklich damit, wie unser Leben hier in unserer Gesellschaft möglich ist, denn sie ist sehr kalt, dominant, in feste Bahnen gelenkt. Bereits als Kind war ich nicht glücklich mit dem, was für uns in der Gesellschaft übrig blieb. Als ich anfing, Filme zu machen, wählte ich Themen wie ganzheitliches Denken in der Medizin oder wie wir mit Kindern anders zusammenleben können, als es in unserer Gesellschaft üblich ist. Ich habe versucht, möglichst viele Anregungen in meine Themen mit einzubringen. Erst in den 1990er-Jahren – ich fand, dass ich bis dahin bereits viel Gutes getan hatte und viele Anregungen für unsere Welt geliefert hatte, die ich für begrenzt hielt mit vielen unglücklichen Menschen um uns herum – begegnete ich Gesellschaften, die matriarchal leben.
Dies fand ich zufälligerweise auf einer Reise zu einem untergegangenen Matriarchat heraus, die ich mit der Kamera begleitet hatte. Da erfuhr ich, dass diese Menschen heute auf der Welt so leben. Das machte mich etwas unglücklich, denn ich war Anfang 40 und fragte mich, wieso mir das nicht bereits früher begegnet war. Da ich das Filmhandwerk sehr gut beherrschte, beschloss ich, dorthin zu reisen. Zuerst lernte ich die Khasi im Nordosten Indiens kennen. Das war mein erstes Matriarchat. Deswegen kann ich sagen, dass ich noch einmal neu sozialisiert worden bin. Es fühlte sich an, als wäre ich als Kind dort hingebracht worden. Ich konnte alles mit den Menschen dort erleben und miterleben, insbesondere wie anders sie leben, menschlicher. Pauschal gesagt wird dort menschlicher miteinander umgegangen. Das war mein Weg. Vorbereitet war ich insofern gut, als dass ich wusste: So wie in unseren Breitengraden gelebt wird, kann es nicht gut für die Menschheit sein.
Dagmar: Wenn du an deinem Vorgefühl anknüpfst, dann knüpfe ich auch dort an. Ich war in einer Ehe, hatte zwei Kinder geboren, später habe ich noch eins geboren. Sie kamen auf natürliche Weise auf die Welt, denn ich war schon immer der Technik und den Krankenhäusern gegenüber misstrauisch. Ich habe leidenschaftlich gern gestillt, habe meine Kinder nur im Tuch getragen. Auch bezüglich der Ernährung war ich biologisch orientiert. In mir schlummerte eine tiefe Sehnsucht nach Natürlichkeit, Pflanzenheilkunde, ich hatte auch Tiere. 1992 stieß ich in einem Frauenbuchladen in Hamburg auf ein Buch von Heide Göttner-Abendroth über das Matriarchat. Das weiß ich noch, da ich es in meinem Tagebuch notiert habe. In diesem Buch stand alles, wonach ich als von außen gesehen komische und verrückte Person schon immer lebte und was ich für wahr empfand. Natürlich konnte ich es nicht zu hundert Prozent umsetzen. Ich dachte, dass es normal sei, so zu leben. Dann versuchte ich, Kontakt zu knüpfen. Damals kannte ich Uscha noch nicht, wollte aber zu einem Matriarchat reisen. Das Erste, das mir begegnete, war das der Khasi. Dann wurde ich noch einmal schwanger und musste warten, bis mein Kind vier Jahre alt war. In der Zwischenzeit lernten Uscha und ich uns über die Filme, die Uscha gedreht hat, kennen. Ich bekniete Uscha, dass ich genau dahin mitkommen wollte, wo sie gefilmt hatte, weil dies natürlich ein anderes Erleben ist, als wenn du im Hotel bleibst. Schließlich reiste ich mit meinen drei Kindern im Jahr 2000 zusammen mit meiner Lieblingstante und blieb dort für ein paar Wochen. Diese Erfahrung veränderte unser Leben komplett und für immer.
TV: Inwiefern unterschied sich die matriarchale Gesellschaft von der Gesellschaft, die du kanntest?
Dagmar: Es gibt einen anderen Umgang zwischen den Geschlechtern als einen sexualisierten, das kannte ich nicht. Nachdem ich zurückgekehrt war, ging ich zuallererst zu meinen Brüdern. Ich sagte ihnen, dass ich mit ihnen sprechen möchte, denn mir war klar geworden, wie sehr ich sie liebte und welche Bedeutung ihnen in meinem Leben zukam.
»Es gibt einen anderen Umgang zwischen den Geschlechtern als einen sexualisierten, das kannte ich nicht.«
Ich wollte unsere Beziehung ausbauen und sie feiern. Mir war wichtig, dass wir uns den Wert unserer Beziehung bewusst machen. Sie kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus und wussten selbst nicht, was die Beziehung zwischen Bruder und Schwester bedeutete. Von da an arbeiteten wir bewusst an ihr und bauten sie aus, später holten wir unsere Mutter dazu. Dadurch kam ein Entstehungsprozess in Gang, der uns alle sehr bereichert hat, ein Bewusstseinsprozess.
Uscha: Ähnliches erlebte auch ich. Bevor ich dorthin reiste, hatten ein paar Freunde bereits zu mir gesagt, dass ich sicherlich unter sozialer Kontrolle stehen würde. In einer Großfamilie, in einem Clan sei man nie allein, und sie würden mich beobachten. Die Freunde fragten mich, wo meine Individualität bleiben würde. Das war eines der großen Vorurteile, Matriarchate betreffend. Ich musste viele Vorurteile geradezu von mir abwerfen, denn was meine Freunde im Vorhinein als negativ gesehen hatten, erwies sich als das genaue Gegenteil. Man muss es sich als ein umgedrehtes Lebensgefühl vorstellen. Du bist ständig behütet, sie denken an dich und mit dir mit und sie wollen, dass es dir gut geht. Dort gibt es niemanden, der dir die Dinge vermiesen will – wie hier bei uns mit dem Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken, bei dem die Sachen, die du vorhast, erst einmal runtergeputzt werden.
»Eine gegenseitige Unterstützung herrscht bei allem, was der einzelne Mensch braucht, seien es Kinder oder Eltern. Diese Unterstützung schwebte über und zwischen allem.«
Dort war es immer wohlwollend, entgegenkommend. Nirgendwo konnte ich meine Individualität so ausleben wie dort. Das muss man sich wirklich mal vorstellen. Dort hatte ich immer die guten Wünsche der anderen hinter mir. Sie waren da, ihr Bewusstsein begleitete mich oder sie begleiteten mich in der Realität. Ich spürte ihr Wohlwollen, konnte dort jeder Sache nachgehen – was wirklich toll war – und konnte beobachten, wie sie miteinander umgingen. Jetzt könnte man meinen, dass sie sich in gewissen Angelegenheiten gegenseitig regulieren oder die Mutter dominiert. Aber auch in diesen Punkten achtet jeder, der dort ist und zusammenlebt, zunächst darauf, was der andere braucht und will, wie es ihm geht. Das wird hingenommen und liebevoll unterstützt. Eine gegenseitige Unterstützung herrscht bei allem, was der einzelne Mensch braucht, seien es Kinder oder Eltern. Diese Unterstützung schwebte über und zwischen allem.
Dagmar: Dasselbe erzählte mir Uscha, bevor ich dorthin gefahren bin. Sie sagte, ich solle daran denken, dass matriarchal lebenden Menschen gern daran teilhaben, wenn ich etwas unternehmen wolle. Für sie sei das eine Bereicherung und sie begleiten einen gern. Wir denken eher, dass man dies oder jenes mal allein machen sollte, doch diese Haltung kennen sie nicht.
Uscha: Einmal ging ich, weil ich einen Rückfall in meine ursprüngliche Sozialisation erlitten hatte, allein ins Kino. Sie suchten mich! Es war nicht nett von mir, sie nicht mitgenommen zu haben, aber ich wollte ein Gefühl von Zuhause haben, denn diese Welt war sehr neu für mich. Nur einmal wollte ich mich losreißen.
TV: In der Vorbereitung auf die Interviews mit Frau Göttner-Abendroth und euch kam in mir das Vorurteil auf, dass es einengend sein könnte, mit der eigenen Familie zusammenzuleben. Allein die Vorstellung kann beengend sein. Dieses eigene unreflektierte Erleben überträgt man leider zum Teil auf andere gesellschaftliche Strukturen. Man denkt zudem, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Einzelnen nicht wahrgenommen werden, wenn man in einer Großfamilie lebt. Aber das sind vielmehr unsere Vorurteile.
Dagmar: Dort ist das Gegenteil der Fall. Im Matriarchat lebende Menschen machen sich keine Vorstellung von dir oder ihren eigenen Kindern.
Uscha: Weder beurteilen sie dich, noch ordnen sie dich ein. Sie akzeptieren dich, so wie sie die Natur annehmen.
Dagmar: Sie sehen dir beim Wachsen oder beim Dasein zu und warten ab, was kommen wird. Beispielsweise würde dir beim Mithelfen niemand sagen: »Hier ist ein Besen, fege mal.« Nein, du wirst in Ruhe gelassen, bis in dir der Impuls aufkommt, dass du dies gern machen möchtest. Wenn du bereits mehrmals gern gefegt hast, wird dir der Besen in die Nähe gestellt, weil sie wissen, dass du es gern tust. Aber keiner kommt auf dich zu, legt dir ein Messer in die Hand und sagt, dass du jetzt Kartoffeln schälen sollst. Nein, sie sitzen und schälen Kartoffeln, und man sitzt nicht gern lange dabei und beteiligt sich nicht. Es ist tatsächlich andersrum. Sie üben keinen Druck aus. Deswegen kann man sich nicht eingeengt fühlen. Für dieses Gefühl gibt es keinen Grund. Man fühlt sich dort wie in einer seelischen Sauna.
TV: Wie geht man mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten um, wenn solche aufkommen?
Uscha: Erstens sind im Matriarchat Lebende weniger ideologisch als wir. Wir möchten häufig unsere eigene Ideologie einbringen und recht haben. Doch in Matriarchaten existieren nicht viele Gründe, um Meinungsverschiedenheiten zu haben, denn sie fließen vielmehr mit den Dingen. Konsens ist eine Grundhaltung, und man tauscht sich so lange aus, bis alle zufrieden sind.
»Sie sehen keine Gründe, sich behaupten zu müssen, weil sie sich als einen Leib verstehen.«
Manchmal, wenn es nicht anders geht, halten sich beispielsweise die Jüngeren zurück. Sie sagen von sich aus, dass es die Großmutter besser wissen wird, oder sie richten sich nach der Großmutter, da diese über den größten Erfahrungsschatz verfügt. Sie sehen keine Gründe, sich behaupten zu müssen, weil sie sich als einen Leib verstehen. Die ganze Familie ist ein Leib. Du willst nicht gegen dich selbst etwas herausschneiden. Wie sie zusammen schwingen, funktioniert sehr gut.
Dagmar: Wenn Uscha sagt, dass sie ein Leib seien, bedeutet es, dass es über Jahrhunderte so zusammengewachsen ist. Sie sind Menschen aus einem Guss. Bei Konflikten würde sozusagen die rechte Hand mit der linken streiten. Doch auch das geschieht nicht, denn im Matriarchat lebende Menschen denken ähnlich. Daher sind Matriarchate so einfach. Wenn ich einen fremden Menschen als Partnerin oder Partner nehme, kommt sie/er aus einem völlig anderen Wertesystem. Nonverbale Werte sind sehr schwer zu erfassen, und gerade diese prallen aufeinander. Aber in den Matriarchaten geschieht dies kaum. Diese nonverbalen Werte gab es bereits immer und sie werden auch immer so sein. Außerdem reden sie in Matriarchaten sehr viel miteinander. Jeder weiß dort zum Beispiel, wie Alice gestimmt ist und was sie kann. Wenn du dich um etwas Bestimmtes kümmerst, dann wissen alle, dass du dein Bestes geben wirst; wenn es nicht geklappt hat, würde niemand auf die Idee kommen, zu sagen, dass du versagt hättest. Denn dann konnte meine rechte Hand es eben nicht besser. Bei einer anderen Gelegenheit würde sich jemand anderes darum kümmern, der andere Arm der Familie, und alle würden es gut finden. Alles läuft konfliktarm ab.
Uscha: Es stauen sich keine Aggressionen auf, die man nicht äußern könnte. Doch anders kennen wir es von hier: Zuerst ist man wütend auf jemanden, aber wenn man mit diesem Menschen redet, wird es besser, und wenn man sich endlich gesehen hat, löst sich die aufgestaute Wut langsam auf. Die Wut geht dahin, wenn man sich Auge in Auge mit dieser Person gegenübersteht und miteinander spricht. Das Zusammensitzen und erst einmal nur Einander-Zuhören wird uns jedoch immer mehr genommen, obwohl es eine Chance für uns birgt.
Dagmar: Zusammensitzen und Miteinander-Sprechen ist die Hauptbeschäftigung der in Matriarchaten Lebenden, egal, wo wir waren, ob bei den Minangkabau, bei den Mosuo oder bei den Khasi. Das ist die Kernstück: das Zusammensitzen am Feuer. Deshalb hat Uscha für mein Buch den Titel »Am Herdfeuer« vorgeschlagen, denn dort findet alles statt.
Uscha: Genau, alle befinden sich rund um das Herdfeuer. Neben dem Sprechen ist auch die Berührung wichtig. Man muss sich vorstellen, dass die Familienmitglieder, da Sexualität ausgeschlossen ist beziehungsweise nicht vorkommt, viele Berührungen und Zärtlichkeiten miteinander austauschen – während in unserer Gesellschaft manche sogar zu Hause auf der Hut sein müssen.
Sie massieren einander häufig und spontan. Wenn mal jemand erschöpft ist, wird er/sie gleich massiert und dann übernimmt die nächste Schwester. Das Sich-gegenseitig–Berühren gehört zum Sprechen und Sich-Austauschen dazu. Das reißt nicht ab, es wird nicht rar.
Dagmar: Als wir das erste Mal ein Matriarchat besuchten, waren meine Söhne dabei, beide bereits in der Pubertät. Dort angekommen, sahen wir neun Männer, die zwei oder drei Jahre älter waren als meine Söhne, auf einem kleinen Rattansofa. Drei saßen oben auf der Lehne, drei auf der Couch, drei saßen unten. Sie sahen fern und alle kneteten einander. Meine Söhne hatten bis dahin noch nie gesehen, dass Jungen und Männer derart zärtlich zueinander sein können. Das hat sie zutiefst beeindruckt.
TV: Ich denke, dass die Begegnung mit matriarchalen Gesellschaften uns ermöglicht, uns von unseren auferlegten Gesellschaftsschablonen zu lösen, die uns suggerieren, zu wissen, was das Mensch-Sein ausmacht: dass Menschen nicht ohne Krieg und Gewalt leben können und dass das Verhältnis zwischen Männern und Frauen sexualisiert und ungleich ist. Doch lebende Matriarchate zeigen uns in der Gegenwart, dass ein anderes Miteinander möglich ist und dass Menschen sich anders verhalten können. Die Werte Friedlichkeit und Sich-umeinander-Sorgen sind in uns und können bewusst kultiviert werden.
Uscha: Ja, sie schlummern in uns allen.
Dagmar: Meine Jungs sind mittlerweile erwachsen und haben studiert. Sie sagten einmal, dass in ihrem Bekanntenkreis nur bis zu 2.000 Jahre in die Vergangenheit gedacht wird. Daraus folgt das Verständnis, dass Kriege normal seien, denn es hat sie – vermeintlich – bereits immer gegeben, ebenso wie den Geschlechterkampf, mit dem wir – scheinbar – auf die Welt kommen. Das ist dem Anschein nach normal, aber es war nicht immer so auf der Welt.
Wir haben in matriarchalen Gesellschaften zum Beispiel Männer als Brüder kennengelernt, aber wir hier kennen das nicht. Westlich sozialisierte Männer definieren sich als Väter und Sexualpartner. Wenn sie aber hören, dass es in manchen Matriarchaten keine Ehemänner gibt, fragen sie, ob die überhaupt Männer seien, weil für sie Männer in der Rolle von Brüdern keine Männer sind. Diese Definition von Mann beinhaltet Sexualität, eine Frau zu haben und Vater zu sein – oder homosexuell zu sein. Aber Sexualität und Vater-Sein sind zentral.
TV: Auf der einen Seite wird Vätern große Anerkennung gezollt, aber auf der anderen Seite gibt es immer mehr alleinerziehende Mütter, die kaum unterstützt werden oder sogar in Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden, weil die Väter für ihr Kind keinen Unterhalt zahlen wollen.
Uscha: Es ist das Irrste, wie wir das hier handhaben: Mütter mit Kindern werden allein gelassen und erhalten kaum Zuwendung und Unterstützung. Eigentlich müssten Mütter auf Händen getragen werden.
»Mutter-Sein läuft hier mittlerweile nebenbei, während in Matriarchaten die Mütter im Zentrum stehen. Das Mutter-Kind-Verhältnis ist ein symbolisches Bild.«
Mutter-Sein läuft hier mittlerweile nebenbei, während in Matriarchaten die Mütter im Zentrum stehen. Das Mutter-Kind-Verhältnis ist ein symbolisches Bild. Im Prinzip richtet sich die gesamte Gesellschaftsordnung nach diesem Verhältnis. Alle verhalten sich mütterlich, auch ein Mann ist mütterlich. Selbst ein Mann, der sich in die Dorfgemeinschaft einbringt und sich politisch engagiert, tut dies auf mütterliche Art und Weise. Das Bild »Mutter – Kind« ordnet ihr Zusammenleben. Auf allen Ebenen steht das Mütterliche im Zentrum. Das ist sensationell und muss immer wieder wiederholt und betont werden.
Dagmar: Gleiches gilt für das hohe Ideal von Mutter Welt, Mutter Natur und Mutter Erde als Lehrmeisterin und Vorbild. Du schlägst den Reis nicht, damit er wächst. Das braucht die Natur nicht. Also schlägst du auch deine Kinder nicht.
Uscha: Wenn es ein heiliger Berg ist, ist es ein Mutterberg, weil er alle umfängt. Die Mutter spendet aus ihrem Leib das Leben. Das Leben und das Nährende kommen aus ihr.
TV: Welche Matriarchate habt ihr im Laufe eurer Reisen kennenlernen dürfen?
Dagmar: Ich kenne die Mosuo in China, die Khasi in Indien, die Minangkabau in West-Sumatra und die Enggano auf Enggano.
Uscha: Darüber hinaus kenne ich die Palau in der Südsee.
TV: Existieren signifikante Unterschiede zwischen den matriarchalen Gesellschaften? Oder wart ihr womöglich darüber verwundert, wie sehr sich diese Gesellschaften ähneln?
Uscha: Im Jahr 2017 haben wir den Kongress »Friedliche Gesellschaften stellen sich vor« veranstaltet und in diesem Rahmen Menschen aus verschiedenen Matriarchaten nach Jena eingeladen.
Dagmar: Wir haben angefangen, die Matriarchate untereinander zu vernetzen. Beispielsweise waren wir mit einer Mosuo in Indien und fragten sie, wie sie es dort finde. So viele Ähnlichkeiten ergaben sich, dass es unbeschreiblich war. Später brachten wir eine Minangkabau zu den Mosuo – dies begleiteten wir immer mit der Kamera im Rahmen des Filmprojekts »Matriarchate weltweit«, das wir weiterführen möchten – und sie waren begeistert von ihren Ähnlichkeiten. Einmal versuchten Sadama von den Mosuo und Yelfia von den Minangkabau aus Sumatra, mir die matriarchalen Erbregeln zu erklären. Obwohl sie sich kaum kannten, folgten sie dem gleichen Konzept und erklärten es mir. Zudem luden wir sie für drei Tage nach Jena zu dem großen Kongress ein. Das Publikum durfte ihnen in einem Open-Space Fragen stellen. Auch dort freuten sie sich über ihre Ähnlichkeiten.
Dennoch bestehen regionale Unterschiede, die einen beten zum Beispiel das Meer an und die anderen die Berge.
Uscha: So wird auf Palau eine Frau, die zum ersten Mal geboren hat, viele Tage lang mit Kurkumaöl gesalbt und umsorgt wie eine Göttin. Nach einigen Tagen, in denen sie gepflegt und ihr gehuldigt wurde, tritt sie aus der Hütte heraus, die fast wie ein kleiner Tempel wirkt. Ganz golden leuchtet die Palauerin, wenn sie das erste Mal wieder in der Öffentlichkeit erscheint, um gefeiert zu werden. Die Rituale sind jedoch unterschiedlich. Dort scheint immer die Sonne, es ist immer warm. Das kann man nicht mit Gesellschaften vergleichen, die in der Kälte in den Bergen leben. Sie würden das so nicht machen.
TV: Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber die Werte Kooperation, Fürsorglichkeit und Friedlichkeit sind in Matriarchaten meistens präsent?
Dagmar: Einer der wichtigsten Werte ist die Beziehung zueinander. Menschen, die in Matriarchaten leben, mögen und brauchen keine Versicherungen, denn ihre Clans decken alles ab. Sozialversicherung, Bankwesen mit Krediten oder Ähnliches – sie mögen weder Banken noch Institutionen, sondern regeln alles untereinander und sind damit autonom. Als wir einmal da waren, brannte ein Haus ab. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie alles zusammen, um ein neues zu bauen. Im Gegensatz dazu ist der Layouterin unserer Zeitschrift aufgrund eines Sturms vor ein paar Jahren das Dach vom Haus geflogen. Erst nach drei Jahren wurde ihr das Geld, das sie mühsam erstritten hatte, von der Versicherung zurückerstattet. Dort jedoch wurde den Menschen innerhalb eines Nachmittags geholfen.
Uscha: Bei diesem Hausbrand kamen alle, die zur Familie, zum Clan gehörten, auch wenn sie weiter entfernt wohnten, erst einmal zusammen. Dort saßen sie zusammen und schwiegen – das möchte ich ebenfalls betonen – sie nahmen die Trauer an und waren anwesend. Zu Beginn gingen sie noch nicht in die praktische Hilfe, obwohl sie auch sehr praktisch sein können. Sie achten immer darauf, dass genug Nahrung da ist und alle genug haben. Sie sind sehr erdverbunden, was die Versorgung anbelangt. Aber damals warteten sie zunächst ab, im Gegensatz zu mir, die sofort spenden wollte. Sie saßen einfach zusammen und gaben der Trauer Raum.
TV: Ich würde gern die Themen »Matriarchales Bewusstsein« und »Matriarchale Weltsicht« vertiefen. Gern können wir diese Themen mit der Integration matriarchaler Werte im Alltag verbinden. Wie ist es euch gelungen, matriarchale Werte in unserer Gesellschaft zu leben?
Uscha: Du meinst, wie wir das in unser Umfeld hineinnehmen konnten? Das ist natürlich nicht einfach. Man braucht Verbündete, allein geht das nicht. Allein für sich kann man kein anderer Mensch werden und anders auf die anderen zugehen. Ein Gruppengebilde ist für diese Veränderung notwendig.
Man muss den anderen Umgang und das andere Zusammenleben gemeinsam mit anderen ausprobieren, man muss also sehr viel aufholen. Jemand, der noch gar nichts darüber gehört hat, für den gilt es zunächst, sich einzufühlen und zu versinken, sonst funktioniert es nicht. Daraufhin haben wir versucht, unser Verhältnis zu unseren eigenen Familien, zu unserer Mutter aufzuarbeiten, denn Mutter und Tochter sollen in unserer Kultur einander verlassen und getrennt voneinander leben. So begannen wir auch, auf unsere Traumata zu blicken. Diese heilen aber nicht schnell, das ist ein langer Prozess. Später kam bei vielen der Wunsch auf, zusammenzuziehen. Dies hat sich auch als nicht einfach erwiesen.
Mir persönlich ist es gelungen, mit meiner Familie, meiner Blutsverwandtschaft in einem Haus zusammenzuleben. Diese war aber nicht darauf eingestellt, dass wir unbedingt zusammenleben sollten. Das war nie vorgesehen, sondern jeder sollte seine eigene Familie gründen und woanders hingehen. Aber infolge meiner Filme und zahlreicher Gespräche erinnerten sie sich an ihre Kindheit, wie schön es war, als wir als Geschwister zusammen sein konnten, bevor es begann, sich zu zersplittern. Wir erinnerten uns daran, wie sehr wir uns für den anderen gefreut hatten, wenn sich dieser zum Beispiel verliebt hatte. Bei unserer Empathie setzten wir an, und viele schöne Kindheitserinnerungen kamen hoch. Wir gedachten unserer Mutter, die ein gütiger Mensch war und für alle sorgte. Sie hat uns zusammengenommen und so ist es uns gelungen, jetzt in diesem Haus so zusammenzuleben. Probleme, die von außen auf uns zukommen, und Schicksalsschläge bewältigen wir gemeinsam. Die Frauenlinie bildet den Mittelpunkt, das ist das Wichtigste. Der Mann ist Unterstützer und Helfer. Das müssen wir uns klar machen, und Männer müssen bereit sein, anzuerkennen, dass sie nicht die Herren im Haus sind.
Dagmar: Vieles veränderte sich, als ich zurückkam. Zum Beispiel habe ich viel über das Thema Schamanismus gelernt. Bereits bevor ich das erste Mal zu den Khasi gereist war, hatte ich schamanische Seminare besucht, um zu verstehen, was das eigentlich bedeutet. Laut einem Lehrbuch sind die Khasi eine schamanische Gesellschaft, aber darunter konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen. Das erlebte ich aber glücklicherweise dort. Ich war gut vorbereitet und konnte schamanische Rituale miterleben. Es waren alltägliche Rituale, beispielsweise als eines meiner Kinder Halsweh hatte. Der Unterkiefer eines Schweins hing in der Küche an einem Nagel, und ich wurde gefragt, ob ich etwas gegen Khasi-Medizin hätte. Natürlich nicht, sagte ich. So wurde der Kiefer geholt, dem Jungen wurde dreimal über den Hals gestrichen und dreimal wurde etwas gesagt.
Dieses Prozedere wurde neunmal wiederholt und dann wurde der Kieferknochen wieder an den Nagel gehängt. Ich fragte bei ihnen nach, was sie gemacht hätten. Sie vermittelten mir ein Weltbild, das mich zutiefst beeindruckt, mir eingeleuchtet und mich seitdem nicht wieder losgelassen hat: dass man mit allem, was ist, kommunizieren kann. Diesem Weltbild folgen matriarchale Gesellschaften: Alles ist belebt. Die Landschaft ist eine Persönlichkeit, der Berg, der Wind, alle Blumen zusammen sind eine Wesenheit, und das beeindruckt. Denn dann bist du nie allein, sondern immer mit allem verbunden. Es besteht ein inneres Verbundenheitsgefühl mit dem Leben und der Welt, das dich nicht verlässt, auch nicht wenn du krank wirst oder stirbst. Sie glauben, dass wenn man stirbt, man wieder in das Ganze eingeht. Diese Gewissheit verändert das ganze Leben. Ich unterhielt mich mit den Mosuo über Buddha, denn oberflächlich sind sie vor allem in letzter Zeit Buddhisten geworden. Ich hatte mir unter Buddha immer einen Mann vorgestellt, doch dort wurde ich aufgeklärt, dass Buddha der Atem, das Leben, die Welt sei. Buddha ist das All-Eins – und hat mit einem Mann nichts zu tun. Buddha ist die Weltseele für die Mosuo. Sie haben ihr Weltbild auf diese Religion übertragen.
Uscha: Alles ist mit allem verbunden und alles kommt aus dem Mütterlichen, das möchte ich betonen.
Dagmar: Das Prinzip ist das Mütterliche, das Lebendige, die Welt. Das Leben an sich wird mütterlich gedacht. In der Biologie ist es an sich auch so: Alles, was etwas hervorbringt, ist mütterlich. Im Vordergrund steht zudem die Möglichkeit, Mutter zu sein, aber das bedeutet nicht, dass jede Frau Mutter sein muss. Wenn eine Frau keine Kinder will oder keine bekommt, drückt sich ihre Mütterlichkeit in etwas anderem aus. Die Art und Weise zum Beispiel, wie du, Alice, uns interviewst, wie du dich einfühlst und lauschst, das sind sehr mütterliche Qualitäten. Man muss nicht selbst Kinder gebären, um zu beweisen, dass man eine Mutter ist. Eine Frau ist automatisch eine Mutter, ab dem Moment, an dem sie beginnt zu menstruieren.
TV: Das ist interessant, denn in unserer Gesellschaft, und das geht stark von den Familien aus, werden Frauen, die ein bestimmtes Alter erreicht haben und/oder lange in einer Partnerschaft sind, mit der Kinderfrage konfrontiert. Frauen werden zwar nicht über das Mutter-Sein definiert, aber ab einem bestimmten Alter schwebt es im Raum. Matriarchale Gesellschaften wiederum, die das Mütterliche ins Zentrum setzen, stellen es nicht als Notwendigkeit dar, dass jede Frau selbst Kinder gebären sollte. Als Außenstehender würde man aber vielmehr den Eindruck gewinnen, dass matriarchale Gesellschaften von Frauen fordern, Mutter zu werden.
Dagmar: Es verteilt sich auf viel mehr Schultern. Ich denke in dem Zusammenhang immer an das Wort Geschwister, denn matriarchal Ausgerichtete kennen das Wort Cousin oder Cousine nicht, sondern die Kinder der Schwestern sind allesamt Geschwister. Also Cousins und Cousinen gelten auch als Geschwister. Somit verteilt sich die Kinderschar auf verschiedene Frauen. Deshalb ist es nicht so wichtig, wenn eine Frau keine Kinder bekommt. Manche bekommen viele Kinder, aber die anderen Familienmitglieder kümmern sich viel mehr um diese. Die Frauen sind nicht dazu verpflichtet, viele oder überhaupt Kinder zu bekommen. Ebenso wenig existiert die Vorstellung, dass ein von dir geborenes Kind deins ist.
TV: Das Bewusstsein, dass es »mein Kind« ist, ist nicht stark ausgeprägt?
Dagmar: Wir kennen Personen, die erst im Erwachsenenalter erfahren haben, dass sie nur eine Mutter haben. Bis dahin dachten sie, dass all die Schwestern ihre Mütter seien. Eine hatte uns das erzählt – und war wohl etwas beleidigt, als sie erfahren hatte, dass sie nur eine Mutter statt sieben Mütter, wie sie dachte, hat. Frauen und Männer definieren sich nicht über ihr Kind, sondern über den Clan. Der Clan ist das Wichtigste, gemeinsam mit den Vorfahren und dem Wohlbefinden aller Mitglieder des Clans.
TV: Ich würde gern über das »Heilige Paar« sprechen.
Uscha: Es gibt Frauen und Männer auf der Welt, und sie schaffen als Schwestern und Brüder die Balance. Diese Balance erreichen wir nicht mit dem Mann, der uns einst besucht hat und dem wir Frauen die Treue versprochen haben. Das »Heilige Paar« ist nicht das Liebespaar, sondern das Paar, das aus dem Leib der gleichen Mutter kam. Das ist die symbolische Ordnung. Es ist eine friedliche Angelegenheit, weil sie nicht ständig versuchen müssen, sich zu umwerben und dieses andere Wesen zu halten, denn sie sind aufgrund der Biologie vereint. Sie teilen die gleiche Geschichte und den gleichen Ursprung. Die Gebärmutter wird in den Matriarchaten als starkes Symbol angesehen. Manche Höfe, auf denen der Clan lebt, werden als Gebärmutter bezeichnet, also es wird derselbe Begriff verwendet.
Dagmar: Alle gehören dazu, die jemals dieselbe Gebärmutter geteilt haben, nicht gleichzeitig, und es kann auch die der Großmutter gewesen sein. Bei der Matrilinearität geht es über den Bauch, über den Leib. Schwester und Bruder sind das Urpaar. Sie bleiben zusammen, auch wenn Konflikte aufkommen, denn sie sind gebärtechnisch aus einem Guss.
Uscha: Sie brauchen nicht miteinander zu konkurrieren – während dies in Deutschland leider geschieht, weil wir unsere Kinder in Gerechtigkeit großziehen wollen. Jeder soll das Gleiche bekommen. Kaum wurde einer nicht bedacht, gibt es Zank untereinander. Aber wenn sich Schwester und Bruder als stabiles Paar sehen, dann kann nicht mehr viel erschüttert werden.
Dagmar: Das ist die Grundlage matriarchaler Gesellschaften. Wenn in matriarchalen Gesellschaften geheiratet wird, ist es eine Patriarchalisierung, also nicht mehr das Ur-Matriarchat. Im Ur-Matriarchat wird nicht geheiratet, sondern besucht. Auch die Minangkabau auf West-Sumatra pflegten ursprünglich Besuchsbeziehungen. Heutzutage ziehen die Männer zu den Frauen. Aber für die Frau im Haus hat er nicht dieselbe Bedeutung wie für seine Schwestern. Wenn die Schwestern bei der Kindererziehung männliche Unterstützung brauchen, wenden sie sich an ihre Brüder, nicht an ihre Ehemänner, denn diese übernehmen diese Aufgabe bei ihren Schwestern. Der Bruder der Schwester gilt als Respektperson und wichtiger Berater. Er sieht die Kinder seiner Schwester als seine Kinder an, denn es sind die Kinder, die aus dem einen gemeinsamen Bauch, aus dem gemeinsamem Leib kamen.
TV: Es fasziniert mich sehr, wie anders Gesellschaften sich organisieren können. Ist es nicht fantastisch, dass es solch eine Vielfalt an Lebensformen gibt und dass wir viel von anderen Gesellschaftsformen lernen können?
Dagmar: Vielmehr war die ursprüngliche Form überall matriarchal geprägt, doch diese wurde verändert, indem Frauen geraubt und verschleppt worden sind. Vor rund 3.500 Jahren sind sie die ersten Sklavinnen gewesen. Sie hätten die Orte, an denen ihre Mütter, Brüder und Vorfahrinnen gelebt haben, niemals freiwillig verlassen.
Uscha: Die matriarchale Lebensform ist die organische Lebensweise.
Dagmar: Wieso sollten sie in die Fremde gehen wollen und sich auf fremde Menschen einlassen? In der Fremde hatten sie keinen Schutz, und das ist gefährlich. Gerade dies hat sich bewahrheitet. In unserer Gesellschaft bilden alleinerziehende Mütter und Kinder die ärmste Schicht, und die Scheidungsquote steigt immer weiter an.
TV: Obwohl das Zusammenleben in der Kleinfamilie sich nicht als die gangbarste Möglichkeit erwiesen hat, wird daran festgehalten. Aber wenngleich es nicht funktioniert – und dies trifft ebenfalls auf unsere Landwirtschaft, Wirtschaft, Bildung etc. zu –, ist man noch nicht offen für Alternativen, die lebenswerter sind.
Uscha: Ja, das Althergebrachte soll aufrechterhalten werden, obwohl es nicht funktioniert.
Dagmar: Wir überlegen häufig, woran das liegt. Natürlich profitieren einige davon, doch es wird immer stärker vermutet, dass diese dysfunktionalen Systeme die Folgen umfassender Traumatisierungen sind, die bereits vor der Antike begonnen haben, zum Beispiel durch dramatische Klimaveränderungen. Und dass diese Traumatisierungen fortgesetzt und aufrechterhalten werden, indem sie unbewusst von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.
TV: Durch die Kolonialisierung vonseiten der Europäer haben sich bestimmte Lebensweisen überall auf der Welt verbreitet und verfestigt, denn viele Gesellschaften in Afrika, Amerika und Asien lebten noch vor 500 Jahren ganz anders als in der Gegenwart. Sie hatten eigene Gesellschaftsformen, und von vielen wissen wir jetzt kaum noch etwas. Vieles wurde seitdem gleichgemacht, allein, dass fast überall auf der Welt das westliche Geldsystem vorherrscht. Existierende matriarchale Gesellschaften werden auch immer stärker von patriarchalen Strukturen bedrängt. Patriarchale Gesellschaften scheinen den Drang zur Kolonialisierung in sich zu haben und das Bestreben, dass alle auf die gleiche Art leben sollten.
Dagmar: Wir sprechen von Patriarchose, weil es traumatisierte Menschen sind. Stell es dir in der Vergangenheit vor: Du bist das Kind einer Sklavin und erlebst Todesgefahr. Damals haben Männer Frauen geraubt. Für sie war das Kind uninteressant, sie konnten die Kinder vor den Augen ihrer Mütter umbringen. In Kriegen werden noch heute Kinder vor den Augen der Mütter getötet. Infolgedessen bist du schwer traumatisiert, insbesondere als Mann, weil deine Mutter dich nicht beschützen kann.
»Keine Gesellschaft hat ihre Matriarchalität freiwillig aufgegeben.«
Er kann sich nicht auf seine Mutter verlassen – im traurigsten Sinne, nicht als Vorwurf. Daraus kann der starke Drang entstehen, selbst Macht auszuüben, um nie wieder etwas Ähnliches zu erleben. So werden sie selbst zu Diktatoren oder maßlosen Konzernchefs. Keine Gesellschaft hat ihre Matriarchalität freiwillig aufgegeben, denn die matriarchalen Gesellschaften führten nie Krieg und sind nie freiwillig patriarchal geworden. Sie sind immer von außen vergewaltigt worden.
TV: Das war ein wichtiger Punkt, denn viele wünschen sich hier eine andere Gesellschaft, aber es ist erstaunlich, wie lange sich Gesellschaftsformen aufrechterhalten können. In Europa wird versucht, eine Kontinuität aufzubauen, die aber noch nicht allzu lange zurückreicht. Die Bundesrepublik Deutschland wurde vor knapp 75 Jahren gegründet. Wenn man dies mit der Menschheitsgeschichte ins Verhältnis setzt, ist es nicht einmal eine Erbse. Bestimmte Gesellschaften sind seit Tausenden von Jahren beinahe gleich organisiert und leben in Frieden, und sie möchten dies nicht verändern.
Dagmar: Schön, dass du das so betonst. Deshalb lehnen wir in diesem Kontext das Wort »noch« ab, zum Beispiel in der Formulierung: die »noch« lebenden Matriarchate. Es sind lebendige Matriarchate, denn matriarchale Gesellschaften finden eine Resonanz in der Welt, die sie vor 25 bis 30 Jahren so noch nicht erfahren haben, und erleben selbst einen Rematriierungs-Schub. Der Name Rematriation ist von ihnen selbst geprägt. Größeres Selbstbewusstsein als matriarchale Ethnie habe ich beispielsweise bei den Mosuo erlebt: Sie sind wahnsinnig stolz auf ihre Kultur. Mittlerweile haben sie ein riesiges Museum, in dem sie ihre Traditionen präsentieren. Das hat es, als wir das erste Mal dort waren, noch nicht gegeben. Sie reaktivieren ihre Rituale. Ureinwohner aus Kanada kamen zu den Mosuo am Lugu-See, um von ihnen das Matriarchat wiederzuerlernen.
Uscha: Wenn wir »noch« sagen, impliziert es, dass diese Gesellschaftsform in der flächendeckenden technokratischen Welt bald aussterben wird. Aber dies ist nicht der Fall, denn diese Gesellschaften sind präsent und lebendig.
Dagmar: Und wir können sehr viel von ihnen lernen.
TV: In meinen Augen sollte diesem Thema mehr Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit gewidmet werden, denn es zeigt, dass der Mensch auch anders sein kann. Es gibt reale Alternativen und reale Menschen, die anders leben. Ich finde das sehr ermutigend. Gleichzeitig ist es sehr schade, dass solche Prinzipien oder Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft diskreditiert und abgelehnt werden. Es ist »normaler«, zum Mars fliegen zu wollen, als unsere Gesellschaft zu verändern, damit alle Lebewesen besser leben können. Das möchte man nicht so recht. Es ist eine Bereicherung, dass wir von anderen Gesellschaften noch so viel lernen können und uns als Menschen verändern können.
Dagmar: Ich empfinde es als ein Erinnern. Ich habe Seminare gegeben, in denen ich das Matriarchat nicht vorgestellt habe. Stattdessen habe ich die 60 oder 70 Teilnehmenden gefragt, was sie sich darunter vorstellen. Das war spannend, denn was letztlich beschrieben wurde, war das Matriarchat. Ich habe nichts reingegeben außer bestätigende Beispiele und eigene Erlebnisse. Aber es ist so viel in uns, und daran konnte ich anknüpfen. Das ist in uns drin, deshalb kommen diese Lebensweisen immer wieder von selbst auf.
Uscha Madeisky, Gertrudstochter, erhielt ihre zweite Sozialisation bei matriarchalen Völkern. Von Beruf ist sie Filmemacherin und produziert seit den 90er-Jahren Dokumentarfilme, die von matriarchalen Gesellschaften und Lebensweisen erzählen. Dafür bekam sie den Tony-Sender-Preis der Stadt Frankfurt am Main und den Elisabeth-Selbert-Preis des Landes Hessen. Sie ist Mitgründerin von MatriaVal e. V. und im Vorstand vertreten. War Mitveranstalterin von: »Internationaler MutterGipfel 2008« in Karlsruhe, dem »Internationalen Goddesskongress 2010« auf dem Hambacher Schloss und dem Kongress »Friedliche Gesellschaften stellen sich vor 2017« im Jenaer Rathaus. Sie lernte und lehrte an der Akademie ALMA MATER und hat die Coleitung von MatriaCon inne, der 2017 gegründeten internationalen Schule für matriarchales Bewusstsein (www.matriacon.net / www.tomult.de).
Dagmar Margotsdotter, Diplom-Sozialpädagogin, Mutter dreier Kinder, Autorin und Kulturreferentin für Matriarchatskunde, ist als Forschende in verschiedenen Matriarchaten unterwegs. Auf ihren Reisen engagiert sie sich u. a. für die weltweite Vernetzung dieser friedlichen und ausbalancierten Gesellschaften. Sie lernte und lehrte an der Akademie ALMA MATER und hat die Coleitung von MatriaCon, der 2017 gegründeten internationalen Schule für matriarchales Bewusstsein, inne. 2006 gründete sie zusammen mit Uschi Madeisky und anderen Matriarchatsforschenden den Verein MatriaVal e. V. (www.matriaval.de), war Mitveranstalterin vom »Internationalen MutterGipfel 2008« in Karlsruhe, dem »Internationalen Goddesskongress 2010« auf dem Hambacher Schloss und dem Kongress »Friedliche Gesellschaften stellen sich vor 2017« im Jenaer Rathaus. Seit 2000 bereist sie Matriarchate rund um die Welt und seit 2012 dokumentiert sie deren Alltag filmisch (www.matria.de).
Weiterführende Bücher
Uschi Madeisky (Hrsg.) »Die Ordnung der Mutter – Wege aus dem Patriarchat«, Christel Göttert Verlag.
Dagmar Margotsdotter »Am Herdfeuer – Aufzeichnungen einer Reise zu den matriarchalen Mosuo« und weitere, alle im Christel Göttert Verlag erschienen.
Artikel zum Thema
- Dr. Heide Göttner-Abendroth – Am Anfang war die Mutter. Was können wir heute von matriarchalen Gesellschaften lernen? (Teil 1)
- Artikel zum Thema ›Matriarchat‹
- Dipl.-Germ. Petra Baumgart – Germanische Göttinnen und die quantenphilosophische Schau
- Sabine Lichtenfels – Versöhnung der Geschlechter (Video-Interview)
- Dr. theol. Ina Praetorius – Care Arbeit, Postpatriarchat (Video-Interview)
Bildnachweis: © Adobe Photostock, Uschi Madeisky