Schechina

Prof. Dr. Peter Schäfer – Tochter, Schwester, Braut und Mutter

Bilder der Weiblichkeit Gottes in der frühen Kabbala

Das Judentum wird im Allgemeinen als eine streng monotheistische Religion gedeutet, die keinen Raum für weitere Gottheiten oder Aspekte Gottes zulässt. Doch ein führender Experte des antiken und mittelalterlichen Judentums Prof. Dr. Peter Schäfer zeigt, dass Deutungen aus der jüdischen Mystik, der Kabbala, die Möglichkeit eines weiblichen Prinzips Gottes eröffnen, wobei sich dieses Prinzip in unterschiedlichen Gewändern präsentiert: von einer elterlichen bis zu einer sexuellen Symbolik.

Das Judentum gilt seit jeher als die klassische Religion des Monotheismus, die Religion, die der Welt den Glauben an den einen, einzigen und unwandelbaren Gott geschenkt hat. »Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott«, so lautet das Bekenntnis in Dt 6,4, das als dass Shema‘ Yisra’el zum feierlichen täglichen Gebet wurde, mit dem auf den Lippen nicht wenige jüdische Märtyrer in den Tod gingen. Das Christentum übernahm den jüdischen Monotheismus und erweiterte ihn gleichzeitig durch die Inkarnation Gottes, seine Menschwerdung in der Welt. Damit legte es das Judentum umso stärker auf einen abstrakten Gottesbegriff fest, der dann leicht zur Karikatur des angeblich fernen und unzugänglichen Gottes des Alten Bundes verkommen konnte, gegen den sich die Botschaft des Neuen Bundes umso strahlender absetzen ließ. Das Judentum hat die ihm zugedachte Rolle in der Auseinandersetzung, nicht im Dialog der beiden Religionen notgedrungen übernommen, inder die Waffen bekanntlich ganz ungleich verteilt waren und das Ergebnis von vornherein feststand. 

Die Vorstellung von dem einen, unwandelbaren Gott gehört ohne Zweifel zu den fundamentalen Grundsätzen der jüdischen Religion – und dennoch ist die Annahme, dass das Judentum sich im starren Festhalten an der Einzigkeit Gottes erschöpft, eine krasse Fehleinschätzung, die ihren Erfolg nicht nur der Unkenntnis historischer Entwicklungen des Judentums, sondern gerade auch christlichen Vorurteilen verdankt. Das Judentum hat sich, anders als das Christentum, nie auf Glaubenssätze festlegen lassen und es immer wieder verstanden, allzu fest gefügte religiöse Normen aufzubrechen. Das, was mit dem Anspruch allgemeingültiger Rechtgläubigkeit auftrat, konnte sich unversehens in der Minderheit befinden, und die revolutionäre Neuerung der Minderheit konnte plötzlich zur akzeptierten Norm werden. Allerdings durfte man dies möglichst nicht zu laut sagen: Das Neue musste sich als alt ausgeben, um als Neues akzeptiert zu werden; nur in alte Schläuche gegossen, konnte der neue Wein seine Wirksamkeit entfalten. 

Prof. Dr. Peter Schäfer

Die Bewegung im Judentum, an der sich eine solche dialektische Entwicklung am besten verfolgen lässt, ist die jüdische Mystik im Mittelalter, die Kabbala. Schon diese Selbstbezeichnung ist verräterisch, meint doch »Kabbala« nichts anderes als »Tradition« und behauptet diese Bewegung damit von sich, dass sie nichts anderes tut, als die bewährte und allgemein als verbindlich akzeptierte Tradition wiederzugeben. Nichts trifft weniger zu als diese Behauptung. Die Kabbala hat in ihren verschiedenen Erscheinungsformen über mehrere Jahrhunderte hinweg die Religion des Judentums in einer Weise revolutioniert, wie dies vor ihrem Auftreten ganz undenkbar gewesen wäre (sie hat das Judentum mehr als einmal an den Rand der Spaltung geführt). Diese radikale Neuerung betrifft zuallererst den Gottesbegriff. Der Gott der Kabbala führt ganz entscheidend über den Gott der Bibel und des rabbinischen Judentums der Spätantike hinaus, und er hat wenig oder gar nichts mit dem Gott der mittelalterlichen jüdischen Philosophie gemeinsam, weder in ihrer neuplatonischen Spielart noch (viel weniger) in der Form des aufkommenden Aristotelismus, wie er etwa im Judentum im 12. Jahrhundert durch Maimonides vertreten wurde. Die Kabbala ignoriert dies alles souverän, erachtet es nicht einmal der Auseinandersetzung wert, und entwickelt stattdessen in schwer verständlichen, oft auch disparaten mythischen Bildern eine völlig neue Vorstellung von Gott.

Ihr Ideal ist nicht der unveränderliche Gott, der unbewegte Beweger der Philosophen, sondern im Gegenteil die Entfaltung und Beschreibung des vielfältigen und dynamischen Lebens, das sich in Gott selbst abspielt. Gott bleibt zwar einer und ein einziger, aber er entwickelt gleichzeitig ein unerhört reiches inneres Leben; seine Gottheit entfaltet sich in Potenzen, Wirkkräften (hebräisch Sefirot), die unterschiedliche Aspekte des göttlichen Wesens verkörpern und untereinander in ständigem Austausch stehen. Während die ungeschiedene Einheit Gottes, sein An-sich-Sein, einem Bereich angehört, über den keine Aussage möglich ist (es ist dies der verborgene Gott, den die spätere Kabbala ‚En Sof nannte, wörtlich: ›Ohne Ende‹), lässt sich seine innere Entfaltung in Sefirot (die sehr bald auf zehn festgelegt werden) beschreiben – und genau dies ist es, was die Kabbala in immer neuen Bildern versucht. 

Die Anfänge der Kabbala, d. h. die historischen Umstände ihrer Entstehung, liegen noch weithin im Dunkeln. Das erste literarische Dokument, in dem sie das Licht der Welt erblickte, ist ein kleines Buch, das gegen Ende des 12. Jahrhunderts in der Provence erschien. Das System der zehn innergöttlichen Potenzen ist im Buch Bahir noch nicht in der komplexen Vollständigkeit entwickelt, wie wir sie etwa im Zohar und in der späteren Kabbala finden; es kann nur aus verschiedenen Ansätzen und Bruchstücken rekonstruiert werden. Dennoch sind die wesentlichen Charakteristika vorhanden: die Zehnzahl; die deutliche Trennung zwischen den oberen drei (»höchste Krone«, »Weisheit« und »Geist Gottes« oder auch »Einsicht« genannt) und den unteren sieben Sefirot; die Spannung zwischen Gottes Liebe und seiner strafenden Gerechtigkeit in der vierten und fünften Sefira, die in der sechsten ihren Ausgleich findet; und schließlich die Shekhina genannte zehnte Sefira, das weibliche Prinzip. Der Name für dieses weibliche Prinzip in Gott, Shekhina, fällt nur ganz beiläufig. Die Shekhina (wörtlich »Einwohnung«) ist aus der klassischen rabbinischen Literatur wohlbekannt und bezeichnet dort die Gegenwart Gottes in der Welt; sie ist immer mit Gott subjektsidentisch, also keine Hypostase, keine unterschiedliche Seinsweise, keine verselbstständigte Eigenschaft oder Tätigkeit Gottes.[2]  

In der Kabbala dagegen wird sie als eigenes Prinzip in das innergöttliche Wesen hineingenommen, eine Vorstellung, die dem rabbinischen Judentum völlig fremd ist, wirkt allerdings auch, wie wir noch sehen werden, in besonderer Weise in die irdische Welt hinein. Der ganz entscheidende Unterschied und damit das völlig Neue im Buch Bahir ist schließlich, dass sie nur hier, niemals in der rabbinischen Literatur und niemals auch in der jüdischen Philosophie, als ein eindeutig weibliches Prinzip bestimmt ist. 

Sexuelle Symbolik 

Das Zusammenspiel der zehn Sefirot oder Potenzen des innergöttlichen Wesens wird im Buch Bahir in verschiedenen Metaphern und Bildern ausgedrückt. Eines dieser Bilder ist eine ausgeprägt sexuelle Symbolik des Männlichen und Weiblichen. Das männliche Prinzip wird in der siebten und auch der achten Sefira angesiedelt (die Verteilung ist im Buch Bahir noch nicht ganz eindeutig; verschiedene Bilder und wohl auch literarische Schichten überlappen sich). So heißt es von der siebten Sefira, dass sie der »Osten der Welt«, also auf der »östlichen« Seite des Systems der Sefirot gelegen ist: »Von dort stammt der Same Israels, denn das Rückenmark zieht sich vom Gehirn des Menschen bis zum Phallus, und dorther stammt der Same, wie es heißt (Jes 43,5): Vom Osten bringe ich deinen Samen und vom Westen sammle ich dich.‹«[3] Dem entspricht die zehnte Sefira, die Shekhina, die auf den Westen bezogen ist (ibid.):

»Und was (bedeutet der Vers Jes 43,5): vom Westen sammle ich dich ein‹? Aus jener Sefira (sammle ich dich ein), die stets nach Westen neigt. Und warum heißt der Westen (im Hebräischen) maarav (wörtlich: Mischung‹)? Weil dort aller Same vermischt wird. Das gleicht einem Prinzen, der in seinen Gemächern eine schöne und züchtige Braut hatte, und er pflegte aus dem Hause seines Vaters Reichtümer zu nehmen und stets zu ihr zu bringen, und sie nahm alles und verbarg es stets und mischte alles durcheinander.«[4]  

Hier überschneiden sich in ganz typischer Weise Vorgänge innerhalb der göttlichen und der irdischen Welt. Die Mischung des Samens in der zehnten Sefira beschreibt gleichzeitig in sexueller Symbolik das Zusammenspiel männlicher und weiblicher Potenzen in Gott (der »Prinz« und seine »Braut«) sowie den Eintritt der menschlichen Seelen in die Welt, der sich durch die zehnte Sefira hindurch vollzieht, die als unterste Sefira am Übergang zur irdischen Welt steht. Gott ist in seinem Wesen männlich und weiblich, und deswegen ist auch der Mensch männlich und weiblich (nicht etwa umgekehrt), wie dies der folgende Text sehr drastisch schildert: 

»Ich habe schon gesagt, daß Gott sieben heilige Formen hat (mit den Formen‹ sind hier die Sefirot gemeint, und zwar die unteren sieben), und sie alle haben ihre Entsprechung im

Menschen, wie es heißt (Gen 1,27): Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie.‹ Und folgende sind es (die sieben Formen): das rechte und linke Bein, die rechte und linke Hand, der Rumpf mit der Stelle der Zeugung und der Kopf. Das sind (aber nur) sechs, und du sagst sieben? Sieben sind es mit seinem Weib, von dem es heißt (Gen 2,24): Und sie bilden ein Fleisch.‹«[5]  

Der irdische Mensch ist das Abbild des göttlichen »Körpers«. Seine »Extremitäten« (Beine, Arme, Rumpf mit Phallus und Kopf) entsprechen den sieben unteren göttlichen Sefirot, und so wie Gott nur mit der weiblichen zehnten Sefira vollkommen ist, bedarf auch der Mensch der Ergänzung durch das Weibliche, das mit dem Körper des Mannes eine Einheit bildet. Mit anderen Worten: Das Weibliche gehört wesentlich zum Männlichen dazu, der Mann ist ohne die Frau unvollkommen, weil Gott männlich und weiblich ist! 

Die Weiblichkeit der zehnten Sefira wird in verschiedenen Bildern veranschaulicht. Besonders plastisch in seiner sexuellen Symbolik ist das Bild des Etrog, der Zitrusfrucht, die mit dem Palmzweig, der Bachweide und der Myrte zum Feststrauß des Laubhüttenfestes gehört (Palmzweig, Bachweide und Myrte werden zusammengebunden und in der rechten Hand gehalten, während der Etrog gesondert in der linken Hand getragen wird). In dem folgenden Gleichnis wird der Palmzweig als männlich und der Etrog als weiblich interpretiert:

»Das gleicht einem König, der plante, in seinem Garten neun männliche Bäume zu pflanzen, und alle sollten Palmen sein. Was tat er? Er sagte: Werden sie alle von einer Art sein, können sie nicht bestehen. Was tat er? Er pflanzte einen Etrog unter ihnen, und dieser war einer von jenen neun, von denen er (ursprünglich) geplant hatte, daß sie männlich sein sollten. Und was ist (der) Etrog? (Der) Etrog ist weiblich.«[6]

Prof. Dr. Peter Schäfer

Anschließend wird der Etrog mit der »Pracht« des Hoheliedes verglichen, von dem es schon in der rabbinischen Literatur heißt: »Alle Bücher (der Bibel) sind heilig, das Hohelied aber ist das Allerheiligste (wörtlich:das Heiligste der Heiligen‹)[7]  So wie das Hohelied nach rabbinischer Auffassung das heiligste der biblischen Bücher ist, ist die zehnte Sefira die heiligste der sieben unteren Sefirot, »denn obere und untere Welt könnten durchaus nicht ohne das Weibliche bestehen«.[8]

Die Stellung der Shekhina im System der Sefirot 

Schauen wir uns die Stellung der weiblichen Shekhina im System der Sefirot noch etwas genauer an. Am auffallendsten ist ohne Zweifel ihre rezeptive Funktion, die immer wieder betont und in unterschiedlichen Bildern ausgedruckt wird. Sie ist das »Gefäß« (shidda), in das alle Kräfte der oberen Sefirot fließen, und gleichzeitig das Herz (lev) Gottes, das auf die 32 verborgenen Pfade der Weisheit verweist, mit denen die Welt erschaffen wurde (der Zahlenwert des hebräischen Wortes lev ist 32).[9]  Sie ist ein kostbarer Edelstein, den Gott mehr liebt als seine »Könige« (ein deutlicher Hinweis auf die anderen Sefirot) und den er umarmt, küsst, auf sein Haupt setzt (offenbar als Krone) und liebt,[10 ]  oder auch, in einem reichlich bizarren Bild, ein schönes und wohlduftendes Gefäß, das er liebt, auf seinen Kopf oder in seinen Arm nimmt (offenbar eine Anspielung auf die Kopf- und Armtefillin), ja das er sogar seinem Sohn leiht.[11] Dieser kostbare Edelstein ist selbst »gekrönt«, und alles ist in ihm »enthalten«.[12] 

Letzteres, dass sie »alles« in sich aufnimmt und enthält (gemeint sind wieder die Kräfte aller anderen Sefirot), ist ein weiteres herausragendes Kennzeichen der zehnten Sefira. So wie der Etrog nicht zum Bund des Feststraußes gehört (er wird, wie gesagt, in der anderen Hand gehalten) und doch das Gebot des Feststraußes ohne ihn nicht erfüllt werden kann, ist auch die zehnte Sefira »mit allen (anderen Sefirot) verbunden«, und zwar »mit jeder einzelnen und mit allen zusammen«.[13]  In einer Interpretation von Gen 24,1 (»Und Gott segnete Abraham mit allem«) ist dieses »alles« (hebräisch kol) als ein »schönes Gefäß« interpretiert, das »schöne Edelsteine« enthält, »die nicht ihresgleichen haben«[14] – zweifellos ein weiterer Hinweis auf die zehnte Sefira, die in sich alle Schönheit und Macht der anderen göttlichen Sefirot vereinigt. In ähnlicher Weise wird Jes 6,3 (»von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt«) ebenfalls auf die zehnte Sefira bezogen: Die »Erde«, ein Symbol für die Shekhina, ist von Gottes Herrlichkeit erfüllt, d. h. sie enthält in sich die vereinigte Macht aller anderen Sefirot.[15] Deswegen wird sie u. a. auch durch das Meer symbolisiert, das die Wasser aller Flüsse in sich enthält, d. h. die Kräfte aller anderen Sefirot: »Alle Flüsse fließen ins Meer, aber das Meer wird davon nicht voll‘ (Koh 1,7) Und was bedeutet dieses ›Meer‹? Das ist (der) Etrog« (den wir bereits als Symbol für die zehnte Sefira kennen).[16]

Doch erschöpft sich die Stellung der Shekhina keineswegs in der Position als unterster Sefira und ihre Aufgabe keineswegs in der reinen Rezeptivität. Zwar ist sie in der Hierarchie der Sefirot ganz unten angesiedelt, doch ist sie gleichzeitig in eigentümlicher Weise mit der dritten Sefira, »Einsicht« (hebräisch bina), verbunden. Das Buch Bahir sagt nämlich ausdrücklich, dass es in Wirklichkeit zwei Shekhinot gibt: »(Es gibt) eine Shekhina unten, wie (es) eine Shekhina oben (gibt). Und was ist diese Shekhina (unten)? Das ist das Licht, das aus dem Urlicht emaniert ist.«[17]»Einsicht« (bina) ist die »Mutter« der oberen Welt, von der die sieben unteren Sefirot emanieren,[18]sie ist das Urlicht, mit dem das natürliche Licht korrespondiert,[19]  oder auch die schriftliche Thora, in der die mündliche Thora ihren Ursprung hat.[20] Es scheint eine perfekte Harmonie zwischen der dritten Sefira (bina) als der untersten der drei oberen Sefirot und der zehnten Sefira (Shekhina) als der untersten der sieben unteren Sefirot zu bestehen. Während die dritte Sefira die Kräfte der oberen drei Sefirot bündelt und zu den unteren sieben Sefirot weiterleitet, bündelt die zehnte Sefira die Kräfte der sieben bzw. zehn Sefirot und gibt sie nach unten an die irdische Welt weiter. 

An der Schwelle zur irdischen Welt stehend gibt die Shekhina die in ihr versammelten göttlichen Kräfte an diese Welt ab und richtet sie gleichzeitig wieder nach oben. Als der »gekrönte Edelstein, in dem alles enthalten ist«, ist sie der Grundstein und strebt doch wieder an den Ort zurück, von dem sie gekommen ist, die dritte Sefira: »Der Stein, den die Erbauer verwarfen, ist zum Grundstein geworden.‹ (Ps 118,22) Und er steigt empor bis zudem Ort, aus dem er gebrochen wurde, wie es heißt:Von dort stammt der Hirte, der Stein Israels.‹ (Gen 49,24)«[21]

Die Trennung der zehnten von der dritten Sefira und das Streben beider nach Vereinigung beschreibt hier ganz offensichtlich keine zeitlich unterschiedlichen Seinsformen des göttlichen Wesens – etwa in dem Sinne, dass die beiden durch ein katastrophales Ereignis getrennt wurden (die innergöttliche Katastrophe ist uns aus der späteren Kabbala wohlbekannt) und ihre Wiedervereinigung in einer besseren, sprich messianischen Zukunft erwarten (vom Messias und der messianischen Zeit ist im Buch Bahir überhaupt nicht die Rede) –, sondern einen notwendigen und gleichzeitigen Zustand. Die Shekhina kann nur in ihrer Position am unteren Rande der göttlichen Welt ihre von Gott gewollte, d. h. im Wesen Gottes angelegte Aufgabe für die irdische Welt erfüllen, und sie gehört doch, ihrem Wesen nach, zu den höchsten drei göttlichen Potenzen. Allerdings werden wir noch sehen, dass die Vereinigung der beiden Sefirot keineswegs von ihnen alleine abhängig, sondern auf die Mitwirkung Israels, also der Menschen, angewiesen ist.

Prof. Dr. Peter Schäfer

Die doppelte Funktion der zehnten Sefira wird sehr plastisch durch den hebräischen Begriff daveq u-mejuchad ausgedrückt, was hier so viel wie »verbunden und (gleichzeitig) abgesondert/getrennt« heißen dürfte.[22]Das dreimalige »Heilig, heilig, heilig« von Jes 6,3 bezieht sich auf die drei oberen Sefirot, und die dritte Sefira ist »verbunden und (gleichzeitig) abgesondert«, nämlich von der zehnten Sefira.[23]  Zwei Gleichnisse erläutern diese Besonderheit in einer Exegese von Ez 3,12 (»Gepriesen sei die Herrlichkeit Gottes von ihrem Orte aus«): 

»Was ist ›Gottes Herrlichkeit‹? Ein Gleichnis. Die Sache gleicht einem König, in dessen Gemach die Königin war, an der alle Heerscharen sich entzückten, und sie hatten Söhne. Die kamen täglich, den König zu sehen und ihn zu preisen (bzw. zu grüßen). Sie sagten zu ihm: Wo ist unsere Mutter? Er erwiderte ihnen: Ihr könnt sie jetzt nicht sehen. Da sagten sie: Gepriesen (bzw. gegrüßt) sei sie, wo immer sie ist! 

Und was bedeutet ›von ihrem Orte aus‹? Hieraus folgt, daß keiner da ist, der ihren Ort kennt! Ein Gleichnis von einer Königstochter, die von fernher kam, und niemand wußte, woher sie gekommen war, bis sie sahen, daß sie tüchtig, schön und ausgezeichnet war in allem, was sie tat. Da sagten sie: Wahrlich, diese stammt gewiß von der Seite des Lichtes,[24] denn durch ihre Taten wird die Welt licht. Sie fragten sie: Woher bist du? Sie sagte: Von meinem Orte. Da sagten sie: Dann sind die Leute an ihrem Orte groß. Gepriesen sei sie und gerühmt an ihrem Orte!«[25] Im ersten Gleichnis ist der König Gott, d. h. die Gesamtheit aller Sefirot bzw. die oberste Sefira, und die Königin (aramäisch matronita, wörtlich: »[seine] Gemahlin«) ist die Shekhina, die zehnte Sefira. Als Gemahlin des Königs nimmt sie eindeutig eine herausgehobene Stellung unter den anderen Sefirot ein, den »Heerscharen«,[26] die sich an ihr entzücken. Die Söhne des göttlichen Paares sind das Volk Israel: Sie können zwar den König täglich sehen und preisen, aber nicht die Königin, ihre Mutter. Daher preisen sie die »Herrlichkeit Gottes«,ihre Mutter, wo immer sie ist, d. h. ohne ihren genauen Ort zu kennen. Das erste Gleichnis beschreibt somit die Stellung der Shekhina im System der Sefirot. Sie ist Gottes Herrlichkeit und als solche mit Gott »verbunden« (daveq), im innersten Gemach des Königs, d. h. in ihrem von der dritten Sefira ungetrennten Zustand als Teil der obersten drei Sefirot. Dazu haben die Menschen, hat Israel keinen Zugang; den ursprünglichen Ort ihrer Mutter können die Söhne nicht sehen.

»Als Königstochter ist sie gleichzeitig die mündliche Thora, die die irdische Welt erleuchtet.«

Anders im zweiten Gleichnis. Hier ist die Shekhina in ihrer Funktion als Tochter des Königs beschrieben, die, von ihrer Stellung als zehnter Sefira aus, in die Welt des Menschen hineinwirkt. Sie kommt aus einem fernen Land, »von der Seite des Lichtes«, und damit ist natürlich das Urlicht der dritten Sefira gemeint. Als Königstochter ist sie gleichzeitig die mündliche Thora, die die irdische Welt erleuchtet. Nur in diesem Zustand des natürlichen Lichtes und der mündlichen Thora können die Menschen sie sehen und mit ihr sprechen; ihr eigentlicher Ort aber, von dem sie herkommt, bleibt ihnen weiterhin verborgen. Das zweite Gleichnis beschreibt somit die Stellung der Shekhina in ihrem Zustand der Absonderung (mejuchad), des Getrenntseins von ihrem göttlichen Ursprung, des Aufenthaltes unter den Menschen. Die Shekhina ist gleichzeitig »verbunden« und »getrennt«, herausragender Teil des Sefirotsystems und zugleich die Kraft, durch die die göttliche Sphäre in die irdische Welt hineinwirkt, Gott mit den Menschen kommuniziert. 

Mediatrix zwischen Himmel und Erde 

Diesen Aspekt gilt es weiter zu vertiefen. Die Beschreibung der Funktion der Shekhina als Mittlerin (mediatrix) zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde, ist eines der zentralen Anliegen des Buches Bahir und der Kabbala überhaupt. Eine herausragende Rolle spielt dabei ihre Eigenschaft als mündliche Thora, genauer die Trennung zwischen schriftlicher und mündlicher Thora. Während die schriftliche Thora, wie wir gesehen haben, mit der dritten Sefira identifiziert wird und für den Menschen unerreichbar in der göttlichen Sphäre verbleibt, wird die mündliche Thora mit der zehnten Sefira gleichgesetzt und kann so, nur so, in der irdischen Welt wirksam werden. Diese Trennung zwischen schriftlicher und mündlicher Thora steht in eklatantem Widerspruch zur klassischen rabbinischen Tradition, nach der beide Formen der Thora, die schriftliche wie die mündliche, Mose am Berg Sinai gegeben wurden, und die Rabbinen legen großen Wert darauf zu betonen, dass nichts von der Thora im Himmel zurückgeblieben ist.[27]Indem das Buch Bahir die Thora, und damit das weibliche Prinzip in Gott, im innersten Wesen der Gottheit ansiedelt und gleichzeitig der Welt der Menschen ausliefert, entwickelt es einen machtvollen Mythos, der weit über das hinausgeht, was von der Tradition vorgegeben ist.

»Die mündliche Thora, die Israel gegeben wird, ist damit nämlich nicht nur ein Buch, sondern Gott selbst, der in Gestalt seiner Tochter die Welt betritt.«

Die mündliche Thora, die Israel gegeben wird, ist damit nämlich nicht nur ein Buch, sondern Gott selbst, der in Gestalt seiner Tochter die Welt betritt. 

Der König ist wieder Gott und die Tochter wieder die Shekhina, die zehnte Sefira. Der königliche Prinz ist sehr wahrscheinlich Salomo, dem Gott (nach 1 Reg 5,9 ff. 26) Weisheit gab, ein anderes Symbol für die mündliche Thora. Als Tochter des Königs gehört die Shekhina zur göttlichen Sphäre, als mündliche Thora wird sie mit Salomo verheiratet, also in die untere Welt geschickt. Sie ist vom König, ihrem Vater, getrennt und bleibt ihm doch immer nahe: Durch das Fenster können sie zusammenkommen, wann immer sie wollen. Und was noch wichtiger ist, auch auf der Erde behält sie die »Herrlichkeit« ihrer göttlichen Herkunft, d. h. ihr göttliches Wesen. 

Ein weiteres Gleichnis beschreibt den Zugang des Menschen zu Gott, der durch die mündliche Thora eröffnet wird, genauer. Es erläutert die schon erwähnten 32 Wege der Weisheit, die bei Gott verborgen waren und mit denen er die Welt erschaffen hat: 

»Und was sind diese 32? Er sagte: Das sind die 32 Wege. Das gleicht einem König, der sich im Innersten der Gemächer befand, und die Zahl der Gemächer war 32, und zu jedem Gemach gab es einen Weg. Ziemte es sich nun für den König, daß jedermann auf diesen seinen Wegen beliebig seine Gemächer betreten konnte? Nein! Ziemte es sich aber für ihn, seine Perlen und Schätze, Juwelen und Edelsteine, überhaupt nicht offen zu zeigen? Nein! Was tat der König? Er nahm die Tochter‹ und faßte in ihr und ihren Kleidern (d. h. Erscheinungsformen) alle Wege zusammen, und wer das Innere betreten will, muß zuerst hierher schauen. Und in seiner großen Liebe zu ihr nennt er sie manchmal meine Schwester‹, denn sie stammen ja von einem Orte, manchmal nennt er sie meine Tochter‹, denn sie ist (ja) seine Tochter, und manchmal nennt er sie meine Mutter‹.«[28]

Dies ist einer der wichtigsten Texte über die Shekhina. Die 32 Wege der Weisheit sind das Wesen der himmlischen wie der irdischen Welt; sie präfigurieren gewissermaßen im Himmel, was dann in der Schöpfung auf die Erde übertragen wurde.[29]  Wer sie kennt, hat Zugang zum König, d. h. zu Gott, und zu allen Geheimnissen der Schöpfung. Gott wollte seine himmlischen Schätze nicht so ohne Weiteres und für jedermann zugänglich machen, aber er wollte sie auch nicht vor der Welt verbergen (gründet die irdische Welt doch letztlich in ihnen). So beschloss er, sie in seiner »Tochter«, der Shekhina und mündlichen Thora, zusammenzufassen: Sie enthält in sich alle Wege der Weisheit; wer diese erkennen und ergründen möchte, muss auf sie, die Shekhina, schauen, d. h. in die Thora. Die Thora ist das einzige Medium, durch das Gott und die Geheimnisse seiner Schöpfung für den Menschen zugänglich sind. 

Das Gleichnis versucht also einmal mehr, die schwer greifbare Stellung der Shekhina als Teil sowohl der himmlischen als auch der irdischen Welt zu beschreiben, nicht in abstrakten Begriffen, sondern in der Form der Bildersprache des Gleichnisses, die für das Buch Bahir wie für die jüdische Mystik überhaupt charakteristisch ist. Als Thora, die Salomo stellvertretend für alle Menschen anvertraut wird, ist die Shekhina Gottes Tochter; als eine der zehn Sefirot ist sie seine Schwester, gleichberechtigte Partnerin im Wechselspiel der innergöttlichen Potenzen; als Mutter seiner Söhne, d. h. Israels, ist sie seine Gemahlin.[30]  

Nur in diesem letzten Sinne, als Mutter seiner Söhne, kann er sie in dem merkwürdigen Bild des Gleichnisses auch »Mutter« nennen (wenn auch natürlich nicht im wörtlichen Sinne »meine Mutter«). Die Vorlage für diese Formulierung war offensichtlich ein Gleichnis in der rabbinischen Literatur, vor dessen Hintergrund die gewagte Aussage des Bahir erst richtig deutlich wird. Ausgangspunkt des rabbinischen Gleichnisses ist der Bibelvers Cant 3,11 (»Kommt heraus und schaut, ihr Töchter Zions, den König Salomo mit der Krone, mit der ihn seine Mutter gekrönt hat am Tage seiner Hochzeit«): 

»Das gleicht einem König, der eine einzige Tochter hatte, und er liebte sie über alles und nannte sie meine Tochter‹. Er hörte nicht auf, sie zu lieben, bis er sie meine Schwester‹ nannte, ja er hörte nicht auf, sie zu lieben, bis er sie (schließlich) meine Mutter‹ nannte. So liebte auch der Heilige, er sei gepriesen, Israel über alles und nannte sie meine Tochter‹ … Er hörte nicht auf, sie zu lieben, bis er sie meine Schwester‹ nannte …, ja er hörte nicht auf, sie zu lieben, bis er sie (schließlich) meine Mutter‹ nannte …«[31]

Thema dieses Gleichnisses ist die Liebe Gottes zu Israel. »Tochter«, »Schwester« und »Mutter« sind nichts weiter als Metaphern, die die Besonderheit und Steigerung dieser Liebe zum Ausdruck bringen: Gott liebt Israel wie jemand seine Tochter, Schwester oder Mutter liebt. Die höchste Form der Liebe ist die Mutterliebe, daher nennt er Israel sogar »meine Mutter«. Ganz anders, viel kühner und konkreter, ist das Gleichnis im Buch Bahir. Hier ist die »Tochter« Gottes wirklich seine Tochter, nämlich die Shekhina, die zu den Menschen gesandt wird; seine »Schwester« ist wirklich seine Schwester, und die »Mutter« ist seine Gemahlin sowie die Mutter seiner Söhne. Überträgt man das rabbinische Gleichnis auf das Gleichnis im Buch Bahir, so ist es diese letzte Funktion der Shekhina als Gemahlin und Mutter, in der sich die höchste Form der Liebesbeziehung zwischen Gott und seiner weiblichen Partnerin konkretisiert. Dies ist sicher auch gemeint, doch zielt der Tenor des Bahir-Gleichnisses ganz auf die Funktion der Shekhina als Tochter und damit auf Gottes Verkörperung in der Welt. »Durch seine weibliche Kraft, die Shekhina, tritt Gott in die Welt ein.«[32]

»Durch seine weibliche Kraft, die Shekhina, tritt Gott in die Welt ein.«

Was genau ist nun die Aufgabe der Shekhina als Verkörperung und Sendbotin Gottes in der Welt? Hier gilt dasselbe wie für ihre Rolle im System der innergöttlichen Wirkkräfte: Sie ist nicht nur die passive Gegenwart Gottes unter den Menschen, sondern nimmt aktiv an deren Schicksal Anteil, sie hilft Israel, Zugang zu Gott zu gewinnen. Dies gründet sich, wie zu erwarten, auf ihrer Kapazität als mündliche Thora, in der alle Gebote vereinigt sind, die Israel erfüllen muss.[33]  In ihrer doppelten Eigenschaft als Teil der Gottheit und als mündliche Thora »erleuchtet sie die Welt«[34]  in einem doppelten Sinne: Sie macht Gott unter den Menschen gegenwärtig und sie hilft Israel, die Thora zu erfüllen.

»Ob und wie Israel die Thora erfüllt, hat deswegen Auswirkungen nicht nur auf Israel, sondern auch auf Gott.«

Ob und wie Israel die Thora erfüllt, hat deswegen Auswirkungen nicht nur auf Israel, sondern auch auf Gott; die Shekhina reagiert auf Israels Verhalten und ist selbst dadurch beeinflusst. Wenn Israel sündigt, geht es auch der Shekhina schlecht, wenn es Gottes Willen tut, geht es ihr gut: 

»Das gleicht einem König, der eine (schöne) Gemahlin hatte und Kinder von ihr, die er liebte und erzog. Sie gerieten auf schlechte Wege, da haßte er sie und haßte ihre Mutter. Da ging ihre Mutter bei ihnen umher und sagte (zu ihnen): Warum handelt ihr so, daß euer Vater euch und mich haßt, bis sie sich besannen und wieder nach dem Willen ihres Vaters taten. Als ihr Vater dies sah, liebte er sie wieder wie vorher und gedachte ihrer Mutter (eine Handschrift:[35]  und liebte ihre Mutter).«[36]

Der König ist wieder Gott, seine Gemahlin die Shekhina, und die Kinder sind Israel. Die Shekhina ist also wieder in ihrer doppelten Eigenschaft als weibliche Partnerin in der göttlichen Sphäre und als die Mutter der Kinder des göttlichen Paares porträtiert. In dieser zweiten Funktion ist sie für das Wohlverhalten der Kinder verantwortlich und entsprechend von ihrem Gemahl »gehasst« (ein starker Ausdruck), wenn die Kinder sich schlecht benehmen. Als Mutter Israels ist sie, trotz ihrer göttlichen Herkunft, ein Teil Israels geworden, wird sie so sehr mit Israel identifiziert, dass ihr eigenes Schicksal von ihnen abhängig ist. Folglich ist sie es, die Israel überzeugen muss, die Gebote zu erfüllen und Buße zu tun, damit Gott sie und ihre Mutter wieder liebt, da Gott Israel nur durch sie liebt und sie nur durch Israel. Die Deutung geht sicher zu weit, aber das Gleichnis vermittelt beinahe den Eindruck, als liebe Gott Israel mehr als die Shekhina, als sei die wichtigste Aufgabe der Mutter, die Kinder mit ihrem Vater zu versöhnen. Nur wenn die Kinder Buße tun und zu ihrem Vater zurückkehren, »erinnert« er sich ihrer Mutter, d. h. setzt er sie wieder in ihre Position als seine geliebte Gemahlin ein.

Ein anderes mythisches Bild der dreifachen Beziehung zwischen Gott, seiner Gemahlin und Mutter seiner Kinder sowie Israel beruht auf der Unterscheidung zwischen dem Urlicht der Schöpfung (Gen 1,3) und dem natürlichen Licht, das zwischen Tag und Nacht trennt (Gen 1,14). Wie wir gesehen haben, wird das verborgene Urlicht mit der dritten Sefira, »Einsicht«,[37] identifiziert und das natürliche Licht, das die irdische Welt erleuchtet, mit der zehnten Sefira, der Shekhina und mündlichen Thora.[38] Die folgende Exegese beschreibt die intime Verbindung zwischen den zwei Lichtern und Israel:

»Der Abglanz (noga) wird wie das Licht (‚or) sein.‹ (Hab 3,4) Dereinst wird der Abglanz, der vom Urlicht genommen wurde, wie das (Ur)licht (selbst) sein, wenn meine Kinder die Tora und die Gebote halten, die ich gab, um sie zu belehren, wie es heißt (Prov 1,8): Höre, mein Kind, auf die Belehrung deines Vaters und verwirf nicht die Tora deiner Mutter.‹ Und es heißt weiter (Hab ebd.): ›Strahlen gehen aus von seiner Hand, und dort ist das Verborgene seiner Macht.‹ Was ist das ›Verborgene seiner Macht‹? Das ist jenes Licht, das er verbarg und versteckte, von dem es heißt (Ps 31,20): ›das du verbargst für die, die dich fürchten‹. Und jener (Teil), der uns (davon) geblieben ist, ›(den) hast du gemacht für die, die dir vertrauen‹ (ebd.) in dieser Welt, die deine Tora bewahren und deine Gebote halten, die deinen großen Namen heiligen und privat und öffentlich einigen (mejachadim: als einen bekennen) …«[39]

Das Urlicht und das natürliche Licht, die dritte und zehnte Sefira, sind zwar getrennt, aber sie können vereinigt werden, wenn Israel die Thora hält. Israels Erfüllung der Thora führt zur Vereinigung oder besser Wiedervereinigung des natürlichen Lichtes mit dem Urlicht, der mündlichen Thora mit der schriftlichen Thora, der Shekhina mit »Einsicht« (bina). Wenn Israel Gottes großen Namen heiligt, einigt es ihn, was hier nichts anderes bedeuten kann, als dass es die zehn Sefirot vereinigt: Die Shekhina wird an ihren eigentlichen Ort (die dritte Sefira) zurückkehren, und alle Sefirot werden eins werden. Ob dies jederzeit möglich ist oder nur in der Zukunft (etwa der messianischen Zeit der Erlösung), wird nicht gesagt. Es scheint aber, als liege der Akzent eher auf der Gegenwart, also dem jederzeit möglichen Akt der Vereinigung der Sefirot (wie auch der gegenläufigen Bewegung, ihrer erneuten Entfaltung in die zehn göttlichen Potenzen).[40] 

Fassen wir kurz zusammen: Die Shekhina ist die weibliche Kraft Gottes und als solche die unterste und in gewisser Weise schwächste im dynamischen Zusammenspiel der göttlichen Kräfte, gleichzeitig aber auch die wichtigste und stärkste, weil sie in sich den Fluss aller anderen Potenzen vereinigt. Sie überbrückt die himmlischen und irdischen Sphären nicht nur, weil sie an der Grenze zwischen Gottheit und menschlicher Welt angesiedelt, sondern vor allem, weil sie Gottes Verkörperung in der Welt ist. Durch sie tritt Gott in die Welt ein, und ihre einzige Aufgabe ist es, Israel mit Gott zu vereinigen. Wenn ihr dies gelingt, wird sie nicht nur Israel zu Gott führen, sondern selbst zu ihrem göttlichen Ursprung zurückkehren. Indem sie unter Israel Wohnung genommen hat, hat sie Israels Schicksal zu ihrem eigenen Schicksal gemacht: Sie ist für Israel verantwortlich und Israel für sie. Nur durch sie hat Israel Zugang zu Gott, so wie ihre (Wieder-)Vereinigung mit ihrem göttlichen Gemahl letztlich von Israel abhängt. Da sie allein zu beiden Welten gehört, kann die irdische Welt nur durch sie mit der himmlischen versöhnt werden, kann der Mensch nur durch sie seinen Weg zu Gott finden. Die weibliche Kraft ist der Schlüssel zu beiden Welten. Ohne sie würde die himmlische Welt unvollständig sein, und die irdische Welt würde weder existieren noch könnte sie ihren Weg zu ihrem Schöpfer zurückfinden.

 

Der Beitrag gibt die weitgehend unveränderte und nur durch Anmerkungen erweiterte Fassung eines Vortrags wieder, der auf Einladung der Deutschen Forschungsgemeinschaft am 11.2.1998 in Bonn-Bad Godesberg gehalten wurde. Er erschien zuerst in ›Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte vol. 49‹ (1998): 259–279 und wurde für die vorliegende Veröffentlichung gekürzt. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Prof. Dr. Peter Schäfer

Prof. Dr. Peter Schäfer (geb. 1943) ist ein deutscher Judaist und Hochschullehrer, u.a. von 1992-2013 in Princeton. Er gilt als einer der führenden Experten für das Judentum der Antike und des frühen Mittelalters. Schäfer hat sowohl den Mellon Award als auch den Leibniz-Preis erhalten. Von 2014 bis 2019 leitete er als Direktor das Jüdische Museum Berlin.

Bildnachweis: © Adobe Photostock

Fußnoten

2 Dazu ausführlich Arnold Goldberg, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur (Berlin 1969). Zu ersten Ansätzen der Verselbstständigung in einigen späten Midrashim s. Gershom Scholem, Schechina; Das passiv-weibliche Moment in der Gottheit, in: ders., Von der mystischen Gestalt der Gottheit (Zürich 1962 = Frankfurt a. M. 1973), 148 ff.

3 Gershom Scholem, Das Buch Bahir (Leipzig 1923: die Münchener Dissertation Scholems), § 104. Alle Stellenangaben und Übersetzungen (teilweise mit leichten Veränderungen) beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf diese Ausgabe.

4 Ebd.

5 § 116.

6 § 117.

7 Mishna Jadajim 3,5.

8 § 117.

9 § 43; vgl. auch §§ 67, 75, 97.

10 § 49.

11 § 101.

12 § 61.

13 § 118.

14 § 52.

15 § 90.

16 § 120.

17 § 116. Vorsichtiger Scholem (wie Anm. 3) 167 f.
18 § 74.

19 § 97.

20 Ebd.; vgl. auch §§ 98 f.; 131.

21 § 61.

22 Scholem (wie Anm. 4) § 89 übersetzt: »verbunden und geeint«, was sprachlich möglich ist, aber keinen Sinn ergibt. Mejuchad bedeutet hier eher »besonders, gesondert«, im Sinne von »abgesondert, getrennt«. Ähnlich auch Joseph Dan / Ronald C. Kiener, The Early Kabbalah (New York etc. 1986) 62: »united and special (meaning here: separated)«.

23 § 89.

24 Andere Lesart: »diese ist gewiß aus der Form des Lichtes genommen«.

25 § 90 a) und ß); die Übersetzung folgt weitgehend Scholem (wie Anm. 3) 160 f.

26 Zu den Heerscharen als Begriff für die Sefirot s. auch § 90 y).

27 Vgl. etwa Devarim Rabba 8,6; Fragmententargum und Codex Neofiti zu Dt 30,12; babylonischer Talmud Bava Metzia 59b.

28 § 43. Übersetzung nach ebd., 157 f.

29 Zu den zweiunddreißig Wegen s. auch §§ 62, 67, 75, 97 (Quelle Sefer Jetzira 1,1).

30 § 51 und 90 a).

31 Shir ha-Shirim Rabba 3,11 § 2.

32 Der Vers Cant 3,11 wäre dann im Sinne des Bahir zu verstehen: Salomo wurde durch seine Mutter, die dritte Sefira, mit der Krone der Thora, der zehnten Sefira, gekrönt.

33 Vgl. z. B. § 131.

34 § 90.

35 Randglosse der Hs. München; s. Daniel Abrams, The Book Bahir. An Edition Based on the Earliest Manuscripts (Los Angeles 1994) 146: Faksimile der Hs. München 209, fol. 9b.

36 § 51 a).

37 §§ 131, 133.

38 §§ 97, 98, 99.

39 § 98.

40 Dafür spricht das »in dieser Welt«; vgl. auch § 137, wo ebenfalls jede eschatologische Konnotation fehlt.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen