Samirah Kenawi

Samirah Kenawi – Das gute Leben

Wie wir wirklich Wohlstand für alle schaffen können

Wohlstand ist nicht nur positiv zu sehen, sondern wird problematisch, wenn er auf dem Elend anderer Lebewesen gründet. Der Artikel stellt die Frage, was ein gutes Leben wirklich ist und wie wir dahin kommen können. Kenawis Vorschlag geht von der politischen Ebene aus und wirft einen systemkritischen Blick auf den Kapitalismus. Nicht immer ist es mit spirituellen Vorstellungen getan. Wir müssen uns auch den materiellen Bedingungen stellen und im gesellschaftlichen Alltag konkret handeln.

Wohlstand, das mag für viele nach Behaglichkeit, Sattheit und Sicherheit klingen. Für mich klingt es nach Überfluss, sinnloser Fülle und Stillstand. Das Wort assoziiert für mich keineswegs ein gutes Leben, sondern den Versuch, mitten im Fluss des Lebens einen festen Stand zu finden, eben WohlStand.

»Ein gutes Leben, das ist für mich ein gutes DaSein.«

Ein gutes Leben, das klingt für mich nach ständiger Veränderung, nach dem Kommen und Gehen von guten Freunden, von gutem Essen, von guter Arbeit und guter Erholung. Ein gutes Leben, das ist für mich ein gutes DaSein. Mit WohlStand verbinde ich hingegen das Bedürfnis nach Festhalten, nach Haben-Wollen. Zu Sein versus Haben ist nicht nur von Erich Fromm schon viel gesagt worden. Deshalb lohnt es hier nicht, noch viele Worte zu machen.

Alles in der Welt ist ewigem Wandel unterzogen. Augenblicke dieses Wandels genießen zu können, das ist Glück. Den Wandel im Allgemeinen akzeptieren zu können, das ist das Geheimnis des guten Lebens. Wohlstand mag ein Fundament bieten, um den Wandel des Lebens genießen zu können, und zweifelsfrei weint es sich besser in einem Mercedes als unter einer Brücke.

»Doch solange der Wohlstand der einen auf dem Elend anderer gründet, aus ihrer Armut erwächst, kann ich darin kein Fundament für ein gutes Leben sehen.«

Doch solange der Wohlstand der einen auf dem Elend anderer gründet, aus ihrer Armut erwächst, kann ich darin kein Fundament für ein gutes Leben sehen. Inbegriff dieser Verkehrung ist für mich der Wunsch, von der Rendite des eigenen Wohlstandes (des eigenen, meist ererbten Vermögens) leben zu können und infolgedessen nicht mehr arbeiten gehen zu müssen.

Woher kommt dieser Wohlstand? Wurde er durch eigene Arbeit erworben? War diese Arbeit so frustrierend, dass es keinen größeren Wunsch gibt, als ihr zu entfliehen? Wer arbeitet für den Konsum der Wohlhabenden, wenn sie es selbst nicht mehr tun (müssen)? Ich kann in all diesen Fragen nirgendwo ein gutes Leben entdecken. Und doch bleibt die Frage, wie viel Wohlstand – wie viel Besitzstand – für ein gutes Leben nötig ist? Eine komplexe Antwort auf diese Frage würde uns in ökonomische Tiefen führen. Wenden wir uns hier nur dem guten Leben zu.

Ein gutes Leben, das für immer mehr Menschen zu einer Sehnsucht wird und ihnen aus Resignation oder Erschöpfung zu entschwinden droht. Ich will diese Sehnsucht noch einmal wachrütteln.

Zur Definition:

»Arbeitseinkommen« vs. »Kapitaleinkommen« / »Besitzeigentum« vs. »Kapitaleigentum« 

Arbeitseinkommen sind reale Werte, die echte Menschen durch ihre Arbeitskraft erschaffen. Sie entäußern sich im Besitzeigentum, das somit ebenso real und echt ist. Kapitaleinkommen ist demgegenüber arbeitsloses Einkommen aus Zinsen und Aktien und stellt keinen Wert dar, der auf echter Arbeit beruht. Die Kapitalwerte verzerren damit den realen wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozess zum Nachteil der arbeitenden Bevölkerung.

Das gute Leben

Giacomo Casanova soll laut Internet sinngemäß gesagt haben: »Willst du Menschen beflügeln, ein Boot zu bauen, wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem Meer.« Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der wir notwendige und sinnvolle Arbeit auf alle verteilen und deshalb nur noch durchschnittlich vier Stunden am Tag oder drei bis vier Tage in der Woche arbeiten müssen. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der die Kapitaleinkommen sinken und die Lohneinkommen steigen, sodass alle in Würde leben und arbeiten können. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der wir wieder Zeit haben, die kleinen Dinge im Leben zu genießen: einen entspannten Feierabend im Kreis von Freund*innen oder Familienangehörigen, weil uns Alltagssorgen wie Angst um die Arbeitsstelle, die nächste Mieterhöhung, die zu kleine Rente, die Zusatzkosten bei der Zahnbehandlung etc. fremd geworden sind.

»Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der Wörter wie Konsumterror und Wachstumswahn, Klimakatastrophe und Umweltzerstörung in Vergessenheit geraten sind.«

 Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der Wörter wie Konsumterror und Wachstumswahn, Klimakatastrophe und Umweltzerstörung in Vergessenheit geraten sind. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der wir Menschen nicht zu vermeintlich autarken Egoist*innen erziehen, sondern zu Menschen, die sich ihrer Stärken, aber auch ihrer Schwächen bewusst sind und gelernt haben, sich in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und zu gegenseitigem Nutzen zu ergänzen. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der die Menschenrechte für alle gleichermaßen gelten und nicht davon abhängen, welchen Pass die Menschen haben. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, in der das Summen der Bienen und Hummeln wieder öfter zu hören ist. Ich habe Sehnsucht nach Sommer ohne Angst vor Dürre und Winter mit Schnee und Eis. 

»Ich habe Sehnsucht nach einem Alltag voller Gelassenheit und Freude auf den nächsten Tag. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, die unteilbar ist, weil alle Menschen in ihr einen Platz haben.«

Ich habe Sehnsucht nach einem Alltag voller Gelassenheit und Freude auf den nächsten Tag. Ich habe Sehnsucht nach einer Welt, die unteilbar ist, weil alle Menschen in ihr einen Platz haben, an dem sie in Frieden und Würde leben können, weil in dieser Welt Rechte mit Pflichten und Freiheit mit Verantwortung untrennbar verbunden sind.

Enttäuschte Hoffnungen

Doch reicht es wirklich, »Her mit dem schönen Leben!« zu fordern? Vor gut 100 Jahren hatten Millionen Menschen eine Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Viele haben in blindem Vertrauen das Schiff des Marxismus bestiegen und auf dem Meer der Revolution ihr Leben gegeben. Der Traum erlitt Schiffbruch, weil Ingenieur*innen und Bootsbauer*innen zu ängstlich oder zu unwillig waren, die Baupläne für das Schiff gründlich zu diskutieren. Gescheitert ist das Experiment Sozialismus nicht an der Lust der »Matros*innen«, zu fernen Ufern aufzubrechen. Im Gegenteil: Viele haben sich in bester Absicht für den Traum geopfert. Rückblickend war ihr Tod umsonst, ihr Kampf um die Macht erfolglos und ihr Ringen mit den Mühen der Ebene vergeblich. 30 Jahre nach dem Untergang der sozialistisch regierten Staaten bzw. des Ostblocks haben viele Opfer des Sozialismus ihre Leiden nicht verwunden, während zugleich von den sozialen Errungenschaften kaum etwas geblieben ist. Das historische Scheitern des Marxismus hat nicht nur Millionen Opfer gefordert, es hat auch viel Idealismus aufgebraucht. Es hat den Glauben zerstört, Menschen könnten soziale Gerechtigkeit und Frieden schaffen. Sehnsucht allein reicht nicht. Ein Aufbruch muss auch gut geplant werden.

Samirah Kenawi

Aber lässt sich nach der Erfahrung dieses furchtbaren Scheiterns der Glaube an ein gutes Leben für alle überhaupt wiederbeleben? Ergibt es Sinn, neue unrealistische Luftschlösser in die Wolken zu bauen? Ist es nicht endlich an der Zeit, der Realität offen ins Antlitz zu sehen? Woher soll das schöne Leben kommen, da unsere Welt immer offensichtlicher am Abgrund dahintaumelt? Wäre es nicht notwendig, maßzuhalten und Regeln durchzusetzen? Das klingt wahrlich nicht nach Sehnsucht nach dem Meer, sondern nach Mühe, Arbeit und Bescheidenheit. Also welche Sehnsucht kann ich in Süchtigen wecken? Und süchtig sind wir, die wir in den sogenannten Industriestaaten leben, alle. Wir sind süchtig nach einem bequemen Leben. Längst ist uns klar, dass sich die Welt unseren Lebensstandard nicht leisten kann. Weniger klar ist, dass auch wir selbst uns unseren Lebensstandard nur leisten können, weil wir eben nichts Äquivalentes dafür leisten müssen. 40 % des EU-Haushaltes fließen in Agrarsubventionen. Diese Milliarden sind unsere Droge. Sie sorgen zum einen dafür, dass unsere Lebensmittel so billig sind, sodass wir in Deutschland etwa die Hälfte davon wegwerfen können. Zum anderen stützen sie unser Glaubensgebäude, dass wir mehr arbeiten, als wir konsumieren. Deutschland war lange Zeit Exportweltmeister. Exportüberschüsse entstehen, weil wir der Welt mehr verkaufen, als wir von ihr kaufen. In den Büchern der Konzerne sorgt das für gute Profite. Doch die Rechnung ist manipuliert. Da Agrarsubventionen landwirtschaftlichen Betrieben Einkommen unabhängig vom bzw. zusätzlich zum Verkaufserlös aus ihren Produkten verschaffen, können sie Lebensmittel zu Preisen unter den Herstellungskosten auf den Markt bringen. Dadurch drücken wir die Weltmarktpreise für Lebensmittel. Sogenannte Agrarstaaten müssen deshalb zu Dumpingpreisen produzieren. Das senkt ihr allgemeines Lohnniveau. In den so erzwungenen Billiglohnländern können wir auch Textilien und andere Konsumgüter unterhalb unserer Herstellungskosten einkaufen. Dank unserer Agrarsubventionen kaufen wir auf dem Weltmarkt folglich viele Konsumgüter unter unseren Herstellungskosten ein. Unsere Importausgaben sinken dadurch unter die realen Kosten. Unsere Exporterzeugnisse können wir dagegen zu Preisen, die deutlich über den Herstellungskosten liegen, verkaufen, denn wir exportieren vor allem Hightech und Waffen. Dank Patentrechten und technischem Know-how können wir unsere Exportwaren mit Preisaufschlägen verkaufen. Ob solche extra Profite gerechtfertigt sind, darüber lässt sich vielleicht streiten. Aber ist es fair, Lebensmittel- und Konsumgüterpreise künstlich unter den Marktpreis zu drücken? In einer wirklich freien Marktwirtschaft wäre das unmöglich, denn diese müsste ohne Subventionen auskommen. Es zeigt sich, dass Subventionen freie Marktwirtschaft verhindern, uns aber enorm zum Vorteil gereichen, weil sie unsere Handelsbilanz positiv erscheinen lassen. In Preisen ausgedrückt exportieren wir mehr, als wir importieren. Infolge der Preismanipulation importieren wir jedoch mehr Arbeitsleistung und Ressourcen, als wir exportieren. Wir drücken unsere Importpreise künstlich runter und treiben unsere Exportpreise künstlich hoch.

Gerechtigkeit

Vor diesem Hintergrund, Sehnsucht nach einem guten Leben zu wecken, heißt, Sehnsucht nach einem bescheidenen Leben zu wecken. Ich bezweifle, dass ein tiefes Gefühl von Gerechtigkeit der neuen Bescheidenheit Glanz verleihen kann. Nach dem Scheitern des Sozialismus sind Visionen von sozialer Gerechtigkeit, von Frieden unter den Menschen und einem Leben im Einklang mit der Natur offensichtlich nur noch schwer vermittelbar. Gerechtigkeit – was soll das sein?

Versuche, allgemeingültige Kriterien für Gerechtigkeit aufzustellen, sind bisher gescheitert. Ich denke, es liegt unter anderem daran, dass wir Menschen zu unterschiedlich in unseren Anlagen und unserer soziokulturellen Ausgangslage sind. Infolge dieser Unterschiedlichkeit lassen sich wohl kaum allgemeingültige Prinzipien aufstellen, die alle als gerecht empfinden werden. Weil wir Menschen unterschiedlich sind, können wir uns einer Idee von Gerechtigkeit nur annähern. Für mich gibt es daher nur ein Streben nach Gerechtigkeit. Ziel des Gerechtigkeitsstrebens sollte es sein, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und sie gerade deshalb unterschiedlich zu behandeln, allerdings allein mit dem Ziel, Chancengleichheit zwischen ihnen zu ermöglichen.

Denn gerade die Unterschiedlichkeit von Menschen macht eine Gesellschaft erfolgreich. Je besser wir einander in unserem Anderssein akzeptieren und fördern, desto besser können wir uns ergänzen. Erst unsere Unterschiede bewirken, dass das Ganze mehr als die Summe der Einzelteile ist. Wenn wir in unserer individuellen Befähigung zusammenfinden und zusammenarbeiten, wenn wir alle teilhaben lassen und alle einbeziehen, dann habe ich Hoffnung, dass meine eingangs formulierte Sehnsucht Wirklichkeit werden kann. Dann können wir mit weniger Arbeit glücklicher und entspannter leben. Für diese Sehnsucht sollten wir gemeinsam ein Schiff bauen. 

Die digitale Revolution

Tatsächlich haben wir jetzt – im digitalen Zeitalter – die Mittel in der Hand, ein gerechtes Tauschsystem zu schaffen und dadurch den Geldkreislauf zu schließen. Wir könnten mittels Internet ein digitales Geldsystem unabhängig von vorhandenen Währungen und Banken errichten. Mittels Handys oder anonym mittels Guthabenkarten könnten wir dieses selbst geschaffene virtuelle Geld nutzen, um uns schon jetzt mehr und mehr vom System staatlicher Währungssysteme zu lösen. Um ein solches Geldsystem zu schaffen, braucht es keine Massenbewegung, sondern einen Kreis versierter Programmierer*innen. Um einem Geldsystem Akzeptanz zu verschaffen, braucht es jedoch weit mehr. Ein solches System muss beworben, seine Vorteile müssen kommuniziert werden.

Denkbar ist es, im Vorfeld des Programmierens einer neuen digitalen Währung unterschiedliche Geldsysteme als Internetspiele zu testen. Theoretische Diskussionen der Vor- und Nachteile der konkurrierenden Modelle würden dadurch überprüfbar. Die Funktionstüchtigkeit unterschiedlicher Modelle könnte verglichen werden. Die Scheinrealität einer Spielewelt würde Modellversuche mit unvoreingenommenen Teilnehmer*innen ermöglichen. Natürlich erfordert das viel Diskussion und eine enge Zusammenarbeit zwischen Geldmodellentwickler*innen und Spieleprogrammierer*innen. Dieser Prozess könnte jedoch auch für die gesellschaftliche Debatte sehr bereichernd sein. Die Internetspiele können dabei zugleich Aufklärungs-, Lern- und Werbeplattform sowie Testfelder sein.

Eine zumindest in meinen Augen spannende Aufgabe. Die Frage, ob und wie ein solches Projekt finanziert werden kann oder soll, birgt allerdings große Gefahren. Denn Geld macht abhängig und erpressbar. Außerdem schafft Geld Eigentumsverhältnisse, die ggf. blockieren können. Insgesamt bleibt das Ganze eine große Herausforderung.

Der Sieg der Reichen

Die Herausforderung ist umso größer, als die Karten schlecht gemischt sind. Warren Buffet ist sich sicher, dass die Reichen den Krieg zwischen Arm und Reich gewinnen werden, denn sie halten alle Trümpfe – alle gesellschaftlichen Ressourcen – in ihren Händen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er recht behält. Doch den Reichen fehlt etwas, das ihrem Reichtum vielleicht die Stirn bieten kann: eine positive Vision. Sie wollen nichts anderes als den Status quo erhalten. Genau das ist ihre Schwäche, denn die bestehenden Verhältnisse sind auf Selbstzerstörung programmiert. Der Krieg zwischen Arm und Reich wird deshalb zwangsweise in einer Selbstzerstörung des kapitalistischen Systems enden. Diese Selbstzerstörung ist keine historische Mission einer Klasse, sondern eine historische Gewissheit jenseits von Klassen und Schichten.

Samirah Kenawi

Ein Sieg der Reichen bedeutet, dass sie auch nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus in den entstehenden neofeudalen Strukturen reich sein werden, zumindest wenn wir das Eigentumsrecht nicht umfassend reformieren. Denn auch wenn gigantische Geldvermögen vernichtet werden, sichert ein Fortbestand heutiger Eigentumsrechte doch den Fortbestand von Arm und Reich. Nur eine umfassende Eigentumsreform, in der Rechte an Pflichten gekoppelt werden, sowie die Entwicklung und Durchsetzung eines tauschgerechten Verteilungssystems können aus der Krise eine Chance für ein besseres Leben machen. Tauschgerecht bedeutet, dass es nur Arbeitseinkommen und umverteilte Sozialleistungen, aber keine Kapitaleinkommen mehr gibt. Um das zu ermöglichen, muss eben auch Kapitaleigentum, nicht aber Besitzeigentum umverteilt werden. Wenn Einkommen einen Bezug zur realen Wertschöpfung haben, also zu den für die Gesellschaft erbrachten Leistungen, werden Kapitaleinkommen sinken und Lohneinkommen steigen. Dann kann Massenarbeitslosigkeit verschwinden, weil dann ausreichend Lohngelder vorhanden sind, um die soziale und technische Infrastruktur zu erhalten und zu verbessern. Damit bestünde eine historische Chance, aus dem System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auszusteigen.

Die Chance

Diese Chance besteht insofern, als es für diesen Wandel weniger Geld als vielmehr Ideen braucht. Nicht materielle, sondern geistige Ressourcen sind hier gefragt. Geld kann kluge Köpfe kaufen, aber nicht alle klugen Köpfe müssen käuflich sein. Ich habe die Hoffnung, dass es noch Sehnsucht nach einer Welt jenseits kapitalistischer Verwertungslogik gibt. Ich habe die Hoffnung, dass sich genügend kluge Köpfe mit Idealen, Visionen und Potenzialen zusammenfinden, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Hoffnung ist unser einziger Trumpf.

»Nicht materielle, sondern geistige Ressourcen sind hier gefragt.«

Vielleicht gelingt es, den Kampf der Tüchtigen gegen die Trägen zu gewinnen. Wenn wir heute bereit sind, für eine lebenswerte Zukunft aktiv zu werden, haben wir vielleicht eine Chance, der Apokalypse zu entgehen. Ich setze dabei auf das Prekariat. Ich sehe in ihm eine intellektuelle Avantgarde, die, weil sie nur Besitzende (also keine Kapitaleigentümer*innen) umfasst, nicht viel zu verlieren hat. Zum Prekariat gehören zweifelsfrei auch Arbeiter*innen, aber auch Angestellte und Freiberufler*innen, ja auch Unternehmer*innen. All jene, die in prekären Verhältnissen ohne Zukunftssicherheit arbeiten und leben. Eine historische Mission werde ich dem Prekariat nicht andichten – bestenfalls eine historische Chance. Es ist ihnen nicht vorbestimmt, zu siegen – es ist ihnen aber aus vollem Herzen zu wünschen.

Sie, die irgendwo zwischen Unter- und Mittelschicht schweben, besitzen etwas, was den Ärmsten der Armen oft fehlt. In den reichen Ländern fehlt den Armen oft die Sehnsucht und der Mut, die Gesellschaft selbst aktiv umzugestalten. Sie sehnen sich eher nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, das ihnen der Staat bezahlen soll. Wegen dieser Sehnsucht werden sie nicht gegen diesen Staat zu Felde ziehen. In den armen Ländern fehlt den Armen schlichtweg die Zeit zum Planen und Organisieren, weil ihr Überlebenskampf all ihre Zeit frisst.

Die schrumpfende Mittelschicht hingegen ist oft viel zu sehr um Besitzstandswahrung bemüht, als dass sie ihre Ressourcen mutig in die Waagschale werfen würde. Sie ist größtenteils blind dafür, dass ihr Wohlstand eher durch die Ober- als die Unterschicht bedroht ist. Sie vertrauen noch immer zu sehr darauf, dass die herrschenden Eliten es schon richten werden. Denn ihre durchaus engagierten Proteste, Forderungen und Erwartungen richten sich stets genau an diese Eliten. Wenn sie der herrschenden Ordnungsmacht bei aller Kritik nicht vertrauen würden, müssten sie diesen Eliten den Kampf ansagen. Doch das würde die Ordnung bedrohen, die ihren eigenen Wohlstand sichert. Zudem ist die Mittelschicht zerrissen von der Sehnsucht, in die Oberschicht aufzusteigen, und der Angst, in die Unterschicht hinabzusinken. Je mehr Kapitaleigentum sie bereits ihr Eigen nennen, desto hartnäckiger werden sie dieses System verteidigen.

Der Kapitalismus

Zwischen Solidarität und Besitzstandswahrung hin- und hergerissen, sehen wir nicht, dass der Kapitalismus insgesamt ein einziges Spielkasino ist. Zwar leben wohl nur wenige mit der Hoffnung, das große Los zu ziehen – das Ticket zum Eintritt in die Oberschicht –, doch sind viele blind dafür, dass letztlich immer die Spielbank gewinnt. Wir alle zahlen für die Gewinne einiger weniger, in der unsinnigen Hoffnung, selbst irgendwann zu den Gewinner*innen zu gehören. Vor allem aber zahlen wir alle für die Gewinne der Bank, d. h. für die Gewinne der Klasse der Kapitaleigentümer*innen.

Die Hoffnung, vom Tellerwäscher zum Millionär oder von der Putzfrau zur Millionärin aufzusteigen, hindert Milliarden Menschen daran, das Spielkasino zu verlassen und die Spielbank zu zertrümmern. Diese Hoffnung, – entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit – selbst einmal das große Los zu ziehen, diese tödliche Hoffnung, ist tatsächlich das letzte Übel aus der Büchse der Pandora.

Samirah Kenawi

Wer in dieses Spielkasino namens Kapitalismus hineingeboren wurde, kann sich eine Welt außerhalb – mit anderen Regeln – schwerlich vorstellen. Gerade weil das komplexe Regelwerk des Kapitalismus so schlecht funktioniert und zugleich doch so faszinierende Technik hervorgebracht hat, fehlen Mut und Vertrauen, ein anderes Regelwerk auch nur denken, geschweige denn errichten zu wollen. Zwar wollen wir aus den Zwängen dieses Systems aussteigen, sehen aber keine Auswege, sondern nur Nischen, die dieses System bietet. Auch fürchten wir – zu Recht – die Mühen, Unsicherheiten und Risiken, die ein Systemwechsel mit sich bringt. Und noch etwas hindert uns vielfach, Neues zu denken und zu wagen: Wir wollen unser Gesicht nicht verlieren. Angst vor Gesichtsverlust lässt uns zuweilen an unsinnigen Ansichten oder Verhaltensweisen festhalten. Es fällt uns schwer, zuzugeben, dass wir uns geirrt haben. Insbesondere wenn sich viele mit uns irren.

Wir glauben an Schwarmintelligenz, ohne zu sehen, dass das nur eine Variante des Herdentriebes ist. Die Masse hat nie recht, weil sie die Masse ist, sondern bestenfalls, weil die Prozesse, die zur Meinungsbildung führen, genügend Fehlerkorrekturen erzwingen, um eine Fehlorientierung zu verhindern. Doch für eine ausreichende Fehlerkorrektur fehlt uns die Streitkultur bzw. eine Kultur des Zusammen-Denkens. Es geht uns wie den Blinden, die einen Elefanten an sehr unterschiedlichen Stellen abtasten und dadurch sehr unterschiedliche Vorstellungen von diesem Wesen bekommen. Solange sie einander nicht vertrauen und ihre sehr unterschiedlichen Erfahrungen zu einem stimmigen Gesamtbild zusammensetzen, werden sie einander für Idioten halten. Sie werden nicht kooperieren, sondern einander bekämpfen und wegen eines fehlenden stimmigen Gesamtbildes unsinnig agieren. Solange wir eher nach Unterschieden als nach Gemeinsamkeiten suchen, wird die Teile-und-herrsche-Politik greifen, und derart zersplittert werden all unsere Proteste wirkungslos bleiben.

Es liegt an uns

Wir bleiben blind, wenn es uns nicht gelingt, eine Diskussionskultur zu etablieren, die nach Gemeinsamkeiten statt nach Unterschieden sucht. Wir müssen unsere Energien nutzen, um über Ursachen und Lösungen zu reden statt immer nur über Probleme. Natürlich ist letzteres einfacher. Alle können aus dem Stand etwas dazu beitragen. Über Ursachen und Lösungen nachzudenken, erfordert tieferes Eindringen in ein Thema.

Und doch – allem besseren Wissen zum Trotz –: Noch haben wir die Chance, uns neu zu orientieren, zu organisieren, zu protestieren, zu planen und zu gestalten. Noch können wir die Geburt einer neuen Gesellschaft im Schoß der alten vorbereiten. Schon Marx wusste: Erwächst der Aufstand gegen das bestehende System aus Verelendung, nimmt er zwangsläufig die Gestalt von Grobheit, Gewalt, ja Barbarei an. Je eher es zu einer revolutionären Umgestaltung kommt, gewissermaßen noch mit Sicherheitsabstand zum besinnungslos tobenden Zorn, desto besser für alle.1Frei zitiert nach Gysi, Gregor: Marx und wir. Warum wir eine neue Gesellschaftsidee brauchen. Aufbau – Berlin: 2018, S. 101 – Auch ich denke, wir brauchen eine neue Gesellschaftsidee. Bei Marx kann ich dazu aber kaum hilfreiche Anregungen finden. Verkürzt gesagt, hatte das Scheitern des Sozialismus viel mit Mängeln der Marxschen Theorie zu tun. Mehr dazu im »Manifest für das 22. Jahrhundert«.
Es ist nicht klar, wie viel Sicherheitsabstand uns bleibt.

Sicher ist nur, es ist höchste Zeit zu handeln. Dazu brauchen wir unabhängige, kreative Köpfe. Wir brauchen IT-Fachleute, um demokratische, digitale Verrechnungssysteme zu schaffen und dadurch neue Regelwerke zu implementieren. Gesucht sind Leute, die solche Regelwerke diskutieren wollen und programmieren können. Es sind auch Menschen gesucht, die die neuen Regelwerke testen. Wir müssen den Mut haben, einen neuen Gesellschaftsvertrag zieloffen und doch lösungsorientiert zu diskutieren. Dazu braucht es Menschen, die Engagement mit notwendigem Wissen verbinden, um Geld als Tauschmittel neu zu denken und im doppelten Wortsinn neu zu programmieren. Gregor Gysi schreibt: »Wir leben in einem Krisenkapitalismus. Auswege müssen dringend gesucht werden. Auswege, die wieder Wege sind, nicht mehr nur Notausgänge und letzte Ausfahrten in die nächste Krise.«2Ebenda, S. 81
Ich stimme ihm voll und ganz zu.

Dieser Artikel basiert in weiten Teilen auf zwei Kapiteln meines Buches »Manifest für das 22. Jahrhundert«. Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die an Freitagen für ihre Zukunft kämpfen. Ich hoffe, dass für sie eines Tages wieder an allen Wochentagen Zukunft existiert.

Samirah Kenawi

Samirah Kenawi 1962 in Ost-Berlin geboren, studierte Forstwissenschaft und ist aktuell u. a. als Kolumnistin, Autorin und Referentin tätig. Seit Jahrzehnten liest sie sich durch die ökonomische Literatur – auf der Suche nach einer ökonomischen Grundlage für gesellschaftliche Utopien. 1962 in Ost-Berlin geboren, studierte Forstwissenschaft und ist aktuell u. a. als Kolumnistin, Autorin und Referentin tätig. Seit Jahrzehnten liest sie sich durch die ökonomische Literatur – auf der Suche nach einer ökonomischen Grundlage für gesellschaftliche Utopien. 

1 Kommentar zu „Samirah Kenawi – Das gute Leben“

  1. Es gibt dieses neue Geldsystem bereits, es heisst NESARA oder auch QuantenFinanzSystem (QFS), anscheinend läuft im Hintergrund ohne dass die Mainstreampresse darüber berichtet, bereits eine Neuorganisation des Geldsystems und ein Ende des Fiat-Geldes.

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