Irene Schneider

Irene Schneider – Spiritueller Wohlstand oder Leben in Fülle

Wohlstand jenseits materieller Werte

»Aber manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten‘s alle jene Leute, die Gott um des äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.« (Meister Eckhart, S. 227)

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Geht es bei »Spirituellem Wohlstand« darum, dass unsere inneren und auch äußeren Bedürfnisse durch Spiritualität im Sinne von Wellness und Wohlbefinden gestillt werden, oder geht dieser weit darüber hinaus in die Ebene der Selbsttranszendenz und Verbundenheit mit den Geheimnissen des Lebens? Gemeinsam mit der spirituellen Lehrerin Irene Schneider begeben wir uns auf die Suche nach Antworten.

In diesem Ausschnitt aus einer Predigt von Meister Eckhart zeigt sich für mich die Spannung, die im Begriff »Spiritueller Wohlstand« liegt. Geht es beim spirituellen Wohlstand um die Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse und des eigenen Nutzens? Dann hat es nach Meister Eckhart nichts mit Liebe zu Gott zu tun; man könnte auch sagen: Es hat nichts mit der Einheit und mit der Verbundenheit mit dem Größeren, mit dem Geheimnis zu tun – was bei allen vielfältigen Definitionen so etwas wie den Kern von Spiritualität ausmacht. Doch dazu unten mehr.

Die folgenden Ausführungen wollen das Thema assoziativ und mosaiksteinartig umkreisen und zum Weiterentfalten anregen, es jedoch keinesfalls umfassend behandeln. Einige Themen behandele ich nur stichpunktartig und auf viele Aspekte, die das Thema fruchtbar ergänzen und vertiefen würden, kann hier nicht eingegangen werden. Dabei denke ich an bestimmte Haltungen wie Hingabe und Dankbarkeit oder das große Thema der Armut; ihre Bedeutung auf dem spirituellen Weg und die Auswirkungen auf die Erfahrung von Fülle sind eine eigene Betrachtung wert. 

»Spiritueller Wohlstand«: für mich eine herausfordernde Begriffskombination, die mich kaum anspricht, sogar auf Abstand gehen lässt.

Für Menschen, die wie ich in den 60/70er-Jahren groß geworden sind, im wachsenden Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland – einst proklamiert durch Kanzler Ludwig Erhard in seinem 1957 erschienenen Buch »Wohlstand für alle« –, ist Wohlstand etwas Selbstverständliches geworden, das das Leben wesentlich erleichtert. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass materieller Wohlstand für viele leider nicht (mehr) selbstverständlich ist: Es gibt Kinder- und Altersarmut und immer mehr Menschen, die mehrere Jobs brauchen, damit das Geld reicht.

Auch sind mir die Schattenseiten des Wohlstandes sehr bewusst: materieller ökonomischer Wohlstand – häufig auf Kosten anderer Menschen und Länder ohne Berücksichtigung der sozialen und ökologischen Auswirkungen. Ist dies auch auf der spirituellen Ebene erstrebenswert?

Wenn ich Wohlstand im ökonomischen Sinn als Grad der Versorgung von Personen, privaten Haushalten oder der gesamten Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen verstehe, wie könnte dann spiritueller Wohlstand verstanden werden? Als Grad der Versorgung – womit? Versorgung durch spirituelle Dienstleistungen? Maximale Erfüllung spiritueller Bedürfnisse? Persönliches Wohlbefinden im Sinne von Lebensqualität, das durch Spiritualität oder spirituelle Betätigung gesteigert wird?

Mit Wohlstand wird immer noch stark das Haben und Besitzen von Materiellem und damit etwas Statisches, Zählbares assoziiert.

»Doch kann ich Spiritualität erwerben und dann besitzen, in spirituellen Wohlstand investieren und damit spirituellen Reichtum vergrößern?«

Doch kann ich Spiritualität erwerben und dann besitzen, in spirituellen Wohlstand investieren und damit spirituellen Reichtum vergrößern? Und wenn das so ist, natürlich auch wieder verlieren?

Für mich bewegen sich diese Begrifflichkeiten innerhalb des bestehenden ökonomischen Systems, und ich habe Bedenken, dass Spiritualität auch in diesem Sinn benutzt wird und das Haben- sowie Besitzen-System damit gefestigt wird. Auch muss die Frage gestellt werden, inwieweit Spiritualität dabei instrumentalisiert wird: zur Stressbewältigung und Symptombehandlung, damit wir im Beruf, in der Gesellschaft, im Alltag besser funktionieren, ohne dass die Ursachen dafür angegangen werden. 

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass eine spirituelle Praxis auf dem Hintergrund persönlicher oder säkularer Motive wie Entspannung und Wellness, Regulation der Emotionen sowie Steigerung von Konzentration und Kreativität aufgenommen wird.

Eine Öffnung hin zur Dimension der Spiritualität kann bei der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse unterstützen, das Leben bereichern und die Lebensqualität fördern. Von spirituellem Wohlbefinden ist dabei die Rede oder von Spiritualität als Coping-Strategie, zur Bewältigung herausfordernder Lebensumstände oder -ereignisse. 

Es gibt mittlerweile viele Studien, die die Auswirkungen von spiritueller Praxis auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen untersuchen.

Der Religionspsychologe Michael Utsch fasst die möglichen positiven Effekte wie folgt zusammen:

  • Emotionale Entlastung – ein sinnvolles, geschlossenes Weltbild
  • Moralische Orientierung – eine ethisch verantwortete Lebensführung
  • Soziale Unterstützung – Eingebunden-Sein in eine Gemeinschaft
  • Kognitive Neubewertung – Glauben an das Walten einer höheren Macht in Situationen der Hilflosigkeit
  • Mentale Bewältigung – Trost, Hoffnung, Gelassenheit auch in ausweglosen Situationen

(Utsch 2004, zitiert nach Perntner 2008, S. 95)

In Bezug auf die Wirkung von Meditation gibt es zahlreiche Studien und Metaanalysen, u. a. von Sedlmeier (2012, 2018). Meditierende berichten über eine Reduktion von Angst, von anderen negativen Gefühlen und von Stress. Demgegenüber nehmen Wohlbefinden und Achtsamkeit deutlich zu, ebenso wie die Leistungen in Intelligenztests sowie bei Lern- und Gedächtnisaufgaben (Ott 2021, S. 22).

Hinweisen möchte ich noch auf die Ergebnisse einer Studie, in der es mithilfe von MRT-Aufnahmen um die Schätzung des Gehirnalters ging. Dabei wurden die Aufnahmen von 50 langjährig Meditierenden mit denen einer gleich großen Kontrollgruppe verglichen. »Die berechnete Gleichung für die Altersschätzung ergab, dass Meditierende im Alter von 50 Jahren ein geschätztes Hirnalter von lediglich 42,5 Jahren aufwiesen! Ab 50 stieg das geschätzte Hirnalter der Meditierenden zudem deutlich langsamer an als das der Kontrollpersonen, nämlich nur um zehn Monate und acht Tage pro vollem Lebensjahr.« (Luders et al., 2016, zitiert nach Ott, S. 28)

 »Spiritualität beinhaltet immer auch ein irritierendes und kritisches Moment, das das Bestehende aufbricht und infrage stellt bzw. überschreitet.«

Wichtig ist mir, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass spirituelle Praktiken nicht funktionalisiert und als Mittel zum Zweck eingesetzt werden. Dies würde meiner Ansicht nach zu einer Trivialisierung von Spiritualität führen und stünde in der Gefahr, ihr den Kern des Unverfügbaren zu nehmen, denn Spiritualität beinhaltet immer auch ein irritierendes und kritisches Moment, das das Bestehende aufbricht und infrage stellt bzw. überschreitet. In diesem Sinn lässt sie sich nicht umfassend mit ökonomischen, soziologischen oder psychologischen Kategorien erfassen. 

Doch worum geht es eigentlich bei Spiritualität? Dem Wort entsprechend geht es bei Spiritualität weniger um das Haben als vielmehr um ein Sein und Werden. Spiritualität hat mit Lebendigkeit zu tun, mit Bewegtheit und Weg, mit Dynamik und Prozess.

Das lateinische Wort »spiritus« ist die Übersetzung des griechischen »pneuma« sowie des hebräischen Begriffs »ruah« und bedeutet Geist im religiösen Kontext. Gemeint ist damit die bewegte Luft, der Atem – das Lebensprinzip, das Leben erschafft und ermöglicht, das in Bewegung bringt und Wachstum fördert, das uns in Verbindung sein lässt mit etwas Größerem, letztendlich Geheimnisvollem, das der Grund von Leben und Lebendigkeit ist. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam der Begriff »spiritualité« in Frankreich auf. Vorher sprach man von »Frömmigkeit« oder so wie auch heute noch von »geistlichem Leben« – Begriffe, die ihren Platz im Rahmen der verfassten Religion bzw. Konfession haben. Dagegen bezieht sich das aktuelle Verständnis von Spiritualität mehr auf die persönliche, von Glaubensgemeinschaften unabhängige und individuelle Gestaltung einer Beziehung zu etwas, das den Menschen übersteigt und das mit Erfahrungen statt mit dem Fürwahrhalten von Glaubenswahrheiten zu tun hat.

In weitem Sinn verstanden, ist die spirituelle Dimension des Lebens keine zusätzliche Dimension, für die der Mensch sich entscheiden kann oder nicht, sondern sie ist als Grundlage des Lebens vorgegeben. Sie kann nicht erworben werden, man kann sich ihrer jedoch bewusst werden, sich ihr öffnen und sie entwickeln – ebenso wie anderen Dimensionen des Menschseins. Inwieweit Menschen sich entscheiden, diese Dimension bewusst zu leben und weiterzuentwickeln, bleibt ihnen überlassen. 

Daraus ergibt sich, dass Spiritualität vor aller rationalen Erfassung, Deutung und Reflexion zuerst Praxis ist: Sie meint »Gestaltung« des Lebensvollzuges hin zu mehr Ganzheit und Lebendigkeit, Verbundenheit und Liebe sowie Sinn – häufig in uns »schlafende« Qualitäten des Menschseins, die geweckt und entfaltet werden wollen. Dies geschieht durch Öffnung und Erfahrung, Praxis und Übung, Bewusstwerdung und Erkenntnis, Tun und Geschehen lassen, Einordnen in ein größeres Ganzes, Hingabe an den Lebensfluss, Verwandlung und Heilung. 

Der Begriff der »Fülle des Lebens«, die auf diesem Weg erfahrbar ist, ist hier bereits angebracht.

Verbundenheit als zentrales Element von Spiritualität

Der österreichische Religionspädagoge Anton Bucher benennt auf Basis einer Analyse zahlreicher qualitativer Studien zum Verständnis von Spiritualität folgende Dimensionen: 

Spiritualität als Verbundenheit mit einem höheren Wesen, mit Kosmos und Natur, mit der sozialen Mitwelt, als Beziehung zum Selbst sowie Selbsttranszendenz. Ich teile mit ihm das »Verständnis von Spiritualität, deren Kern Verbundenheit ist, zum einen horizontal mit der sozialen Mitwelt, der Natur und dem Kosmos, zum anderen vertikal mit einem den Menschen übersteigenden, alles umgreifenden Letztgültigen, Geistigen, Heiligen, für viele nach wie vor Gott. Diese Öffnung aber setzt voraus, dass der Mensch auch zu Selbsttranszendenz fähig ist und vom eigenen Ego absehen kann.« (Bucher 2014, zitiert nach Hofmann u. Heise 2016, VII)

Das impliziert für mich wesentlich, dass spirituelle Praxis einen Bezug zum und Auswirkungen auf das alltägliche Leben haben muss, ebenso wie auf das menschliche Miteinander und den Kontakt zur Umwelt.

Verbundenheit mit dem Geheimnis des Lebens – Leben in Fülle

Die Fülle des Lebens umgibt uns in jedem Augenblick und enthält alles an personalen sowie transpersonalen Qualitäten: Liebe und Geborgenheit, Frieden und Ruhe, Gerechtigkeit und Freude, Zeit- und Raumlosigkeit, Sinn und Orientierung … – und das auch in oder trotz der Erfahrung von Schmerz und Sterben. In diesen Qualitäten leben wir, bewegen wir uns und sind wir – in Anlehnung an ein Zitat aus der Apostelgeschichte (17,28). Doch jeder Mensch erfährt erfülltes Leben auf seine persönliche Weise und nicht selten verstellen uns innere Barrieren den Kontakt dazu. Barrieren, die aufgrund von Verletzungen in Beziehungen und durch die (unvermeidbaren) Begrenzungen des Lebens entstanden sind. 

»Die Fülle des Lebens umgibt uns in jedem Augenblick und enthält alles an personalen sowie transpersonalen Qualitäten.«

»Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben«, spricht Jesus im Johannesevangelium (Joh 10,10). Dies meint für mich nichts anderes, als dass durch die Verbundenheit mit dem Göttlichen, Heiligen, Geheimnisvollen um uns und in uns das »Leben im Überfluss« erfahren werden kann – eine ebenfalls aus dem griechischen Originaltext mögliche Übersetzung. 

Fülle des Lebens – ich erfahre alle vier Jahreszeiten gleichzeitig. 

Das klingt paradox, doch es ist eine Metapher, mit der ich vor einiger Zeit eine intensive persönliche Erfahrung vom Leben beschrieben habe. Die so unterschiedlichen Qualitäten dürfen alle da sein, nichts muss ausgeschlossen oder abgewertet werden: das Neubeginnen und Aufbrechen im Frühjahr, das Blühen und Fruchtbringen im Sommer, das Ernten und Loslassen im Herbst, die Stille und Sammlung im Winter. Und darin das Ahnen des Lebensgeheimnisses, die Quelle aller Lebendigkeit, der ich mich hingebe. Gleichzeitig muss diese Fülle nicht nur positiv erfahren werden; sie kann uns – je nach persönlicher Verfasstheit oder Situation – an persönliche Grenzen bringen und sogar in eine spirituelle Krise führen.

Präsenz und Vertrauen: Es ist alles da.

Folgende Lehrrede aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium (Kap. 6, 19–21.24–34) hat mich von früh an fasziniert und vertieft metaphorisch diese Sicht: 

Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. … Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern? Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. Wenn aber Gott schon das Gras so kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen! Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn nach alldem streben die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.

»Auf der spirituellen Ebene geht es darum, darauf zu vertrauen, dass einem heute alles gegeben ist, weil es heute in der Gegenwart da ist.«

Wie alle Texte in der Bibel beinhalten diese Worte einen Zuspruch und eine Herausforderung: Sehr einladend sind die Bilder von den Vögeln des Himmels und den Lilien des Feldes, die – ohne zu arbeiten – versorgt werden und sich entwickeln. Diese Sehnsucht gibt es auch in uns. Dabei geht es nicht darum, überhaupt nicht zu arbeiten oder sich zu sorgen, sondern es geht um die rechte Sorge. Auf der spirituellen Ebene geht es darum, darauf zu vertrauen, dass einem heute alles gegeben ist, weil es heute in der Gegenwart da ist. Darin besteht die Herausforderung: sich sagen zu lassen und zu erfahren, dass ich jetzt und heute in der Fülle bin und lebe. Jetzt und heute statt morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen, indem auch morgen wieder alles da ist – im Jetzt und Heute. Aus dieser Erfahrung und Haltung der Fülle heraus kann ich mich anders, nämlich gelassener um die Dinge des Alltags kümmern. Die Bezeichnung »Reich Gottes« meint die Präsenz des Göttlichen in mir und um mich herum; mir diese Gegenwart, meine Verbundenheit damit sowie mein Sein darin bewusst zu machen und darauf zu vertrauen – darum soll sich meine Aufmerksamkeit drehen. 

Damit sind auch die unvergänglichen Schätze im Himmel gemeint, wobei Himmel nicht einen Ort jenseits des Todes meint, sondern es geht um den Himmel, den ich in meinem Herzen erfahre sowie in den Beziehungen, die auf der Herzensebene lebendig sind. 

Sehnsucht nach Verbundenheit mit sich selbst

Die Beziehung zu mir selbst ist die längste Beziehung im Leben und von der Qualität dieser Beziehung hängt wesentlich ab, wie ich das Leben erfahre und gestalte. Auf dem Büchermarkt finden sich ebenso wie im Internet viele Ratgeber, die die Verbesserung der Beziehung zu sich selbst bis hin zur Selbstliebe und Selbstfürsorge als Thema haben. Dieses Thema scheint eine Sehnsucht zu treffen, wenngleich es Thema zu allen Zeiten war. 

»Die Beziehung zu mir selbst ist die längste Beziehung im Leben.«

Gleichzeitig gab es selten so viele Möglichkeiten der Selbstdarstellung und einen solchen Drang zur Selbstoptimierung wie aktuell durch die sozialen Medien, in denen man sich schön und dazugehörig, leistungsorientiert und erfolgreich darstellen sowie voneinander abheben kann. Auch der Markt der spirituellen Möglichkeiten und das karitative oder ökologische Engagement können zur Selbstdarstellung genutzt werden. Wenn sich darin egoistische Selbstbezogenheit oder narzisstische Selbstverliebtheit zeigen, hat das nichts mit Selbstliebe zu tun. Denn es ist persönliche Unsicherheit, meist unbewusste Selbstkritik oder gar Selbstablehnung, die sich hinter der Selbstoptimierung und Selbstdarstellung versteckt. 

Selbstliebe ist das Gegenteil. Selbstliebe bedeutet, dass ich mich selbst und alles, was mich ausmacht, in das Energiefeld der Liebe einbeziehe. Ich sage JA zu dem, was ist, was mein Leben aktuell ausmacht, was meine Wirklichkeit ist. Ich empfinde Mitgefühl für mich selbst, gerade wenn ich mich in einer schwierigen Situation befinde oder Selbstzweifel erlebe. Meist haben wir mit anderen mehr Mitgefühl als mit uns selbst. Ein Satz wie »Ich bin nicht genug« mit all seinen individuellen Variationen lässt uns streng und kritisch mit uns selbst umgehen. Es ist das Nein sich selbst gegenüber, das die Selbstverurteilung und Selbstentwertung bestimmt sowie das Selbstmitgefühl und die Liebe zu sich selbst verhindert. 

Selbstliebe bedeutet Bejahung und letztendlich radikale Bejahung: Ja auch zum Nein, das ich im Augenblick mir selbst gegenüber spüre. 

In der Selbstliebe verbinde ich mich mit mir und allen Aspekten, die ich gerade an mir wahrnehme, auch jenen, die ich ablehne. Ich sage sogar Ja zu der Tatsache, dass ich gerade einen Aspekt an mir ablehne, statt sie in überzogener Selbstdarstellung zu überspielen. Dann passiert es sogar häufig, dass das Nein durch die Kraft des Ja verwandelt wird. Der Gesprächstherapeut Carl Rogers hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Wenn ich mich, so wie ich bin, akzeptiere, dann ändere ich mich. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns nicht ändern können, uns nicht von dem, was wir sind, entfernen können, bis wir völlig akzeptieren, was wir sind. Dann ereignet sich fast unmerklich die Veränderung.«

Doch Selbstliebe ist absichtslos; sie öffnet einen Raum für das Da-sein-Dürfen, in dem sich Verwandlung ereignet und Verbundenheit erfahren werden kann. Ein solches Ja und die Verbundenheit sind dabei nicht ein Ergebnis meiner Bemühungen. Sie sind vielmehr schon immer da, und ich öffne mich dafür im Hier und Jetzt, lasse mich damit verbinden. Denn ich lebe in einem großen Ja, bewege mich in einem Raum der Liebe, bin in der Verbundenheit. 

Solche Selbstliebe bedeutet: Ich höre das Ja zu mir, lasse mich davon berühren und es zu einem Ja zu mir selbst werden, das sich in Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl ausdrückt. Sie bedeutet: Ich lasse mich in das Energiefeld der Liebe hineinnehmen und durchströmen; ich lasse mich lieben mit meiner »Wunde des Ungeliebtseins«. Diese Art der Selbstliebe oder besser gesagt des Geliebtwerdens als Sein in der Liebe wird zur Quelle einer Liebes- und Lebenskraft, die mich lebendig sein lässt, weiterfließt zu den Menschen und sich als ein engagiertes Ja zum Leben ausdrückt. 

Rhythmisierung des Alltags und Entschleunigung

Der spirituelle Weg wird von den Rhythmen des Lebens geprägt, was zeitliche Strukturierung bedeutet. Der Atem mit seinem Rhythmus kann uns daran erinnern: mit dem Einatmen (aufnehmen und empfangen) sowie dem Ausatmen (abgeben und lassen). Danach folgt die kurze Pause der Ruhe und Stille, bis der Organismus von selbst wieder einatmet. Dadurch entsteht ein Moment von Entschleunigung und Innehalten. Eine solche Rhythmisierung unterstützt die spirituelle Erfahrung, indem wir uns ihr wie den Rhythmen der Jahreszeiten oder von Tag und Nacht hingeben.

Spirituelle Entwicklung braucht Zeit wie das Wachsen und Reifen. Auf dem spirituellen Weg sind Eile und Druck kontraproduktiv, sie verhindern die Absichtslosigkeit sowie überraschende Erfahrungen. Dies wird für mich sehr treffend durch die Geschichte ausgedrückt, die von Rabbi Meir aus dem 13. Jahrhundert überliefert ist: 

»Warum hast du es so eilig?«, fragte der Rabbi. »Ich laufe meiner Lebendigkeit nach«, antwortete der Mann. »Und woher weißt du«, sagte der Rabbi, »dass deine Lebendigkeit vor dir herläuft und du dich beeilen musst? Vielleicht ist sie hinter dir, und du brauchst nur innezuhalten.«

Awareness – Bewusstheit durch Achtsamkeit

Da es genügend Veröffentlichungen zu den verschiedensten Facetten inkl. Achtsamkeitsübungen gibt, will ich hier nicht weiter darauf eingehen. Unbestreitbar ist die Tatsache, dass achtsames Wahrnehmen, Sein und Handeln wesentliche Aspekte spirituellen Lebens in allen Traditionen zu allen Zeiten waren und sind. 

Mir geht es hier jedoch noch um etwas anderes: nämlich um Bewusstheit und Bewusstmachung, die alle Phänomene der Wahrnehmung und des Erlebens einbeziehen: Motive, Handlungen, Impulse der Anziehung sowie der Vermeidung, Werte, Erwartungen, Gefühle und die Ebene des Bewusstseins, von der aus das Erlebte interpretiert wird. Dazu gehören auch unangenehme Erfahrungen oder verdrängte Anteile der Persönlichkeit. Es geht ebenso um die Offenheit für die Bewusstmachung der psychologischen Schattenanteile. Nur wenn es auf dem spirituellen Weg auch dafür einen Raum gibt, sind Verwandlung und Ganzheit möglich.

Stille und Schweigen

»Die Stille ist eine unfassbare Präsenz.
Wir gleichen einer Schale, die diese Stille empfängt,
bis auch die Schale vergeht und nur die Stille bleibt.
Sie war schon immer da.«
Willigis Jäger

Ein wesentliches und unabdingbares Element auf dem spirituellen Weg ist das Schweigen, das den Raum für die Erfahrung der Stille hinter allen Dingen und damit für die Qualitäten der Fülle öffnet. Auf allen spirituellen Wegen spielen Schweigen und Stille eine große Rolle, um mit der großen Stille als Quelle von Weisheit und Lebendigkeit in Berührung zu kommen. Unsere westliche Kultur wird vom Wort dominiert, und die Überflutung durch Reize verschiedenster Art in unserem Alltag ist enorm. Und so ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen die Stille und damit Entschleunigung suchen: in der Natur und in der Freizeit sowie in den Kursen zu Entspannung und Meditation. Die meisten Menschen, die auf den Benediktushof kommen, entscheiden sich bewusst für die Stille und das Schweigen auf dem Gelände, in den Räumen und bei den Mahlzeiten und erleben dies als besondere Qualität. Dies prägt den Hof und gleichzeitig ist es immer wieder Aufgabe, diese Qualitäten zu erhalten und zu vertiefen. Denn die Stille ist nicht immer leicht auszuhalten. In der Stille kommen wir in Kontakt mit den mitunter sehr lauten Stimmen in uns, in denen sich unsere Gefühle und Gedanken, Impulse und Motive, unsere Sehnsucht und unsere Schmerzen zu Wort melden. 

Auf dem kontemplativen Weg ist es jedoch wichtig, dass wir genau mit diesen Aspekten, vor allem den Gefühlen des Schmerzes und der Trauer, der Wut und der Leere sowie unserer Sehnsucht in Kontakt kommen, damit sie verwandelt werden können. Diese Phasen haben meist wenig mit spirituellem Wohlbefinden zu tun und werden mitunter über längere Zeit als dunkel erfahren. Doch der Weg kann die Abschnitte, die durch Tiefen und Angst hindurchgehen, nicht abkürzen. Es geht beim Sitzen in Stille um die Übung der Akzeptanz dessen, was jetzt gerade ist. Es geht um Dasein und Dabeibleiben, um Leerwerden, innere Reinigung und Heilung der Wunden. Dies kann jedoch nicht gemacht werden, sondern folgt einem eigenen Tempo. Das Vertrauen und das Bewusstsein, dass es um ein Verweilen im Licht der unerschütterlichen göttlichen Präsenz geht, auch wenn dieses Licht aktuell verdunkelt ist, unterstützen die Verwandlung. Tiefe Erfahrungen von Getragen-Sein und Gelassenheit, von Ruhe und innerem Frieden können nun zutage treten. Für solche Wegstrecken ist professionelle Begleitung wichtig.

Entfaltung des Menschseins

»Das Ziel aller spirituellen Wege ist die volle Entfaltung unseres Menschseins im Hier und Jetzt.« 

                                                                                                                             Willigis Jäger

Über das Menschsein ist zu allen Zeiten viel geschrieben und gesagt worden und dennoch hört die Frage nie auf und wird immer wieder neu gestellt werden: Wer ist der Mensch? Was bedeutet Menschsein? Wann bin ich Mensch und was unterstützt mich darin, Mensch zu sein?

Angesichts sich ständig verändernder Wirklichkeiten und Herausforderungen sowie neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse verändern sich auch die Antworten auf diese Fragen. Letztendlich muss jeder Mensch diese Frage nach seinem Menschsein persönlich beantworten.

»Zufrieden jauchzet gross und klein: hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein« heißt es im Osterspaziergang von Goethe angesichts der aufbrechenden Natur im Frühling und des gemeinsamen Spaziergangs im Freien. Dabei geht es ihm nicht um eine theoretische Antwort, sondern um konkrete Erfahrungen.

Situationen und Erfahrungen im Leben, in denen man sich besonders als Mensch erleben kann, können u. a. folgende sein: 

  • Momente des Staunens in der Natur wie bei Goethe,
  • liebevolle und berührende, tiefe oder leichte Begegnungen mit Menschen,
  • Erfahrungen von Solidarität und Unterstützung in einer Notsituation,
  • Situationen, in denen ich mich gesehen und wertgeschätzt fühle,
  • ein Vergessen von Zeit und Raum beim Hören eines Musikstückes oder beim Tanzen,
  • das Erleben von schöpferischer Kraft, Erfolg und Wirksamkeit im beruflichen Tun
  • oder einfach das Erleben des puren Daseins im Augenblick – auch in existenziellen und schmerzhaften Situationen wie Geburt, Sterben und Tod.

Wie bereits gesagt: Ob und wie die Dimension des Transzendenten, Göttlichen, Namenlosen oder wie auch immer es genannt wird zum Menschsein dazugehört – das muss jeder Mensch für sich selbst beantworten.

Viele Menschen allerdings entdecken bei ihrer Suche nach sich selbst diese Dimension als wesentlich und erfahren – so wie Willigis Jäger es ausdrückt – auf dem spirituellen Weg eine Entfaltung ihres Menschseins: durch die Erfahrung von Verbundenheit und Einheit, Liebe und Fülle, durch die Berührung mit dem Geheimnis, durch die Überschreitung ihres Ichs, durch die Lösung von biografischen Prägungen und Konventionen, durch die Befreiung von Identifikationen, durch die Linderung von Leid.

Für viele spirituelle Menschen geht es dabei um die Entfaltung des göttlichen Lebens in sich und aus sich heraus. Sie ahnen oder erfahren, dass sie in ihrer einmaligen Persönlichkeit und im Vollzug ihres persönlichen Lebens ein Ausdruck der göttlichen Energie, des göttlichen Stromes sind, ein Aspekt der göttlichen Wirklichkeit. Sie erkennen ihre göttliche Natur und erfahren dabei, dass sie in ihrer Tiefe, in ihrem Wesen eins mit allem sind.

Für Willigis Jäger bleibt der Mensch ohne die Koordinate des Göttlichen, ohne das Bewusstsein der Einheit mit dem Göttlichen, auf seinem Wachstumsweg stecken; er bleibt ein halber Mensch. Und so galt sein Wirken der vollen Entfaltung des Menschseins und der Wandlung von innen heraus – hin zu einem Leben in Fülle, das schon immer da ist. 

»Spiritueller Wohlstand« wäre ihm als Beschreibung dafür vermutlich nicht in den Sinn gekommen.

Irene Schneider, Mitglied der spirituellen Leitung des Benediktushofes in Holzkirchen/Würzburg, Diplomtheologin, Gestalttherapeutin, spirituelle Wegbegleiterin, seit 1984 Praxis in christlicher Spiritualität und kontemplativem Gebet; Fortbildungen in humanistischer Psychologie, systemischer Aufstellungsarbeit sowie Achtsamkeit; langjährige Tätigkeit in Seelsorge, Persönlichkeitsentwicklung, spiritueller Begleitung und Seminarleitung.

Literatur:

Hofmann, Liane; Heise, Patrizia: Spiritualität und spirituelle Krisen, Schattauer, Stuttgart 2016

Kagge, Erling: Stille. Ein Wegweiser, Insel-Verlag, Berlin 2017

Keating, Thomas: Das kontemplative Gebet, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 2012

Krumpen, Angela: Ganz Mensch werden. Willigis Jäger und die großen Fragen des Lebens, Verlag West-östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung, Holzkirchen 2021

Ott, Ulrich: Spiritualität für Skeptiker. Wissenschaftlich fundierte Meditationen für mehr Bewusstheit im Alltag, O. W. Barth, München 2021

Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, Hrsg. von Josef Quint, Diogenes TB, 1979

Perntner, Georg: Spiritualität als Lebenskunst. Gestalttherapeutische Impulse, Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach 2008

Steindl-Rast, David: Orientierung finden. Schlüsselworte für ein erfülltes Leben, Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2021

Uhde, Bernhard: West-östliche Spiritualität – Die inneren Wege der Weltreligionen. Eine Orientierung in 24 Grundbegriffen, Kreuz Verlag, Stuttgart 2011

Bildnachweis: © Adobe Photostock

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