Gabi Bott

Gabi Bott – Handeln aus dem Herzen

Tiefenökologie als Lebenshaltung

Die Tiefenökologie möchte den Menschen die Augen öffnen. Sie möchte, dass wir das Wunder des Lebens sehen sowie die Allverbundenheit und Lebendigkeit aller Lebewesen fühlen. Für sie ist es nicht verrückt, wenn Menschen Schmerz in Anbetracht des Leids und der Zerstörung auf Erden empfinden. Es ist die natürliche Folge unserer Verbundenheit, und gerade aus diesem Gefühl kann ein friedliches und nachhaltiges Miteinander erwachsen. 

Wie kann es dem Menschen gelingen, in einem harmonischen und lebendigen Verhältnis zu seiner belebten Mitwelt zu leben? Im Angesicht der unermesslichen Naturzerstörung durch den Menschen wird diese Frage immer dringlicher. Die Tiefenökologie, die als Lebenshaltung oder Philosophie aufgefasst wird, geht bereits seit den 70er-Jahren einen Weg der Integration von Politik und Spiritualität, wobei die Wurzel der Tiefenökologie, also die Betrachtung, dass alles durch das Netz des Lebens miteinander verbunden ist, so alt wie die Menschheit selbst ist. 

Wir sitzen im Kreis dicht nebeneinander. In unserer Mitte liegen vier Symbole, in jedem Quadranten eins, und in der Mitte davon ein Kissen. Wer den Impuls hat, geht in die Mitte zu einem der Symbole und nimmt es als Unterstützung, um starke Gefühle auszudrücken – mit oder ohne Worte. Da liegen die verwelkten Blätter, die das Symbol für die Trauer sind, der faustdicke Stein, dieser symbolisiert die Angst, der dicke Knüppel, Symbol für die Wut, und die offene Schale steht für die Ohnmacht. Alle anderen Gefühle, die ein*e Teilnehmende*r spürt, haben Platz in der Mitte auf dem Kissen.

Dieses Ritual nennt sich »Wahrheitsmandala« und entstand während einer tiefenökologischen Konferenz mit Joanna Macy in Deutschland am 3. Oktober 1990, im Spannungsfeld der Wiedervereinigung von Ost und West, und wird seitdem weltweit praktiziert. Eine andere Denkweise über unseren Schmerz in der Welt und das Ausdrücken von starken Gefühlen ist das Herzstück der tiefenökologischen Arbeit, die in den 70ern in dieser Form ihren Anfang nahm. Ich sage »in dieser Form«, denn Tiefenökologie ist so alt wie die Menschheit. Immer wenn sich Menschen in ganzheitlicher Weise auf ihre Mitwelt beziehen, wird tiefenökologisch gelebt.

Arne Naess, ein skandinavischer Umweltaktivist und Philosoph, prägte den Namen vor rund 50 Jahren. Er wollte damit ausdrücken, dass es eine tiefe und eine oberflächliche Ökologie gibt.

Der oberflächlichen Ökologie liegt ein mechanistisches Weltbild zugrunde. Alles ist machbar, und der Fokus liegt auf dem ökonomischen Wachstum. Mit unseren technologischen Errungenschaften kann (fast) alles repariert oder »gerettet« werden. Man wendet sich den Symptomen der Umweltverschmutzung zu, um diese zu beseitigen, z. B. wenn das Wasser oder die Luft verschmutzt ist, wird es/sie gereinigt, damit der Mensch keinen Schaden erleidet.

»Tiefenökologie bezieht immer den ganzen Menschen (und seine Mitwelt) mit ein, also den Verstand, unsere inne liegende Weisheit, unseren Körper, unser Herz und das Bewusstsein.«

Die tiefe Ökologie schreibt allem Leben einen Eigenwert zu. Sie sieht den Menschen nicht als Herrscher der Erde, sondern als einen Knoten im dynamischen Netz des Lebens, der in wechselseitiger Verbundenheit mit allem lebt. Die Tiefenökologie ist weder eine Ideologie noch ein Dogma, man kann sie als Lebenshaltung beschreiben. Fragend und forschend geht sie in Kontakt mit den Phänomenen des Lebens. Tiefe Fragen werden gestellt und die Ursachen ergründet, z. B. wieso das Wasser oder die Luft verschmutzt ist – um so zu den Wurzeln der Verschmutzung zu kommen und sie ändern zu können. Tiefe Fragen können nach innen wie nach außen gestellt werden: also das Ergründen der Ursachen im eigenen Verhalten ebenso wie das Ergründen der Ursachen bei Entscheidungen in der Politik. Tiefenökologie bezieht immer den ganzen Menschen (und seine Mitwelt) mit ein, also den Verstand, unsere inne liegende Weisheit, unseren Körper, unser Herz und das Bewusstsein.

Gabi Bott

John Seed, ein australischer Regenwaldaktivist, drückt es so aus: »Wenn der Mensch tiefer schürft und die Schichten seiner anthropozentrischen Selbst-Überschätzung durchschaut, setzt ein tiefgreifender Bewusstseinswandel ein. Die Entfremdung verschwindet. Der Mensch ist nicht länger ein Fremder, er ist nicht länger getrennt. Dein Mensch-Sein wird dann einfach als die jüngste Phase deiner Existenz erkannt … Wenn der Nebel des Vergessens sich hebt, wandelt sich deine Beziehung zu anderen Lebewesen und damit dein Engagement für sie1John Seed, Joanna Macy, Pat Fleming, Arne Naess, »Thinking Like A Mountain«, New Society Publishers, 1988, S. 35.

Joanna Macy übernahm den Begriff »deep ecology« für ihre Arbeit. Sie engagiert sich seit 50 Jahren für globale Gerechtigkeit und entwickelte maßgeblich diese besondere Form der Gruppenarbeit, die sie mittlerweile »The work that reconnects« nennt – eine Arbeit, die wiederverbindet mit sich selbst, den Menschen, den Tieren, den Pflanzen, der Erde, ja mit dem gesamten Universum. Sie lehrte Religionswissenschaften und allgemeine Systemtheorie in der Bay Area in Kalifornien, ist Aktivistin, praktiziert Buddhismus und ist mittlerweile 91 Jahre alt.

Ich wurde auf sie und die Arbeit der Tiefenökologie aufmerksam, als ich 1997 ein Themenheft in die Hand bekam zu »Spiritueller Ökologie«, dem Blick auf das Ganze.

Politik und Spiritualität gehören zusammen

Seit ich denken kann, engagiere ich mich im Umweltschutz. Aus diesem Grund studierte ich Landschaftsökologie, um einen »soliden Beitrag« leisten zu können. Immer wieder machte ich die Erfahrung, dass ich als Aktivistin, die auf die Straße geht, um gegen die Umweltverschmutzung zu demonstrieren, oder im Wald sitzt, um ihn vor dem Abholzen zu retten, nicht ernst genommen wurde. Wenn mein/unser Engagement keinen Erfolg hatte, machte ich oft die Erfahrung, mich ohnmächtig und wütend gegenüber dem bestehenden System zu fühlen. Kurz vor dem Burn-out vor über 30 Jahren lernte ich den Buddhismus kennen. Er zog mich an, nährte und unterstützte mich, immer wieder »in meine Mitte« zu kommen. Ich praktizierte mit meiner Sangha, besuchte längere Retreats und erlebte die Meditationspraxis als wichtigen Anker- und Stabilisierungspunkt in meinem Leben. Mein politisches Engagement war mir weiterhin wichtig, und durch die Meditation bemerkte ich noch stärker das Bedürfnis, Politik und Spiritualität zusammenzubringen – im Innen und im Außen.

»Wir spüren durch unseren Körper den Schmerz in der Welt, wie auch die Trauer, die Wut und die Ohnmacht.«

Ich erlebte, wie unterstützend meine buddhistische Praxis für mein politisches Engagement war und auch, wie mein Engagement mich in meiner Praxis motivierte. Jahrelang fühlte ich mich mit dieser Erfahrung allein. Denn für die meisten meiner damaligen Mitstreiter*innen bzw. Mitmeditierenden war es ein »Entweder-oder«. Für mich war es von Anfang an ein »Sowohl-als-auch«. Das fand ich in der Arbeit der Tiefenökologie gespiegelt, die mich dadurch sofort begeisterte und es immer noch tut. Politik und Spiritualität gehören zusammen, außerdem Körperlichkeit sowie Gefühle und deren Ausdruck. Alles auf unserer wunderschönen Erde und im Universum lebt in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander, alles ist miteinander verbunden im Netz des Lebens. Wir haben als menschliche Wesen u. a. die wunderbare Fähigkeit, zu fühlen. Wir spüren durch unseren Körper den Schmerz in der Welt, wie auch die Trauer, die Wut und die Ohnmacht. Diese sogenannten negativen Gefühle werden oft verdrängt, sie tun weh und machen uns Angst. Wir deckeln sie mit Ablenkungen in Form von Konsumgütern. Genügend Angebote gibt es ja in unserer industriellen Wachstumsgesellschaft. Doch Ablenkung führt nicht zum tief liegenden Glück, wonach sich alle sehnen, sie führt nicht zu Frieden und Heilung, sondern eher zu den Geistesgiften Gier, Hass und Ignoranz. Gerade das Zulassen von starken Gefühlen (wir sprechen in unserer Arbeit nicht von negativen oder positiven Gefühlen) lässt mich erfahren, dass ich daran nicht zerbreche, sondern Mut gewinne, meine Wirkkraft einzusetzen. Denn alles, was ich tue, hat Wirkung auf das gesamte Lebensnetz, genauso wie alles, was ich nicht tue, Wirkung hat. So gestalten wir das Leben und die Entwicklung unserer Mit-Welt mit.

Der große Wandel

Wir leben in unserer Welt gleichzeitig in unterschiedlichen Wirklichkeiten, in der Tiefenökologie sprechen wir auch von unterschiedlichen Geschichten. Oft ist unsere Wahrnehmung begrenzt, sie wird häufig nicht hinterfragt, und wir nehmen an, dass unsere Wirklichkeit die einzige ist.

Die erste Geschichte lautet »Business as usual«, also ein Weiter-so von alten Strukturen, die immer effektiver – höher, schneller, weiter – gestaltet werden, doch die Grundlage bleibt dieselbe. Das Ziel ist, mehr Geld und höhere Börsenkurse als mein Konkurrent zu erzielen.

Die zweite Geschichte kann das »Zerbröseln der Systeme« genannt werden. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Zerstörung und das Verschwinden von ökologischen, ökonomischen und sozialen Systemen, verursacht durch die erste Geschichte.

Und die dritte Geschichte nennen wir »Der große Wandel« – ein Wandel von unserer industriellen Wachstumsgesellschaft hin zu einer zukunftsfähigen, lebensförderlichen Gesellschaftsform. Dieser Wandel oder Paradigmenwechsel vollzieht sich auf drei Wegen, die sich wechselseitig unterstützen:

Der erste Weg heißt: »aufhaltende Aktionen«. Darunter sind alle Protestaktionen zu verstehen, die dazu beitragen, Leben zu erhalten bzw. dessen Zerstörung zu verlangsamen, damit Zeit gewonnen werden kann, um systemische Veränderungen zu ermöglichen. Diese können Sitzblockaden, Demonstrationen sowie auch Unterschriften unter Petitionen sein.

Der zweite Weg ist der der »Analyse vom Bestehenden und dem Aufbau von alternativen Strukturen«. Darunter ist zu verstehen, dass wir erst mal die strukturellen Ursachen unserer Krise ergründen und dann erörtern, welche Alternativen es dazu gibt. Zum Beispiel: Was läuft nicht gut im Gesundheits- oder Bildungssystem, in der Energieversorgung, im Anbau und in der Verarbeitung von Lebensmitteln oder im sozialen Miteinander? Aufgrund dieser Erkenntnisse können Alternativen entwickelt und umgesetzt werden, die lebensförderlicher und ganzheitlicher für alle sind. Das können sein: Waldkindergärten, Food Coops, Leben in Gemeinschaft, regenerative Energiequellen usw.

Und der dritte Weg heißt »Werte- und Bewusstseinswandel«. Die Protestaktionen sowie der Aufbau von Alternativen sind nicht möglich ohne einen Wandel des Bewusstseins. Unsere Wertvorstellungen für eine lebensförderliche Zukunft kommen aus unserer inneren Überzeugung, dass ein anderes Miteinander möglich ist.

Astronauten, die unsere Erde als blaue Perle im schwarzen Weltall schweben sahen, kehrten durch diese veränderte Sichtweise mit einem anderen Bewusstsein auf die Erde zurück. Vom All aus sind keine Individuen und keine Ländergrenzen mehr sichtbar. Von dort aus sind wir alle Bewohner*innen dieses einen Planeten, der aus der Ferne sehr verletzlich erscheint.

»Am ersten Tag deutete jeder auf sein Land. Am dritten oder vierten Tag zeigte jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag achteten wir auch nicht mehr auf die Kontinente. Wir sahen nur noch die Erde als den einen ganzen Planeten« – so beschrieb es der Astronaut Sultan Ben Salman Al Saud aus Saudi-Arabien nach seiner Rückkehr aus dem All.

Und so drückt es Edgar Mitchell aus den USA aus: »Dir wird klar, auf jenem kleinen, blau-weißen Ding befindet sich all das, was dir etwas bedeutet: alles, was es gibt an Geschichte und Musik, Dichtung und Kunst, Tod, Geburt und Liebe, Tränen, Freuden, Spielen – alles auf der winzigen Kugel dort in der Ferne … Du erkennst, dass du ein Stück von diesem Gesamtleben bist, dass du dazugehörst … Und bist du wieder zurück, siehst du die Welt ganz anders. Ein solches Erlebnis verändert dein Verhältnis zur Erde und zu all den Formen von Leben auf ihr … Jeder kommt mit dem Gefühl zurück, nicht mehr Bürger eines bestimmten Landes zu sein, sondern Erden-Bürger.«

Diese veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit geschieht als kognitive Revolution und im spirituellen Erwachen und vollzieht sich nicht nur, wenn wir aus dem All auf »Gaia« schauen. Den Namen »Gaia« gab der englische Wissenschaftler James Lovelock der Erde Mitte der 70er-Jahre, als er beim Studium der chemischen Zusammensetzung unserer Atmosphäre entdeckte, dass die Erde ein sich selbst regulierendes System ist, was ein Kennzeichen für einen lebenden Organismus ist. Diese veränderte Sichtweise auf unseren Heimatplaneten veränderte unser Denken und Handeln – die Erde als lebendiger Prozess, an dem wir teilnehmen!

»Eine Wahrnehmung meiner Kraft und meiner Möglichkeiten, zu welchen Aufgaben ich gerade bereit bin oder die Begeisterung spüre, ist Voraussetzung für ein aktives Sein, ohne auszubrennen.«

Wie bereits erwähnt, wird sich der Wandel nur vollziehen, wenn alle drei Wege zusammen vollzogen werden. Keiner ist wichtiger oder als Erster zu begehen. Viele von uns sind gleichzeitig auf allen dreien unterwegs, und dann gibt es Zeiten im Leben, da ist der eine oder der andere Weg mehr im Vordergrund. Eine Wahrnehmung meiner Kraft und meiner Möglichkeiten, zu welchen Aufgaben ich gerade bereit bin oder die Begeisterung spüre, ist Voraussetzung für ein aktives Sein, ohne auszubrennen.

Gabi Bott

Die Spirale

Die sogenannte Landkarte der tiefenökologischen Arbeit ist die Spirale. Sie ist ein wunderbares Symbol: Sie bewegt sich immer rund, doch kommt sie nie an demselben Punkt im Kreis an, an dem sie gestartet ist. Immer etwas weiter oben oder unten (je nachdem, in welche Richtung sie sich bewegt). Ein schönes Symbol für das Leben, das immer wieder an ähnliche Punkte kommt, doch sie sind niemals dieselben. Wir beginnen auf der Spirale mit der Dankbarkeit. Wofür spüre ich Dankbarkeit in meinem Herzen? Das, was gerade in mein Bewusstsein kommt, kann etwas ganz Kleines oder etwas Großes sein. Sie drückt unsere Liebe für das Leben in den unterschiedlichsten Schattierungen aus. Das Schöne ist, dass Dankbarkeit nicht von äußeren Faktoren abhängig ist. Immer – wenn ich mich daran erinnere (das ist der entscheidende Punkt) – kann ich mich ihr zuwenden. Sie erdet mich und ist eine Basis, um mich für den Schmerz zu öffnen: Die Würdigung vom Schmerz in der Welt ist der zweite Punkt auf der Spirale. Hier richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere inneren Reaktionen, wenn wir uns der Zerstörung und dem Leid unserer Mitwelt zuwenden. Starke Gefühle, die aufsteigen können, sei es Schmerz, Wut, Angst oder Trauer, sind gesund und ein Zeichen unserer Offenheit dem Leben gegenüber. Diese Gefühle wollen uns auf etwas hinweisen und dienen als SOS-Signal oder »Aufwacher«. Der Schmerz, den wir in uns spüren, ist nur zum Teil individuell, der weitaus größere Teil ist kollektiv. Dadurch, dass wir Alle mit Allem in Verbindung stehen, dass wir im Netz des Lebens eingebunden sind, sind wir auch in der Lage, den Schmerz, die Wut, die Angst usw. zu spüren, die z. B. dem Leben auf der Südhalbkugel widerfährt – wir müssen uns »nur« dafür öffnen. Mit den Worten des Dichters Khalil Gibran in seinem Buch »Der Prophet« vor fast 100 Jahren ausgedrückt: »Euer Schmerz ist das Zerbrechen der Schale, die euer Verstehen umschließt. Wie der Kern der Frucht zerbrechen muss, damit sein Herz die Sonne erblicken kann, so müsst auch ihr den Schmerz erleben. Und könntet ihr in eurem Herzen das Staunen über die alltäglichen Dinge des Lebens bewahren, würde euch der Schmerz nicht weniger wundersam scheinen als die Freude2Khalil Gibran, »Der Prophet«, DTV Sachbuch, 12. Auflage 2017, S. 29. Der dritte Punkt auf der Spirale lautet: mit neuen Augen sehen oder Standortwechsel. Das Erleben, dass ich daran nicht zerbreche, wenn ich starke Gefühle zulasse und nicht verdränge, lässt in mir Stärke und Mut entstehen. Die Verbundenheit mit meiner Mitwelt und den Gefühlen, die das bei mir auslöst, kann zu einem Wandel in meinem Bewusstsein führen, zu einer neuen Sichtweise auf das Leben. Dabei können uns die Rituale und Weisheiten der indigenen Völker unserer Erde unterstützen sowie die Erkenntnisse der Komplexitätsforschung, wie z. B. der Quantenphysik und Allgemeinen Systemtheorie.
»Mit dieser Weisheit erkennst du, dass es hier nicht um einen äußeren Kampf zwischen Gut und Böse geht, denn die Linie zwischen Gut und Böse verläuft mitten durch das Herz eines jeden Menschen.«
Daraus kann der nächste Schritt folgen: Es bleibt nicht beim Spüren, nicht bei der Erkenntnis, sondern führt zum Handeln – dem vierten Punkt auf der Spirale. Zu einem Handeln, das aus dem Gefühl einer Einheits- und Verbundenheitserfahrung mit dem Sein und dem Lebenden entspringt, aus einem mitfühlenden Herzen und einem klaren Geist, der die wechselseitige Abhängigkeit von Allem erkennt. Mit dieser Weisheit erkennst du, dass es hier nicht um einen äußeren Kampf zwischen Gut und Böse geht, denn die Linie zwischen Gut und Böse verläuft mitten durch das Herz eines jeden Menschen.

Die Tiefenzeit

Einen Standortwechsel erkennen bzw. mit neuen Augen sehen kann ich auch, wenn ich mich für die größeren Zeitabläufe öffne, die unser gegenwärtiges Leben erst ermöglichen. Wenn wir unseren Geist für das menschliche wie auch für das nichtmenschliche Leben weiten, das vor uns auf der Erde lebte, sowie für zukünftige Generationen, die nach uns diese Erde bewohnen, dann kann dies zu einer Erweiterung meines Bewusstseins sowie zu einer Erleichterung gegenüber bestehenden Herausforderungen führen. Mit den Gaben der Ahn*innen für die zukünftigen Generationen zu denken und zu handeln, lässt uns weit über unser individuelles Leben hinaus unsere Welt mitkreieren. Wir sind zurzeit diejenigen, die einen Körper haben und handeln können. Unsere Vorfahren sind gestorben, und die Zukünftigen sind noch nicht geboren. Mit solch einem Blick auf mein Erdendasein und dem Bewusstsein, dass mein Wirken Einfluss hat, zum Teil weit über mein Leben hinaus, kann ich mich in den kontinuierlichen Fluss des Lebens einfühlen. Ich kann mich üben, wahrzunehmen, was mein »Job« in diesem Leben ist. Mich leiten dabei Fragen wie: Wobei spüre ich meine Begeisterung, was möchte ich lernen, was macht mir Freude und wo kann ich die Fähigkeiten, die ich in diesem Leben mitbekommen habe, einbringen?

Wir nennen diesen weiteren Blick auf die Zeit »Tiefenzeit«, d. h. sie unterstützt uns, wieder heimisch in der Zeit zu werden.

Rituale und Übungen

All diese Erkenntnisse brauchen Räume, wo sie erlebt werden können. In unserer Arbeit lernen wir durch Übungen und in Ritualen in einem geschützten Raum, uns wieder zu verbinden – mit uns selbst, mit allen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen und mit unserer Erde, auch über unsere Jetztzeit hinaus.

Diese Übungen und Rituale haben mehrere Funktionen: Sie lassen unser Wissen in die Erfahrung sickern, sie weiten unser Bewusstsein über den bekannten Radius hinaus zu einem globalen Erdenbewusstsein und verwandeln unser individuelles Selbst in ein »ökologisches Selbst«. Als »ökologisches Selbst« bezeichnete Arne Naess die Empfindung einer erweiternden Identifikation, die die engen Grenzen der Selbstbezogenheit ausdehnt. Es lässt uns spüren, dass Alles mit Allem im Netz des Lebens verbunden ist. Die Erfahrung, in etwas Größerem als uns selbst eingebunden zu sein, hilft, keine Angst vor der Angst zu haben und sich starken Gefühlen zuzuwenden.

»Es geht darum, dass Menschen ihren eigenen Erfahrungen vertrauen und die Wahrheit über das, was sie sehen, fühlen und denken, aussprechen.«

Die kreative Arbeit der Tiefenökologie unterstützt dabei, die Blockaden der Rückkopplungsschleifen 3Erläuterung der Autorin: Alle offenen Systeme, biologische wie soziale, regulieren sich selbst aufgrund von Rückkopplung, also durch das Beobachten und Bewerten dessen, was ihr Handeln von einem Moment zum nächsten bewirkt.zu lösen. Es geht darum, dass Menschen ihren eigenen Erfahrungen vertrauen und die Wahrheit über das, was sie sehen, fühlen und denken, aussprechen. »Die größte Krankheit unserer Zeit ist die Verdrängung«, sagt Joanna Macy. Verdrängen heißt: nicht sehen wollen, nicht fühlen wollen, was mit unserem Heimatplaneten und seinen Wesen zurzeit geschieht – sich stattdessen mit Ersatzbefriedigungen abzulenken, die unsere industrielle Konsum- und Wachstumsgesellschaft vielfach anbietet.

Es erfordert die Bereitschaft, sich auf Erfahrungen einzulassen, die Verhaltensänderungen nach sich ziehen können. Es erfordert Mut, sich dem zu stellen und nicht zu wissen, wo der Weg hinführt. In Anbetracht dessen ist es sehr unterstützend, in Gruppen zusammenzukommen, mich mitzuteilen und zuzuhören, ohne zu beurteilen oder gleich Lösungen parat zu haben. Zeug*in zu sein für das, was andere fühlen, denken, ausdrücken, ist ein großes Geschenk und lässt mich erleben – und nicht nur wissen –, dass es anderen ähnlich geht und ich nicht verrückt bin, wenn ich den Schmerz angesichts der Zerstörung von Leben spüre.

Es ist normal und es ist gesund! Die Gefühle, die in dem am Anfang beschriebenen Wahrheitsmandala ausgedrückt werden, besitzen alle eine tantrische Seite. Wenn ich die Trauer ausdrücke, dann ist gleichzeitig die Liebe da, die ich für das empfinde, wofür ich trauere. Wird die Angst ausgesprochen, dann schwingt gleichzeitig der Mut und das Vertrauen mit, darüber offen zu sprechen. Bei der Wut können wir die Leidenschaft für Gerechtigkeit hören, und bei dem Ausdrücken der Ohnmacht würdigst du gleichzeitig die Leere, den Raum, in dem Neues entstehen kann.

Gabi Bott

Dies zu wissen, kann meine Haltung zu den Gefühlen »haben zu wollen« und »nicht haben zu wollen« auflösen, denn Leben durchströmt uns mit Allem, was da ist.

Der Schriftsteller Franz Kafka schrieb vor ca. 100 Jahren:

»Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt, … aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest4Kafkas »Die Zürauer Aphorismen« entstanden 1917–1918 und wurden 1931 (posthum) von Max Brod unter dem Titel »Betrachtungen über Sünde, Hoffnung, Leid und den wahren Weg« veröffentlicht.

Eine wichtige Übung für mich ist es, bei all den Anstrengungen immer wieder die Freude und die Gelassenheit in mein Leben einzuladen und zu erleben, dass ich vom Netz des Lebens gehalten werde, einem Netz, das von Energie, Information und Intelligenz durchströmt wird und weit über das hinausreicht, was meine persönliche Individualität ausmacht. (siehe Kasten – 12 Punkte des holonischen Wandels)

Mein Weg

Für mich war es von Anfang an, als ich die Arbeit kennenlernte, klar, dass diese »meine« Herzensarbeit ist, dass ich dafür gehen möchte und werde – doch wie und wohin? Diese Frage stellte sich mir nach meiner Rückkehr aus den USA, wo ich vor 20 Jahren ein Jahr verbrachte, um mit Joanna Macy zu arbeiten und von ihr zu lernen. Eine Freundin erzählte mir von einer jungen Gemeinschaft im Norden Deutschlands, dem Ökodorf Sieben Linden, das gegründet wurde, um die »Einheit in der Vielfalt« zu leben. Anfang 2001 zog ich nach Sieben Linden, für mich war und ist es ein Ort, an dem wir üben, ganzheitlich und zukunftsfähig in Gemeinschaft zu leben. Wir geben unser Erlerntes und Erlebtes, was durch unser Zusammenleben entsteht und sich entwickelt, in Bildungsveranstaltungen und Mitarbeitsmöglichkeiten an Interessierte weiter und tragen so zum Bewusstseinswandel bei. Einem Wandel in unserer Wahrnehmung, unserem Weltbild und unseren Werten. Diese neue Qualität des Bewusstseins können wir nicht »machen«, doch wir können sie nähren, damit sie sich entfaltet, so wie die Blüte aus der Knospe, und wir aus unserem Herzen handeln!

Definition Holon:

Ein Holon ist ein eigenständiges Ganzes und damit autonom und gleichzeitig immer auch integraler Teil eines größeren Ganzen und somit davon abhängig.

»12 Punkte des holonischen Wandels« – die ethischen Grundlagen der Tiefenökologie

Diese Punkte wurden erstmals 1990 formuliert und haben sich seitdem immer wieder etwas verändert. Sie dienen zum Anregen weiterer Reflexionen.

  1. Stimme dich auf eine gemeinsame Absicht ein. Diese Absicht ist weder ein Ziel noch ein Plan, der sich präzise in Worte fassen lässt. Sie ist vielmehr ergebnisoffen: Im Vordergrund stehen unsere gemeinsamen Bedürfnisse und neue Formen der Zusammenarbeit.
  1. Heiße Vielfalt willkommen. Die Selbstorganisation des Ganzen erfordert die Verschiedenheit seiner Teile. Die Rolle, die jede Person auf dieser Reise ins Unbekannte spielt, ist einzigartig.
  1. Sei dir bewusst, dass nur das Ganze sich selbst heilen kann. Du kannst die Welt nicht reparieren, sondern an ihrem Selbstheilungsprozess teilhaben. Die Heilung verwundeter Beziehungen in dir selbst und zwischen dir und anderen ist ein wesentlicher Bestandteil des gesamten Heilungsprozesses.
  1. Lerne zu vertrauen. Vertrauen heißt teilnehmen und dabei Risiken eingehen, selbst dann, wenn du den Ausgang weder erleben wirst noch kontrollieren kannst. Denn du bist nur ein kleiner Teil eines weit größeren Prozesses ähnlich einer Nerzenzelle in einem neuronalen Netz.
  1. Öffne dich dem Fluss der Informationen aus dem größeren System. Lasse die schmerzhaften Informationen über die Bedingungen in unserer Welt, die du wahrnimmst, zu. Durch deine Verbundenheit mit der Welt und deine Bereitschaft, dich dem Schmerz zu stellen, kannst du ihn fühlen und verstehen. Dadurch werden blockierte Feedbackschleifen geöffnet. Für das Wohlbefinden des Ganzen ist dies wesentlich.
  1. Teile den anderen mit, wie du die Welt unter den gegenwärtigen Bedingungen erlebst. Wenn die Reaktionen der anderen deinem Erleben entsprechen, kannst du davon ausgehen, dass sie ähnlich empfinden. Sei bereit, alte Wertvorstellungen und Rollenmuster loszulassen, damit du jene Fragen stellen kannst, die dich tief in deinem Innern bewegen.
  1. Glaube niemandem, der sagt, er habe die absolute Wahrheit gefunden. Solche Behauptungen sind Zeichen von Ignoranz und Egoismus.
  1. Arbeite vermehrt in Gruppen oder beteilige dich an Projekten, die gemeinsamen Zielen dienen. Durch gemeinsame Aufgaben und Rituale wird Gemeinschaft erzeugt.
  1. Gehe mit deinen Kenntnissen und Stärken großzügig um – sie sind kein persönlicher Besitz. Sie wachsen, indem du sie teilst, und sie beinhalten beides – dein Wissen und dein Nicht-Wissen sowie die Gaben deiner Vorfahren und aller Lebewesen.
  1. Fördere die Stärken der anderen durch deine Wertschätzung. Beurteile niemals vorschnell, was jemand beitragen kann, sondern mache dich vielmehr auf Überraschungen und neue Synergieeffekte gefasst.
  1. Die Ergebnisse deines Wirkens wirst du selten unmittelbar erfahren. Die Auswirkungen deines Handelns sind so unvorhersehbar und weitreichend, dass sie vermutlich deine Lebenszeit überdauern werden.
  1. Gib der Gelassenheit und Freude bei all deinen Anstrengungen Raum. Du weißt, du wirst vom Netz des Lebens gehalten, einem Netz, das von Energie, Information und Intelligenz durchströmt wird und weit über das hinausreicht, was deine persönliche Individualität ausmacht.

Zu finden unter: tiefenoekologie.de/mitmachen

Gabi Bott

Zur Autorin

Gabi Bott, Trainerin für Tiefenökologie, Aus- und Weiterbildung in D und in den USA bei Joanna Macy; Dipl.-Ing. Landespflege (FH); sieben Jahre Geschäftsführerin bei Bündnis 90/Die Grünen in Freiburg; Yogalehrerin; praktiziert seit 1988 buddhistische Meditation; freiberuflich im Bildungsbereich tätig; lebt seit 2001 in der Gemeinschaft Ökodorf Sieben Linden.

Homepage

gabibott.de

tiefenoekologie.de

siebenlinden.org

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen