Eine Hommage an das bahnbrechende Buch von Marilyn Ferguson
Im Jahr 1980 veröffentlichte Marilyn Ferguson das Buch »The Aquarian Conspiracy« (dt. Titel: Die sanfte Verschwörung) und wurde hiermit zu einer Pionierin einer aufkommenden Kulturbewegung, die »New Age« genannt wurde. Ferguson entdeckte auffällige inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen progressiven DenkerInnen, die die materialistische Wissenschaft hinter sich lassen wollten, hin zu einem neuen, lebendigen Denken und Paradigmenwechsel, in denen die spirituellen Bedürfnisse des Menschen und seine Seele wieder in den Diskurs aufgenommen werden.
Pater Teilhard de Chardin wird oft als »Vorläufer« des »New Age« betrachtet. Auch wenn er ein Visionär war, wie alle Autoren des »New Age«, würde ihm diese zweifelhafte Ehre sicher nicht gefallen haben. Sein »New Age« war das Reich Gottes auf Erden, das »Neue Jerusalem«, doch nicht das Reich von Blumenkindern in Kalifornien. Auch wenn die »New-Age-Autoren« (niemand würde sich mit diesem Titel identifizieren wollen) ihn anfänglich wohl mehr rezipierten und sein Denken mehr verbreitet haben als die kirchlichen Kreise selbst. Für die katholische Kirche war der Jesuitenpater eher ein »enfant terrible«.
Eher eine »Vordenkerin« des »New Age« jedoch war Merilyn Ferguson, mehr als jeder andere. Sie war auch unfreiwillig die Namensgeberin dieser Bewegung in einem neuen Geist. Und sie war eine glühende Anhängerin von Teilhard de Chardin, den sie in ihrem Buch immer wieder zitiert. Sogar ihr Begriff der »Verschwörung« ist von Teilhard de Chardin inspiriert. Nach seinem Besuch in Amerika 1931 schrieb er selbst von seinen Eindrücken: eine »Verschwörung von Individuen aus allen Schichten der amerikanischen Gesellschaft bemüht sich darum, das Gebäude des Lebens auf eine neue Stufe zu heben.« (zitiert S. 57) Oder an anderer Stelle: Teilhard de Chardin empfiehlt ausdrücklich »eine Verschwörung der Liebe« (S. 22).
Vielleicht war das der Grund, warum sich hartnäckig das Fehlurteil hielt, der Pater sei selbst der Vordenker des »New Age«. Nicht einmal Marilyn Ferguson verstand sich als »Vordenkerin«, sondern eher als »Beobachterin« einer namenlosen Bewegung, von der sie in weiblicher Intuition ahnte, dass sich hier eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte entfalten würde.
»Bei einem neuen Zeitalter bahnt sich etwas den Weg, das weit über unser Denken hinausreicht.«
Mehr hilfsweise gab sie dieser neuen Epoche den Namen »Wassermann-Zeitalter«. Denn abgesehen davon, dass man ein Zeitalter nicht »vordenken« kann: Bei einem neuen Zeitalter bahnt sich etwas den Weg, das weit über unser Denken hinausreicht. Wir können die Ahnung einer Transformation haben, doch die Quelle einer solchen Transformation sind ganz andere Reiche zwischen Himmel und Erde als die unseres Denkens.
Im Januar 1980 erschien das Buch von Marilyn Ferguson »The Aquarian Conspiracy« (»Die sanfte Verschwörung«, dt. 1982), das einen wohl kaum zu überschätzenden Einfluss auf das »Neue Denken« der »Wendezeit« hatte, zwei Stichworte und Buchtitel von Fritjof Capra. Capra selbst schrieb 1982 das Vorwort zu einer Neuauflage des Buches von Marilyn Ferguson.
Marilyn Ferguson (1938–2008) war die erste, die nach Thomas S. Kuhn in den Naturwissenschaften nun auch in den Sozialwissenschaften von einem kommenden »neuen Paradigma« sprach. Sie bezog sich dabei ausdrücklich auf ihn (S. 29–33): »Indem Kuhn ein plötzlich erkennbares Phänomen mit Namen versah, machte er uns die Wege von Revolution und Widerstand bewusst.« (S. 31)
Fritjof Capra wusste diesen Bezug auf Kuhns »Paradigmenwechsel« besonders zu würdigen. In seinem Vorwort schreibt er:
»Marilyn Ferguson zeigt überzeugend, dass ein zentraler Aspekt unserer kulturellen Transformation ein, wie sie es nennt, ›Paradigmenwechsel‹ ist – eine dramatische Veränderung in Bezug auf die Gedanken, Wahrnehmungen und Wertbegriffe, die ein besonderes Realitätsempfinden entstehen lassen. (…)
Das vorliegende Buch versucht nicht, ein umfassendes Gedankensystem für das neue Weltbild anzubieten; dennoch lag es der Autorin in bemerkenswerter Weise, einige grundlegende Aspekte aufzuweisen. Das neue Paradigma besteht nicht nur aus neuen Konzepten, sondern auch aus einem neuen Wertesystem und spiegelt sich in neuen Formen gesellschaftlicher Organisation und neuen Institutionen.« (S. 12 f.)
Das Buch ist so aktuell wie vor 40 Jahren. Vielleicht leben wir gerade in einer Zeit, in der sich ihre Ahnungen deutlich manifestieren und das Buch erst richtig verstanden werden kann.
Der Untertitel zur deutschen Ausgabe »Persönliche und gesellschaftlliche Tranformation im Zeitalter des Wassermanns« hat dem Buch sicher Türen und Tore zur »esoterischen Szene« geöffnet, doch dieser Titel war eher aus einer Verlegenheit geboren, als dass er ein Fanal für das Wassermannzeitalter im astrologischen Sinne war (grob: 1950–4100, wenn man den Astrologen folgen will; zugegeben: Als ein 1950 gezeugter und 1951 geborener Wassermann habe ich selbst eine gewisse Sympathie für diese Sichtweise.). Marilyn Ferguson war keine Astrologin, aber sie spürte diese fundamentale Wende in der menschlichen Geschichte kommen, eine Wende, die womöglich einen größeren Einfluss auf die Geschichte der Menschheit haben würde als die Renaissance. Sie betont: »Nicht einmal die Renaissance hat eine dermaßene Erneuerung versprochen« (S. 468), ja diese lässt »die Renaissance wie eine Totgeburt erscheinen« (S. 65 f.).
Marilyn Ferguson ahnte in weiblicher Intuition eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte. Sie schreibt in der Einleitung ihres Buches selbst:
»Verschwören (kon-spirieren, Jürgen Schröter) bedeutet buchstäblich ›zusammen atmen‹. Damit ist eine innige Verbundenheit gemeint. Um die wohlwollende Natur dieser Verbundenheit klar zu machen, füge ich den Begriff ›Wassermann‹ hinzu. Obwohl ich der Astrologie unkundig bin, hat mich der Symbolgehalt dieses unsere Kultur durchdringenden Traumes in seinen Bann gezogen: der Gedanke, dass wir nach einem dunklen, gewalttätigen Fische-Zeitalter eine Ära der Liebe und des Lichtes betreten – in den Worten des bekannten Liedes ›The Age of Aquarius‹ einer Zeit der ›wahren Befreiung des Geistes‹. Mag es nun in den Sternen geschrieben stehen oder nicht – ein anderes, ein neues Zeitalter scheint seinen Anfang zu nehmen; und der Wassermann, der Wasserbringer der alten Sternbild-Lehre, als Symbol des Fließens und des Stillens eines uralten Durstes, ist ein zutreffendes Bild dafür.« (S. 22)
Marilyn Ferguson war in Amerika eine der ersten PionierInnen, die das Thema »Geist und Gehirn« zu ihrem Lebensthema gemacht hat, ähnlich wie »Das Ich und sein Gehirn« (Karl R. Popper und Sir John C. Eccles, 1982) oder 30 Jahre später »Super-Brain« (Deepak Chopra und Rudolf E. Tanzi, 2012). Die auch sie treibende Forschungsfrage war: Wie hängt das Bewusstsein mit der physischen Struktur des Gehirns zusammen? Marilyn Ferguson hatte schon lange an der Thematik gearbeitet und gab dazu »Newsletter« heraus: Brain/Mind Bulletin und Leading Edge.
Während dieser Recherchearbeiten zu »Gehirn und Bewusstsein« ist ihr aufgefallen, dass es eine merkwürdige Verbundenheit dieser »neuen Denker« untereinander gab, einer »Subkultur«, die noch keinen Namen hatte, doch schon eine »kulturelle Transformation«, ein neues Zeitalter ankündigte.

Das Überraschende an dem Buch ist bei aller Vision, dass es noch keinen Bezug zum Internet hat, dem »globalen Gehirn« der Menschheit, dem digitalen Zeitalter. Das Buch hat zwar ein spezielles Kapitel »Kommunikationsmittel – Unser Nervensystem« (S. 149 ff.), doch konnte von dem Internet noch keine Rede sein, das erst 20 Jahre später die technische Reife hatte, die Welt zu erobern. Das Internet wurde nicht zufällig in Kalifornien entwickelt (der Geburtsstätte des neuen Zeitalters) als Kind der weltweiten »Verschwörer« wie auch ihr bald zentrales Medium.
Die Themen von Marilyn Ferguson selbst sind nach wie vor aktuell, vielleicht treten sie nach dem Internet-Hype jetzt erst richtig hervor:
- das neue, ganzheitliche, integrale Denken, das über die Konzepte des Materialismus hinausgeht,
- die kommende TRANSFORMATION, ein zentraler Begriff des Buches. Ein schönes Zitat dazu von ihr: »Bezeichnenderweise beschreiben alte Traditionen die Transformation als neues Sehen. Ihre Metaphern sind Licht und Klarheit. Sie sprechen von Einsichten und Visionen. Teilhard de Chardin meinte, dass das Ziel der Evolution ›immer perfektere Augen‹ seien, ›in einer Welt, in der es immer mehr zu sehen gibt‹.« (S. 77)
- der Durchbruch in den Wissenschaften an allen Fronten
- eine neue Art der Macht, der Selbstermächtigung des Einzelnen
- das Thema der Selbstheilung, das in der Hand jedes Einzelnen liegt
- neue Wege des Lernens, die weit über das schulische Lernen hinausgehen, sogar über das »lebenslange Lernen«; es geht um die Selbst-Bildung des Einzelnen
- die Ausrichtung des Lebens nach der inneren Berufung
- spirituelle Tiefe: die ständige Verbindung mit der inneren Quelle
- die Veränderung der Beziehung zwischen den Menschen,
weg von sozialen Rollen, hin zu authentischen Beziehungen - und nicht zuletzt: die weltweite Verschwörung der Menschheit hin zu einer planetarischen Familie.
Was für eine Vision!
Marilyn Ferguson hat drei Jahre lang an dem Buch mit vielerlei Recherchen gearbeitet, einschließlich einer eigenen Feldforschung und der Auswertung eines persönlich erstellten Fragebogens mit 185 Rückläufen. Sie ist keine »Vordenkerin« eines neuen Zeitalters, sondern eher eine Protokollantin einer unterschwelligen Bewegung und deren Namensgeberin. Sie führte in einer großen Schau das zusammen, was sich an »kultureller Transformation« gerade in Amerika herausbildete, und gab dieser Bewegung den Namen »Verschwörung«. »Zuerst widerstrebte es mir, diesen Begriff zu benutzen. (…) Mit dem Begriff ›Verschwörung‹ sind normalerweise negative Assoziationen verknüpft.« (S. 21) Doch durch die Inspiration von Teilhard de Chardin, der von »Verschwörung« sprach, wagte sie es dann doch, diesen Begriff zu verwenden.
»Der persönliche Paradigmenwechsel lässt sich mit einer Seelenreise in die Neue Welt vergleichen.«
Marilyn Ferguson greift »Transzendentalisten« wie Ralph Waldo Emerson wieder auf, die sich gegen das wendeten, was sie als toten, trockenen Intellektualismus sahen. »Es fehlte irgend etwas – eine unsichtbare Dimension der Wirklichkeit, die von ihnen gelegentlich als Überseele bezeichnet wurde.« (S. 53) Sie zitiert einen Seminarleiter für Persönlichkeitsentwicklung mit seinem Resümee: »Diese Seelensucher stellen unsere Zukunft dar, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« (S. 407) Und weiter aus ihrer eigenen Sicht: »Der persönliche Paradigmenwechsel lässt sich mit einer Seelenreise in die Neue Welt vergleichen.« (S. 447)
»Doch es ist weit mehr als nur die Rückkehr der rechten Gehirnhälfte. Es geht vielmehr um die »Flucht aus dem Gefängnis der beiden Gehirnhälften«
Genau das ist das entscheidende Stichwort, die SEELE, mit der ihr Buch weit über ihre Zeit hin in ein neues Zeitalter weist: das Zeitalter der Seele. Nach dem Intellektualismus, der Überbetonung des Rationalen und Mentalen, den Fähigkeiten der »linken Gehirnhälfte«, wird auch die »rechte Gehirnhälfte« wieder zu ihrem Recht kommen: Gefühl, Telepathie, Inspiration (eine Funktion des Geistes), Intuition (eine Funktion der Seele), um nur die wichtigsten Begriffe zu nennen. Doch es ist weit mehr als nur die Rückkehr der rechten Gehirnhälfte. Es geht vielmehr um die »Flucht aus dem Gefängnis der beiden Gehirnhälften« (S. 93). Es geht um das HERZ als TOR ZUR SEELE.
Es geht bei der Transformation also um eine »neue Art von Menschen« (S. 92), der nicht – wie Science-Fiction-Filme suggerieren – mit einem besonders großen Gehirn ausgestattet ist. Was ihn vielmehr ausmacht, ist (nach J. M. Murry, den Marilyn Ferguson zitiert):
»Eine neue Art von Bewusstsein wurde in ihnen geschaffen. Verstand und Gefühl, die unversöhnliche Feinde gewesen waren, vereinigen sich in der Seele, die das liebte, dessen sie sich bewusst war. Die innere Teilung war geheilt.« Und sie führt fort: »Murry bezeichnet dieses neue Wissen als Seele.« (ebd.)
Ich möchte hierbei aus ihrem umfangreichen, fast programmatischen Buch zwei Themen besonders herausgreifen: zum einen das Thema »Berufung« als mein persönliches Lieblingsthema und zum zweiten als Zusammenfassung des Buches: die weltweite Verschwörung.
Marilyn Ferguson sieht »Berufung« durchaus als persönliche, jedoch auch als eine gesellschaftliche Transformation, die die ganze Arbeitswelt verändern wird.
»Eng verbunden mit Intuition ist Berufung – wörtlich ein ›Ruf‹. Berufung ist die Entwicklung, seinen eigenen Weg zu gehen, auf irgendetwas loszusteuern. Es ist mehr eine Richtung als ein Ziel.« (S. 123)
Sie bezieht sich auf C. G. Jung, den sie zitiert: »Die Berufung offenbart sich wie ein Gesetz Gottes, aus dem es kein Entrinnen gibt.« (S. 125) Diese ist auch mit dem Phänomen der »Synchronizität« eng verbunden. Weitere mit »Berufung« verwandte Begriffe sind »Bestimmung« oder »Herzenswunsch« (S. 126).
In der Berufung gehen wir aber keine »Zwangsehe« mit dem Göttlichen ein. Wir fühlen uns zwar von etwas Höherem berufen, doch mehr im Sinne: »Dein Wille ist mein Wille.«
»Die Berufung gibt uns einen solchen [Seelen-] Plan. Eine nüchterne Entdeckung – nicht jene der Schuld und nicht die der Pflicht, sondern jene der Verantwortlichkeit im Sinne des lateinischen Ursprungs des Begriffs: die Tat des Zurückgebens, des Erwiderns.« (S. 126)
Wenn wir unseren »Platz im Leben« suchen, unsere »Bestimmung«, die unser Leben »stimmig« macht, dann haben wir dies in unserer Berufung gefunden. Und im Grunde ist es so, dass die Berufung nichts für »Auserwählte« ist, sondern jeder Mensch berufen ist, nämlich von seiner Seele, seinem Leben Bedeutung zu verleihen.
Diese Dialektik von Berufung einerseits und freiem Willen andererseits sieht Marilyn Ferguson so:
»Berufung ist eine merkwürdige Mischung von Willkürlichem und Unwillkürlichem – der freien Wahl und des Sichauslieferns. Menschen bemerken, dass sie sich stark in eine bestimmte Richtung oder zu einer gewissen Aufgabe hingezogen fühlen, und sie sind zugleich davon überzeugt, dass sie auf irgendeine Weise dazu ›bestimmt‹ sind, eben diese – und keine andere – zu tun.« (S. 124)
Sich der Berufung zu stellen, hat nach Marilyn Ferguson weitreichende Konsequenzen:
»Während der transformativen Entwicklung werden wir zu den Künstlern und Wissenschaftlern unseres eigenen Lebens.«
»Während der transformativen Entwicklung werden wir zu den Künstlern und Wissenschaftlern unseres eigenen Lebens. Eine erweiterte Bewusstheit fördert in uns allen jene Merkmale, die bei einem schöpferischen Menschen reichlich vorhanden sind: Ganzheitliches Sehen; frisches, kindliches Empfindungsvermögen; ein spielerisches Element; ein Gefühl des Fließens; Risikobereitschaft; die Fähigkeit zu entspannter Aufmerksamkeit; Hingabe an den Gegenstand einer Kontemplation; die Fähigkeit, sich mit zahlreichen, komplexen Ideen zugleich zu befassen; Bereitschaft, von der allgemein geltenden Sichtweise abzuweichen; Zugang zu Bereichen der Vorahnung; Wahrnehmung des tatsächlich Vorhandenen und nicht des erwarteten Konditionierten. Das transformierte Selbst weist neue Mittel, Gaben, Gefühle auf.« (S. 134)
»Seine Berufung zu leben, ist mehr als der Bonus für ein erfülltes Leben. Es ist das Wesen des Lebens selbst.«
Seine Berufung zu leben, ist mehr als der Bonus für ein erfülltes Leben. Es ist das Wesen des Lebens selbst. Ein Baum ist dazu berufen, ein Baum zu sein. Er sucht seine Berufung nicht erst und zweifelt nicht daran. Nur wir Menschen haben durch unseren Verstand die Möglichkeit, zu zweifeln. René Descartes wusste, dass genau das »Zweifelhafte« unser Menschsein ausmacht: Fluch und Segen zugleich. Das Göttliche will, dass wir uns für es freiwillig entscheiden, dass wir uns für unsere Berufung freiwillig entscheiden. Das ist der tiefe Sinn des »freien Willens«. Der Baum hat keine Entscheidungsfreiheit. Wir Menschen ja, und deshalb können wir über uns hinauswachsen – bis hin zum »Göttlichen Menschen« (die Vision Teilhard de Chardins im Punkt Omega). Und darauf läuft der »Weg der Berufung« letztlich hinaus.
Marilyn Ferguson zitiert einen dieser »Verschwörer«: »Es ist ein einsamer Weg, … aber du bist nicht allein auf diesem Pfad.« (S. 129) Sie schreibt selbst: »Schritt für Schritt nehmen jene, welche die tranformative Entwicklung durchlaufen, das Vorhandensein eines grossen unterstützenden Netzwerkes wahr.« (ebd.)

Sie vergleicht dies mit einem Schwarm Vögel oder Fische. Jedes Wesen scheint ein Eigenleben zu haben, und doch gibt es eine »Schwarmintelligenz«, die alles wie ein seelisches Feld zusammenhält und voranbringt. Und genau dieses verborgene Netzwerk, dieses gemeinsame Seelenfeld, macht die Kraft der namenlosen Bewegung zu einer kulturellen Transformation hin zu einer neuen Epoche der Menschheit aus. Wenn jeder »für sich« seine Berufung lebt, ist er Teil dieses Seelenfeldes und verändert damit den ganzen Planeten.
Jeder kann diesen »Ruf der Seele« hören und lebt seine Berufung, sogar in ganz kleinen Akten. (Beim Schreiben dieses Artikels fühle ich mich selbst dazu berufen, diesem bahnbrechenden Buch von Marilyn Ferguson die Ehre zu erweisen.) Es geht letzlich um das globale Bewusstsein als Menschheit, als die EINE menschliche Familie. In den Worten von Marilyn Ferguson:
»Die ganze Erde ist ein grenzenloses Land, ein Paradigma der Menschheit mit Raum genug für Außenseiter und Traditionalisten, für alle unsere Methoden des menschlichen Wissens, für alle Kulturen. Eine Familientherapeutin berichtet, dass sie ihre Klienten auffordert, zu entdecken, was sie als Familie besitzen, und nicht, wer recht oder unrecht hat. Wir beginnen, eine solche von der gesamten Erde zu machen. (…)
So reich, wie wir zusammen sind, können wir alles erreichen. Es ist möglich, in unserem zerissenen Selbst und miteinander Frieden zu schliessen, und unser Heimatland, die gesamte Erde, zu heilen.« (S. 467 f.)
Marilyn Ferguson fordert uns am Ende ihres Buches zu einer neuen Wahl heraus, was ich hier abschließend in seiner Grundsätzlichkeit ausführlich zitieren möchte:
»Die Verschwörung im Zeichen des Wassermanns arbeitet auch daran, eine andere Form des Hungers zu stillen – Hunger nach Sinn, Verbundenheit und Vollendung. Und jeder von uns ist ›das gesamte Projekt‹, der Kern einer kritischen Masse, ein Verwalter der Transformation dieser Welt.
Wir finden unsere individuelle Freiheit, indem wir nicht ein Ziel, sondern eine Richtung wählen. Man entscheidet sich nicht für die transformative Reise, weil man weiß, wohin sie einen führt, sondern weil sie die einzig sinnvolle Reise darstellt.
Wir werden nicht so sehr von Ereignissen verfolgt, als vielmehr von unseren Vorstellungen über diese, von dem verkrüppelten Selbstbild, das wir mit uns herumtragen. Wir können die Gegenwart und die Zukunft transformieren, indem wir die mächtige Vergangenheit mit ihrer Botschaft des Scheiterns wieder aufleben lassen. Wir können nochmals am Scheideweg stehen – wir können neu wählen.
In diesem Sinne können wir auch anders auf die Tragödien der Geschichte reagieren. Unsere Vergangenheit ist nicht unser Potential. Mit all den unnachgiebigen Lehrern und Heilern der Geschichte, die an unser höchstes Selbst appellieren, können wir neu wählen – wir können uns für das Erwachen entscheiden, dafür, das Gefängnis unserer Konditionierung zu verlasssen, zu lieben, uns heimwärts zu wenden. Uns miteinander und füreinander zu verschwören. Das Erwachen bringt seine eigene Bestimmung mit sich, für jeden von uns einzigartig, von jedem gewählt. Was du auch immer über dich selbst denkst und wie lange auch immer du es schon gedacht haben magst, du bist nicht nur du. Du bist ein Same, ein stilles Versprechen. Du bist die Verschwörung.« (S. 481 f.)
Die Verschwörung als »Kon-Spiration« ist eine Verschwörung der Seelen, eine Verschwörung menschlicher, tierischer und pflanzlicher Seelen, eine Verschwörung junger und alter Seelen, eine Verschwörung schwarzer, weißer und farbiger Seelen, eine Verschwörung lebender und »toter« Seelen, eine Verschwörung aufgestiegener, herabgestiegener und inkarnierter Seelen.
Es ist vielleicht eine Verschwörung gegen das Böse, doch eher noch eine Verschwörung zum wahren Seelen-Bewusstsein, zum Lobpreis des Göttlichen, der Schöpfung. Und sie ist sanft, weil sie sich ihrer Unbesiegbarkeit bewusst ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, und die Seele hat alle Zeit der Welt.
Die sanfte Revolution
25 Jahre später, bereits mitten im Internet-Zeitalter, erscheint ihr Nachfolgebuch »Aquarius now. Radical Common Sense und Reclaiming Our Personal Sovereignity« (2005), auf deutsch einfach nur: »Die sanfte Revolution. Gelebte Visionen für eine menschliche Welt« (2007). Es zieht eher eine nüchterne Bilanz, was die Erschaffung des »Neuen Menschen« betrifft.
Frank Alt schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe: »Das größte Problem unserer Zeit ist nicht das Böse, Politiker und Manager, sondern die vielen guten Menschen, die nichts tun – außer vielleicht jammern über die Boshaftigkeit des Bösen.« (S. 9)
Es geht in diesem Buch nicht mehr um die Vision eines neuen Zeitalters eines neuen Menschen, sondern um das praktische Handeln gemäß unserem radikalen Menschenverstand. Heute geht es um die Visionen ganz gewöhnlicher Menschen und ihren gesunden Menschenverstand. Heute geht es um die ganz gewöhnlichen Wunder dieser ganz gewöhnlichen Menschen. Es geht um Selbsterziehung und Selbstbildung. »Wenn es uns schwer fällt, uns zu verändern, können wir schwerlich erwarten, dass die Gesellschaft sich ändert.« (S. 81)

Wir kennen alle den weisen Spruch Gandhis: »Sei die Veränderung, die du von der Gesellschaft erwartest.« Die Frage ist nur, wie ich lerne, mich selbst zu verändern. Die Antwort ist erst einmal einfach: aufhören, ein Gewohnheits-TIER zu sein. Eingefahrene, nicht mehr infrage gestellte Gewohnheiten als Fesseln zu sprengen, ausbrechen aus dem Gefängnis von Handlungs-Automatismen.
Und Marilyn Ferguson greift wieder auf ihr Lebensthema zurück: Wie können wir dafür sorgen, dass nicht unser Reptiliengehirn (das limbische System) unser Handeln bestimmt, sondern wir Reiz-Reaktions-Mechanismen überwinden können zu einem wirklich neuen Denken und Handeln. Intuition und Gnade sind dabei ihre Schlüsselbegriffe:
»Wenn wir uns immer wieder daran erinnern, auf unsere Intuition zu achten, schaffen wir eine neue Gewohnheit – die Gewohnheit, wach zu bleiben. So trainieren wir allmählich unser Gehirn. Und lernen nach und nach, dem zu vertrauen, was Hemingway ›Gnade unter Druck‹ nannte. Wenn wir Herausforderungen als Wasserwege erleben, auf denen wir segeln können, statt als Berge, die wir mühsam beseitigen müssen, gesellt sich die Gnade häufiger zu uns.« (S. 231)

Jürgen Schröter (Jahrgang 1951) ist von Hause aus Pädagoge, war Lehrer in der Erwachsenenbildung und hat sich 1989 selbstständig gemacht. Arbeit als Texter, Lektor und Autor (»Zahlenmystik als spiritueller Weg«). Erster Herausgeber des an Ken Wilber orientierten Online-Magazins »integral informiert«. Seine Vision ist es, Schöpfungsmythologie und Evolutionstheorie in einer Theorie der Selbst-Bildung der Geist-Seele zu integrieren und so einen Beitrag zur »Heiligen Wissenschaft« zu leisten. Er lebt als Deutscher in der Schweiz im Kanton Luzern. juergen-schroeter.de
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