Himmel, Hölle, Fegefeuer aus der Sicht von Nahtoderfahrungen
Gottesgericht und Hölle sind uns aus der christlichen Lehre hinlänglich bekannt. Speer bringt eine neue Deutung, die uns mit der richtenden Funktion Gottes versöhnen kann. Das Gericht ist nämlich durch Liebe motiviert. Das Fegefeuer ist das Reinigende, was unsere eingeschränkten Sichtweisen hinwegwäscht. Am Ende bleibt unser wahres Selbst und unsere liebevolle Anbindung an Gott: das ewige Hier und Jetzt.
1. Einführung: Um was es geht
Zu diesem Text hat mich das Buch von Frank Buskotte, Himmel, Hölle, Fegefeuer – Was kommt nach dem Tod inspiriert (siehe Lit.-Verz.). Frank Buskotte ist tragischerweise plötzlich und unerwartet kurz nach dem Erscheinen seines Buches verstorben. Er war promovierter Philosoph und Theologe und engagierter Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung in Osnabrück (KEB). Als ich ihn 2016 bei der Planung des Kongresses GanzMenschSein, den die KEB organisatorisch unterstützte, kennenlernte, sprachen wir kurz darüber, was mich zu diesem Kongress inspiriert hat und ich erzählte ihm von meiner Nahtoderfahrung.
Frank Buskotte meint in seinem Buch, dass das Thema Himmel, Hölle, Fegefeuer in der katholischen Erwachsenenbildung ein Dauerbrenner sei. In diesem Buch beschreibt er ausgehend von den alten mittelalterlichen christlichen Vorstellungen, die sich in bildgewaltigen Darstellungen niedergeschlagen haben, eine sehr moderne theologisch, rationale Sichtweise auf die letzten Dinge. Das Buch wird ergänzt durch einen abschließenden Beitrag seines ebenfalls promovierten katholischen Kollegen und Theologen Martin Splett zu »Alles beginnt mit der Sehnsucht«. Splett ergänzt mit seinem Beitrag »vom Kopf für das Herz« den rational analytischen Blick von Buskotte. Splett hat seine Sichtweise wohl als Referent für Hospitz-Arbeit in der Auseinandersetzung mit diesem Thema gewonnen. Beide Sichtweisen ergänzen sich und sprechen mich an. Ich kann sie gut nachvollziehen und gutheißen und dennoch fehlt mir etwas Entscheidendes.
Es hat mich erschüttert, obwohl hier zwei christliche Experten schreiben, dass in beiden Beiträgen die christliche Mystik nicht vorkommt. Diese Erfahrung hatte ich auch schon zuvor mit einer katholischen Professorin für Theologie im Zusammenhang mit der Kongressorganisation 2016 gemacht. Sie empfahl mir ein Buch von ihr, in dem sie ihren Kollegen erläutert, warum der Jugend die christliche Weltsicht schwer zu vermitteln sei. Dabei zitiert sie viele Theologen, aber klammert ebenfalls die christliche Mystik ganz aus. In der Ökonomie gibt es einen Begriff dafür: »Betriebsblindheit«. Er meint in diesem Fall, dass der Blick so sehr eingeengt ist, dass etwas, das für Außenstehende ganz offensichtlich ist, dass es einbezogen werden sollte, ausgeklammert wird. So als würde in dieser Hinsicht ein »Schatten« oder ein unausgesprochenes Denk- und Wahrnehmungsverbot bestehen.
Mein Anliegen mit diesem Beitrag ist, die wichtigsten Erkenntnisse zu Tod, Fegefeuer, Hölle, Himmel und Sehnsucht aus dem oben genannten Buch allgemein zusammenzufassen und um meine Sichtweise aus der Perspektive von Nahtoderfahrung, Meditation und Mystik zu erweitern und, soweit möglich, sie aus meiner Auseinandersetzung mit dem Daoismus und dem Buddhismus zu ergänzen. Das Buch von Franz Buskotte möchte ich dennoch allen, die in christlicher Tradition aufgewachsen sind, sehr empfehlen.
Um meine Sichtweise auf das Thema zu beschreiben, ist es erforderlich, zunächst das Leben, die Entfaltung des Lebens und dann Sterben und Tod einmal ganz allgemein zu betrachten. Auch dieser Aspekt wird von den oben angegebenen Autoren leider ganz außer Acht gelassen.
2. Leben und Tod
Das Leben entfaltet sich in der Evolution: sehr vereinfacht von Mineralien, zur Pflanze, zum Tier bis zum Menschen. Menschliches Leben bewegt sich zwischen den Polen Geburt und Tod, männlich und weiblich, Einsamkeit und Geborgenheit, Kindheit und Erwachsensein, Individualität und Gemeinschaft, innen und außen, Himmel und Erde, Erschaffung und Auflösung, Sinn und Unsinn, Yin und Yang. »Überall, wo menschliches Leben ist, gibt es Zeugung und Empfangen, Verheißung und Not, Freud und Leid, Sicherheit und Angst, Schutz und Gefahr, Sattheit und Hunger, Wachen und Schlafen, Krankheit und Heilung. In all diesen Gegensätzen erscheint das LEBEN.« (Karlfried Graf Dürkheim)
In diesem polaren Spannungsfeld der Evolution entwickelt sich das menschliche Bewusstsein vom archaischen über das magische und mythische zum rationalen und transrationalen beziehungsweise mystischen oder integralen Bewusstsein (Jean Gebser, Ken Wilber). Diesen Bewusstseinsebenen entsprechen verschiedene Stufen von Religiosität: die archaische Religiosität der Schamanen, die magische der Hexen und Medizinmänner, die mythische der Priester der großen Weltreligionen, die rationale der westlichen Theologen und die integrale Religiosität der Weisen und Meister aller tiefen spirituellen Weisheitstraditionen.
In meinem Buch »Taiji und Daoismus im Westen«, stelle ich ausführlich die spirituelle, integrale Entwicklungspsychologie und -philosophie vor, so wie sie Ken Wilber herausgearbeitet hat, siehe Lit.-Verz. Sie ist der Hintergrund für meinen Blick auf das hier behandelte Thema. An dieser Stelle ein paar kurze Erläuterungen zu den oben genannten fünf individuellen und kollektiven Bewusstseinsebenen der menschlichen Entwicklung, um meine Sichtweise verständlicher zu machen. Wilber bezieht sich dabei auf die Erkenntnisse der westlichen Psychologie, die Arbeit von Jean Gebser und anderen Wissenschaftlern.
Alle individuelle Entwicklung vollzieht sich nach Wilber auch auf der kollektiven Ebene. Die Bewusstseinsentwicklung, die jeder einzelne Mensch durchläuft, durchlaufen also auch alle Nationen und Gesellschaften. Die wichtigsten fünf Stufen, die oben genannt wurden, können jedoch noch weiter aufgefächert werden. Hier möchte ich mich jedoch auf die genannten fünf Ebenen beschränken. Auch religiöses oder spirituelles Bewusstsein entfaltet sich über diese Ebenen, die Wilber auch Stufen oder Spiralen nennt. Sie sollen hier kurz charakterisiert werden:
Archaisches Bewusstsein erkennt das göttliche Wirken, die letzte Wirklichkeit in den Naturgewalten: Feuersbrünste, Sturmfluten, Wirbelstürme, Erdbeben, die Macht der Himmelskörper oder ganz allgemein in: Himmel und Erde, Feuer und Wasser, usw. Der Mensch ist diesen Gewalten hilflos ausgeliefert. Gottesbild: Die Natur als Mutterbrust.
Magisches Bewusstsein ist ebenfalls auf die Natur bezogen. Jedoch ist die Welt verhext und belebt von geheimnisvollen Wesen, Naturgottheiten mit denen der Mensch in Kontakt treten kann, die er durch Bitten und Beten zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Gottesbild: Stammesgötter, helle und dunkle Geister.
Mythisches Bewusstsein wendet sich ganz von der Natur ab und den Menschen zu, denen alle Macht und Weisheit zugeschrieben wird, die vergöttlicht werden: Kaiser und Könige, Religionsstifter, Helden, Priester, Heiler und Ärzte, usw., ob männlicher oder weiblicher Ausprägung werden verehrt. Ihrer Macht muss sich der einfache Mensch unterwerfen. Gottesbild: Machtgötter, die ihre Feinde vernichten.
Rationales Bewusstsein geht einen Schritt weiter. Der Verstand und damit die Wissenschaft werden vergöttlicht. Nur was wissenschaftlich bewiesen ist, kann geglaubt und als Wirklichkeit angenommen werden. Archaische, magische und mythische Erkenntnisse und Bewusstsein werden radikal abgelehnt und abgewertet. Das integrale Bewusstsein wird als irrational missdeutet. Gottesbild: Es gibt nur einen Gott, als Gesetzgeber und Richter oder keinen Gott und nur einen universellen Urgrund des Seins.
Integrales Bewusstsein dagegen erkennt, dass jede Entwicklungsebene einen Teil der Wahrheit in sich trägt. Ihr sollte Wertschätzung entgegengebracht werden. Integrales Bewusstsein lehnt jedoch ab, was als unwahr oder unwirklich erkannt worden ist. Ein göttliches, heiliges Bewusstsein entspringt aus der Erfahrung der Einheit. Gottesbild: Das »Reich Gottes« oder das Erwachen umschließt den Erfahrenden, die innere Erfahrung und die äußere Welt.
Meine folgenden Ausführungen beziehen sich auf die fünfte Ebene, auf das integrale Bewusstsein.
»Die Worte unserer Sprache sind wie eine Landkarte, aber die Landkarte ist nicht das Land.«
Es ist mir wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass alles, was wir sprachlich ausdrücken möchten, sich zwischen den oben genannten Polen bewegt. Diese polaren Gegensätze möchte ich nicht als Dualismus verstanden wissen, sondern als sich ergänzende komplementäre Seiten. Den einen Pol kann ich sprachlich nur ausdrücken, indem der andere Pole bereits vorhanden ist, auch wenn er sprachlich nicht genannt wird. Etwas als Schwarz zu benennen, macht also nur Sinn, wenn der Gegenpol Weiß auch wahrgenommen wird. Krieg und Auseinandersetzung kann es nur geben, wenn ebenfalls Frieden und Harmonie möglich sind. Zudem, die Worte unserer Sprache sind wie eine Landkarte, aber die Landkarte ist nicht das Land, das gilt es sich bewusst zu machen, sowie die Speisekarte nicht die Speise ist.
Dennoch: Die menschliche Sprache hat sich im Alltag bewährt, insbesondere im technischen Bereich sind klare Definitionen (Eingrenzungen) sehr hilfreich. Sprache weist jedoch, wenn es um die letzten Dinge geht, deutliche Grenzen auf, weil sie sich immer zwischen diesen Polen bewegt. Selbst wenn ich behaupte alles ist Eins, gibt es dennoch die Vielheit. Oder wenn ich von Allverbundenheit spreche, steht sprachlich die Unverbundenheit oder die Trennung mit im Raum.
Daher gibt es ein großes Problem, wenn über mystische Erfahrungen gesprochen werden soll und es in einem Text nur die Möglichkeit gibt, sich über Worte aus unserer Sprache verständlich zu machen. Dennoch soll dieser Versuch hier unternommen werden. Er ist verbunden mit der Hoffnung, nicht missverstanden zu werden, obwohl ich das nicht ausschließen kann. Am ehesten werden mich Menschen verstehen, die ebenfalls mystische Erfahrungen oder eine Nahtoderfahrung gemacht haben.
Nach Wilber verstehen Menschen auf der mythischen Entwicklungsebene Rationalität nicht. Zudem erhebt sich Rationalität über die mythische Sprache in Bildern oder Metaphern und kann sie oft nicht mehr verstehen. Zudem wird Mystik von der Rationalität nicht verstanden. Jedoch können rational denkende Menschen, die sich zum mystisch-integralen Bewusstsein entwickelt haben, Mythos (die Sprache und Weltwahrnehmung in Bildern) und Mystik (ein offenes weites stilles Bewusstsein) in ihrer Wahrnehmung klar unterscheiden.
Nun entsteht aber ein zusätzliches Problem, dass sich Menschen mit einem mystischen Bewusstsein, da es sich in rationaler Sprache schwer vermitteln lässt, versuchen, sich in der Sprache der Poesie und der Bilder auszurücken, die sehr schnell mit mythischen Bildern verwechselt oder vermischt werden können und damit ein weiteres Problem der Verständigung zwischen verschiedenen Bewusstseinsebenen entsteht.
Diese Umstände sollten wir im Blick behalten, wenn ich mich nachfolgend versuche zum Thema »Tod, Teufel und Hölle« (man denke jeweils an das Gegenteil) verständlich zu machen. Ich werde dabei immer wieder, wenn ich an sprachliche Grenzen gerate, Worte in Anführungszeichen setzen, um das zu verdeutlichen.
»Von Todkann nur sinnvoll gesprochen werden, wenn wir uns klargemacht haben, was Leben bedeutet.«
Vor dem Hintergrund meiner Erläuterungen ist hoffentlich ersichtlich geworden, dass von Tod nur sinnvoll gesprochen werden kann, wenn wir uns klargemacht haben, was Leben bedeutet und in welchem Spannungsfeld es sich entfaltet. Erst dann wird deutlich, dass sowohl Geburt als auch Sterben zum Leben selbst gehören. Nur scheinbar sind sie Gegensätze, die aber bei genauerer Betrachtung »ineinander aufgehen«, beziehungsweise gleichzeitig geschehen. Geboren werden heißt gleichzeitig, aus dem Mutterleib hinaus zu sterben und genau genommen geht dieser Prozess das ganze Leben weiter. Immer, wenn sich neue Zellen im biologischen Körper bilden, sterben alte gleichzeitig ab. Immer, wenn wir einatmen folgt das Ausatmen. So kann Sterben auch so verstanden werden, dass es gleichzeitig ein Geborenwerden in ein »anderes Leben« hinein bedeutet. Leben außerhalb des Mutterleibes beginnt mit dem ersten Einatmen. Das eigenständige Leben in dieser Welt als Individuum (lat. unteilbar) als Körper-Geist-Seele-Einheit endet mit einem letzten Ausatmen und mit dem ersten »Einatmen« danach beginnt ein »neues Leben«, obwohl der Atem erloschen ist. Das ist paradox und rein sprachlich nicht zu vermitteln.
3. Selbstgericht und Erkenntnis
An der Schwelle des Todes machen viele Menschen spannende Erfahrungen. Sie werden Nahtoderfahrungen genannt. Inzwischen gibt es viele Forschungen zu diesen Erfahrungen. Pim van Lommel, ein Niederländer hat 2011 in seinem Buch »Endloses Bewusstsein« (siehe Lit.-Verz.), die bis dahin bekannten Forschungen aus allen fachwissenschaftlichen Bereichen zusammengetragen und versucht sie zu deuten.
Mein persönliches Fazit daraus ist: Scheinbar docken in der Nahtoderfahrung, wenn der Atem fast erloschen ist und das Herz für kurze Zeit stillsteht, die Atome in den Neuronen der Gehirnzellen, die zu mehr als 99 Prozent aus leeren Raum bestehen und der Rest aus Energiewellen und kleinsten nichtsichtbaren Mikroteilchen, an dieser »Qualität von Leere und Fülle« an, die identisch ist mit dem ganzen Kosmos, so dass im Gehirn eine ganzheitliche Erfahrung von Einheit beziehungsweise Allverbundenheit entstehen kann. Diese Erfahrung wird im Zen Satori und in der Kontemplation Erleuchtung genannt. Dies ist ein möglicher Erklärungsansatz. Es ist eine Vorstellung, die sich für mich rational gut nachvollziehen lässt. Ob es tatsächlich so ist, wie ich es verstehen kann, kann ich natürlich nicht beweisen.
Die christliche Vorstellung, so Buskotte, ist, mit dem Tod des Einzelnen beziehungsweise mit dem Vergehen der ganzen Menschheit erscheint Christus als Weltenrichter: »Das Jüngste Gericht« findet statt. Er richtet die Lebenden und die Toten. Aber was ist die Erfahrung der Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten: Das Leben läuft in »Bildern«, in einem Moment von Jetzt (der Ewigkeit), vor dem geistigen Auge blitzschnell ab und zwar rückwärts bis zur Geburt, und es werden alle Licht- und Schattenseiten des eigenen Lebens erkannt. Es findet – und so benennt es auch Buskotte nach seinem Verständnis einer christlichen Theologie auf der Höhe der Zeit – ein »Selbstgericht« statt und zwar in der Form, dass durch die Erfahrung erkannt wird: Aha, deshalb war alles so, wie es war, und zwar ganz ohne Bewertung. Das kann sehr erschreckend und erschütternd und gleichzeitig sehr erhellend sein, je nachdem wie das eigene Leben verlaufen ist. Dabei tauchen auch die Personen in der bildlichen Wahrnehmung auf, die im eigenen Leben eine besondere Rolle gespielt haben und ihre Rolle wird uns klar, auch wenn wir sie im Leben nicht verstanden haben. Das »Selbstgericht« kann also als »Richtfest« verstanden werden. Das Wort Jesus ist die lateinische Form von Joshua und das bedeutet hebräisch »Gott richtet«. Wir brauchen uns vor dem Tod, vor der Auflösung von Zeit und Raum, der Erfahrung der Ewigkeit, nicht zu fürchten. »Gericht, Läuterung und Himmel sind verschiedene Aspekte eines Geschehens: der Begegnung mit Gott, der Begegnung mit Wahrheit, Leben und Liebe« (S. 69), so eine Erkenntnis von Frank Buskotte, die durch Nahtod-Erfahrungen bestätigt werden kann.
»Gericht« kann auch als Aufheben des Geschehenen, so Buskotte, in dreierlei Hinsicht verstanden werden: Aufheben im Sinne von Gutes bewahren, im Sinne von aufrichten (seelisch, moralisch) und von ungültig machen (im Sinne von ohne Wertung annehmen, was war). Diese befreiende Erkenntnis kann durch Nahtoderfahrene bestätigt werden. Dem Erfahrenden wird alles klar, er wird »verklärt«. So wird der »Richter« oder das »Gericht« zum Retter oder zur Rettung. Der Richter, will keine Hölle, er will Liebe und Leben! So gesehen kann »in die Hölle kommen« nur noch als Selbstverdammnis verstanden werden. Das Gericht kann sehr erschreckend sein, wenn wir anderen Menschen verletzt haben und das vielleicht in gravierender Weise. Menschen können sehr brutal zu ihren Mitmenschen sein, sie »physisch und seelisch verletzten, erniedrigen, verstümmeln oder gar vernichten« (S. 76), wie alle Kriegserfahrungen verdeutlichen.
Bedenken wir dabei auch unsere soziale Schuld: »Es gibt auch ökologische, soziale und historische Schulden, an deren Aufhäufung ich beteiligt bin und deren Opfer ich Zeit meines Lebens nie zu Gesicht bekomme« (S. 77). Viele Menschen spüren vor ihrem Tod »an der Schwelle zum Himmel, dass der Eingang bestimmt weit offen, das Eintreten und Sich-Wandeln-lassen aber gewiss nicht harmlos sein müssen« (S. 86). Da im Jetzt der Ewigkeit alles aufgehoben ist, gibt es keinen Unterschied zwischen dem individuellen Tod und dem Ende aller Tage, dem Ende der Menschheit. Das ist rational nicht fassbar.
4. Durch Finsternis und Dunkelheit zum Licht
Im Sterben und Tod findet also die christliche Botschaft als »Frohbotschaft« ihre ganz wertneutrale Erfüllung und Vollendung. Sie ist, so Buskotte, keine »Drohbotschaft«, die leider oft aus ihr gemacht wurde, in der den Menschen mit »Fegefeuer« und »Hölle« gedroht wurde. »Fegefeuer« kann daher als das Feuer der Erkenntnis verstanden werden, dass alle falschen oder eingeschränkten Sichtweisen hinwegfegt oder hinwegwäscht. Fegefeuer, lat.
»Fegefeuer kann daher als das Feuer der Erkenntnis verstanden werden, dass alle falschen oder eingeschränkten Sichtweisen hinwegfegt oder hinwegwäscht.«
purgatorium, bedeutet Ort der Reinigung. Jedoch kann auch mit Wasser gewaschen werden. Mit »Hölle« sind die schlimmsten und schrecklichsten Erfahrungen des Menschen auf Erden gemeint, die als dunkle, schwarze Schatten in der Nahtoderfahrung erscheinen, die durch das »göttliche Licht«, das mit dem weltlichen Licht nichts zu tun hat, hinweggefegt, hinweggewaschen werden. Denn die »Reise der Nahtoderfahrung« führt als blitzartige Erkenntnis durch einen dunklen Tunnel zum Licht. Hölle bedeutet so gesehen, Getrenntsein von Gott und damit getrennt von der Liebe.
Verblendung und Unwissenheit führt nach buddhistischer Sicht zu dunklen karmischen Erfahrungen von »Fegefeuer und Hölle« auf Erden. Der verblendete und unwissende Mensch wird selbst zum Teufel, der sich seines Schattens nicht bewusst ist. Er hat die Verbindung zum göttlichen Jetzt, der Ewigkeit, in der es kein Vorher- und Nachher gibt, verloren. Er lebt ganz in der irdisch zeitlichen Welt und ist verblendet ganz auf seine egoistischen Vorteile fixiert. Die Aufgabe im Buddhismus ist, diesen karmischen Schatten schon in diesem Leben möglichst aufzulösen.
Der Mensch muss jedoch erkennen, dass er in zwei Welten lebt, so die Sichtweise der Mystik: im zeitlichen Ablauf seiner eigenen Biographie und gleichzeitig im ewigen Jetzt, dass kein Vorher und Nachher, also keine Uhrzeit kennt, in der alles (raum-zeitlich) gleichzeitig ist und die Uhrzeit aufgehoben ist. Wir leben also nicht, wie Buskotte schreibt, »jetzt schon in die Ewigkeit hinein« (S. 10), sondern wir leben »jetzt gleichzeitig auch schon in der Ewigkeit«.
»Wir sind geboren um letztendlich zu sterben, das ist das Leben. Geburt ist kein Anfang und der Tod ist kein Ende, sondern beides ist beides zugleich, so die Erkenntnis im Erwachen.«
Die Jünger Jesu, die ihn nach seiner »Auferstehung« in seinem »verklärten« Leib erkennen, ihn »leibhaftig gesehen« haben, haben dies in ihrer Erfahrung erkannt. Das ist der Unterschied zwischen Erfahrung und Vorstellung. Die Erfahrung vermittelt tiefes »inneres Wissen« und die Vorstellung versucht rational zu verstehen. Rational ist aber die Welt letztendlich nicht zu verstehen, zu begreifen, weil sie paradox ist. Wir sind geboren um letztendlich zu sterben, das ist das Leben. Geburt ist kein Anfang und der Tod ist kein Ende, sondern beides ist beides zugleich, so die Erkenntnis im Erwachen.
Der Mensch sehnt sich nach himmlischen Zuständen. Aber kann der Mensch den Himmel auf Erden machen oder ihn zukünftig anstreben? Das ist nicht möglich! Wir können den Himmel nur im Sinne von Wuwei (durch aktives Nichttun) geschehen lassen, dafür offen sein, ihn kommen lassen, ihm Raum geben, ihn erwarten, darauf vertrauen, dass er bereits da ist.
5. Himmel und Erden
Das »Reich Gottes«, das Jesus verkündete, ist überall, so die mystische Erkenntnis, wenn es als solches im Jetzt erkannt werden kann. Dann ist es sowohl im Diesseits als auch im Jenseits. Und das Reich Gottes ist gleichzeitig der »Himmel«. Das Reich Gottes kann also auch als »Himmel auf Erden« bereits jetzt erfahren werden.
»Die Theologie«, schreibt Buskotte, »ist immer auch eine spekulative Wissenschaft«. Ja, das ist sie wohl, solange sie an Worten und am Verstehen wollen hängen bleibt und nicht die Erfahrung sucht. Wer sich den Himmel auf Erden wünscht, muss sterben lernen (der Zen-Buddhismus spricht vom Sterben auf dem Kissen), dann lernt er immer wieder neu geboren zu werden und zu leben. Sei bereit jederzeit zu sterben, dann bist Du frei und kannst das Leben in seiner ganzen Fülle erleben. Buskotte stellt fest, weder das Wort Fegefeuer noch das Wort Hölle ist in der Bibel zu finden. Beides sind Begriffe einer mittelalterlichen Theologie, die durch den »Ablasshandel« fundamental missbraucht wurden. Er meint, generell ist das ganze Leben sehr zwiespältig, sehr ambivalent. Es gerät schnell aus dem Gleichgewicht und pendelt zwischen Bemühen und Versagen und Erfolg und Misserfolg.
Wir stellen uns Himmel als einen abgehobenen heiligen Zustand der Vollkommenheit vor. Gemeint ist jedoch eine überweltliche »Vollkommenheit jenseits aller Polaritäten«, die paradoxerweise alles Weltliche mit in sich einschließt. Buskotte schreibt: »Die Begegnung mit dem Richter Jesus Christus ist eine Begegnung … mit DER Wahrheit, DEM Leben und DER Liebe« (S. 51), mit der letzten Wirklichkeit. Es gibt keine Anklage, kein Urteil, sondern nur »erbarmungslose Erkenntnis« der Ewigkeit Gottes.
Zeitlichkeit, so die Erfahrungen aus der Meditation, lässt sich nicht in das Jetzt der Ewigkeit transformieren. Ewigkeit meint immer, ohne vorher und nachher, jenseits von Raum und Zeit. Absolute Gegenwart und Gleichzeitigkeit im Jetzt. Dieses Jetzt, der Augenblick ist immer: Immer wieder jetzt, ohne jede Zeitlichkeit. Das ist das Reich Gottes, der Himmel!
Himmel kann als Vollendung des Lebens als Ganzes verstanden werden, das Leben im Ganzen aufheben, im Sinne von ungültig machen, als Allversöhnung. Im Sinne von Allversöhnung kann es keine Hölle geben. Das letzte oder Jüngste Gericht ist ein »Aufheben« von allem was war: zwischen Richter, Täter und Opfer. Da der Richter sowohl mit dem Täter als auch dem Opfer »tief mitfühlt«, löst sich auch die Vorstellung von einem Richter auf.
Der Zustand des Himmels ist ein tiefes Gefühl von Akzeptanz mit dem was ist, eine in sich ruhende Zufriedenheit voller Potential: Zuneigung, Geborgenheit und intensiver Nähe. Im Himmel gibt es »viele Wohnungen« lehrt uns Jesus, dort ist Platz für alle, so auch Buskotte.
Ewigkeit ist »wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen. Es wäre der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher gibt. (…) immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden« (Benedikt XVI., Enzyklika »Spe Salvi«, 2007 – zitiert nach Frank Buskotte).
»Bis zu den Grenzen des Versteh- und Aussagbaren dürfen wir uns aber lustvoll vorarbeiten und sollten das Denken nicht vorschnell aufgeben« so Buskotte. Dem kann so zugestimmt werden. Verständlich werden diese Aussagen jedoch nur durch tiefe mystische Erfahrungen in der Meditation oder durch Nahtoderfahrungen.
Eine interessante Interpretation der drei christlichen Tugenden liefert Frank Buskotte zu »Glaube, Hoffnung und Liebe«: »Glauben als Geduld mit Gott, Liebe als Geduld mit dem anderen Menschen und Hoffnung als Geduld mit mir selbst«. Der Weg der Kontemplation oder der Zen-Meditation erfordert viel Geduld beim Üben, kann jedoch diese tiefe innere Erkenntnis vermitteln.
6. Sehnsucht nach Ganzheit
Im letzten Kapitel des oben erwähnten Buches schreibt Martin Splett über die Sehnsucht nach dem himmlischen Leben, die Menschen oft erst am Ende ihres Lebens begegnet. Seine Wünsche für die Begleitung auf dem letzten Weg fasst er in zweimal sechs Gs zusammen: Glück ohne Grenzen, Genuss in Gesundheit, Geschichte in Gänze, Gerechtigkeit durch Gnade, Gemeinschaft im Geist und Gegenwart des Gottessohnes. Am Ende des Lebens ist es sehr spät, sich damit auseinanderzusetzen. Besser wäre es, schon jetzt mitten im Leben diese Qualitäten zu erkunden. »Wo Menschen durch Unrecht, Gewalt, Krankheit und Tod die Hölle auf Erden erleiden, schreit die Sehnsucht zum Himmel«, so Splett (S. 98). Zu schnell lenken sich Menschen mit materialistischen Lebenszielen vom Wesentlichen ab. Stattdessen suchen sie ihre ganze Erfüllung im Hausbau, im neuen Auto, im nächsten schönen Urlaubsziel oder in der Reise um die Welt. Das Glück jedoch steht vor der eigenen Haustür.
Trotz aller Geschäftigkeit im Alltag wird das Leben dann oft als banal, leer und langweilig empfunden. Die Menschen schaukeln zwischen Lebendigkeit und Leiden, Lust und Last durchs Leben und verdrängen oft ihre tiefe Sehnsucht nach Ganzheit, die alle Menschen aus der Sicht von Nahtoderfahrungen, Meditation und Mystik antreibt. Das dreizehnte G, die Ganzheit fehlt. Sie wurde sowohl von Buskotte als auch von Splett übersehen. Ganzheit oder das Reich Gottes wird nicht verstanden und vom Christentum nicht in ihrer Tiefe vermittelt.
Daher lenken wir uns auf vielfältige Weise von unserer Sehnsucht nach Ganzheit ab. In dem Wort Sehnsucht steckt die Sucht und das Sehnen. Sich nach etwas Sehnen ist viel mehr als sich etwas wünschen. Es drückt ein tiefes menschliches Bedürfnis nach Erfüllung und Vollendung aus. Der Mensch fühlt sich abgeschnitten, allein und einsam, unverbunden mit dem Jetzt der Ewigkeit, und ist ganz identifiziert mit dem zeitlichen Ablauf des Lebens. Leben wird wie eine Zeitlinie empfunden. Ganzheit und damit die Fülle des Lebens kann jedoch nur im Jetzt, in einem Punkt auf der Lebenslinie erfahren werden. Je mehr der Mensch sich abgeschnitten fühlt, desto mehr wird die Sehnsucht zur Sucht: Zur Arbeitssucht, zur Sucht nach Geld und Reichtum, nach Macht und Sex, zur Alkohol- oder Drogensucht. Und da Sucht die Seele nicht befriedigt, kippt sie um zur tiefen Depression bis hin zu Selbstmordgedanken und Selbstmord, wegen der letztendlich empfundenen höllischen Langweile und Sinnlosigkeit des Lebens. Der Mensch ist dann völlig abgeschnitten von der Lebensfreude und der Liebe zum Leben.
Über die letzten christlichen Jahrhunderte war »die visio beatifica, die glückselige Gottesschau, der Inbegriff des Himmels schlechthin« (S. 101). Damit kann heute kaum noch jemand etwas anfangen. Vielleicht auch, weil die Sprache so fremd ist und es sich so abgehoben anfühlt. Ebenso wie die »himmlische Hochzeit« ein alter Begriff aus der christlichen Mystik ist. Auch er steht für Freude, Gemeinschaft und festliche Stimmung, für die Erfahrung von Ganzheit, von Geborgenheit, von Aufgehobensein und innerem Frieden. Mögen sie »ruhen in Frieden«, steht auf den Grabsteinen. Wir sollten schon jetzt anstreben, in uns in Frieden zu ruhen.
»Das »Ruhen in Frieden« ist mitten im Leben, mitten im Alltag erfahrbar und möglich.«
Das »Ruhen in Frieden« ist mitten im Leben, mitten im Alltag erfahrbar und möglich. Es kann durch Mediation trainiert und erlebt werden. Das ist die frohe Botschaft. Im Himmel der absoluten Gegenwart ist meine ganze Lebensgeschichte im Jetzt der Ewigkeit aufgehoben, im Sinne von gleichzeitig gegenwärtig. Alles Leidvolle das wir erfahren haben oder anderen angetan haben, ist aufgehoben, im Sinne von aufgelöst, denn der innere Himmel besteht aus Liebe. Das befreit uns nicht davon, ein ethisches Leben zu leben. Den eigenen Schatten zu erkennen kann außerordentlich erschreckend und deprimierend sein. Wir »richten uns ganz ohne zu werten selbst«, im Sinne von: Wir erkennen den Sinn und richten uns neu aus, auf die Erfahrung und das Zulassen von Ganzheit. Im Himmel sind wir alle durch die »überweltliche und die ganze Welt mit einbeziehende Liebe miteinander verbunden«. In der Erfahrung des Jetzt, der Ewigkeit sind wir alle zusammen gleichzeitig vollendet, jenseits aller Konfessionen und Religionen. Dies wird in der christlichen Mystik Erleuchtung genannt, im Zen-Buddhismus Erwachen oder Kensho, bzw. Satori, im Hinduismus Bodhi oder Samadhi und im Daoismus Einssein mit dem Dao. Ken Wilber, integraler Bewusstseinsforscher, spricht oft einfach von Aufwachen. Dies ist schon jetzt für jeden einzelnen Menschen möglich. Es ist kein weit entferntes Ziel, sondern immer ganz ohne Wertung des Weltgeschehens gegenwärtig, wir brauchen es uns nur zu vergegenwärtigen. Der Punkt der Ewigkeit, die Erfahrung des Himmels auf der Lebenslinie ist wie ein Anhalten, wie ein Stopp, wie ein Jetzt. Und alles ist da, ist ganz.
P.S.: Mein Dank geht an meine Frau Kim Susann Lühmann für die Auseinandersetzungen über die Inhalte des Artikels. Ihre eigene Nahtoderfahrung und meditative Praxis war dabei sehr hilfreich. Danke auch für Deine Rechtschreib- und Satzkorrekturen Kim. Sieben Jahre nach unserer Hochzeit wurde dieser Beitrag für mich, für uns beide, Anlass zum Reflektieren über Leben, Tod und Geborenwerden.
Klemens Speer ist Zen-Lehrer, Qigong-Lehrer, Taiji-Lehrer und -Ausbilder. Als Autor hat er eine Reihe von Büchern über Taijiquan, Qigong, Zen und Spiritualität im Lotus-Press Verlag veröffentlicht. Er hat fast 35 Jahre Unterrichtserfahrung und 25 Jahre Taiji-Kursleiter und -Lehrer ausgebildet. Heute begleitet er Taiji- und Qigong-Kursleiter und -Lehrer und Zen-Schüler mit vertiefenden Seminaren und Einzelcoaching.
Literaturhinweise:
Buskotte, Frank, Himmel, Hölle, Fegefeuer – Was kommt nach dem Tod?, Patmos Verlag, 2021.
Lommel, Pim van, Endloses Bewusstsein – Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Patmos Verlag, 4. aktualisierte und ergänzte Ausgabe 2011.
Speer, Klemens J.P., Wie eine Nahtoderfahrung mein Leben veränderte – Vom Tod fürs Leben lernen, Vianova Verlag, Petersberg 2000, 1. Auflage.
Speer, Klemens J.P., Taiji und Daoismus im Westen, Lotus-Press Verlag 2022.
Speer, Klemens J.P., Zen und Buddhismus im Westen, Lotus-Press Verlag, 2023.
Speer, Klemens J.P., Wie Christ sein sich erneuern kann, Lotus-Press Verlag 2024.
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