Wie NTEs den Menschen dauerhaft beeinflussen
Wie wirkt sich eine Nahtoderfahrung, also der kurzzeitige Eintritt in die geistige Welt und die darauffolgende Rückkehr ins Diesseits, auf die Persönlichkeitsentwicklung aus? Der Psychotherapeut Viktor Terpeluk versucht auf Basis verschiedener Studien und seiner eigenen Erfahrungen, als Psychotherapeut sowie als Person, die eine derartige »Lichterfahrung« erlebte, Antworten darauf zu geben.
Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit dem Thema: »Geistige Welt und ihre Struktur – das Leben nach dem Tod«, und da ich selbst eine derartige »Lichterfahrung« erlebte, weiß ich um ihre nachhaltige Wirkung. In den 1990er Jahren wurden zwei amerikanische Studien über die Nachwirkungen einer Nahtoderfahrung veröffentlicht (Kenneth Ring, Evelyn Elsaesser-Valario 1999, Melvin Morse, Paul Perry 1994), die belegen, dass Personen sich in ihrer Persönlichkeit dauerhaft verändern, wenn sie während einer Nahtoderfahrung mit dem göttlichen Licht in Verbindung waren. Um mehr darüber zu erfahren, besuchte ich zahlreiche Kongresse über das Thema Nahtoderfahrung und lernte viele Menschen kennen, die darüber berichteten. Dabei fiel mir auf, dass diese Menschen unterschiedlich in ihrer Anschauung, in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Bewertung dieses Lichtereignisses waren. Zugegeben, ich hatte falsche Vorstellungen, als ich zum ersten Mal solch einen Kongress besuchte. Ich hatte erwartet, auf Menschen zu treffen, die vom göttlichen Licht durchdrungen sind, sodass sie wie »Heilige« und ein Stück weit allwissend wirken. Doch dies war nicht der Fall. Eher hatte ich den Eindruck, dass diese Menschen, den kleinen Ausschnitt, den sie während ihrer Nahtoderfahrung (NTE) in der geistigen Welt kennengelernt hatten, zu etwas Absolutem erhoben, und die Interpretationen darüber unterschieden sich stark, je nach intellektuellem Hintergrund und seelischem Reifestand. Während einige diese Erfahrung in ihr religiöses Weltbild integrierten und dabei nicht selten messianisch auftraten, versuchten andere, dieses göttliche Licht als eine innenliegende Kraft darzustellen, die jedem Menschen zu eigen ist. Die Meinungen darüber können weit auseinanderliegen und sich zum Teil widersprechen. So tut sich die Frage auf: Was stimmt eigentlich?
In diesem Artikel möchte ich diese Frage beantworten. Zuerst gebe ich den Forschungen der oben erwähnten Studien Raum und erläutere deren Ergebnisse. Anschließend stelle ich eine deutsche Untersuchung von Gerald F. Rubisch (2013) vor, der auch Nachwirkungen von Desorientierung dokumentierte. Zum Schluss stelle ich eine Übersicht über die Struktur der geistigen Welt vor und skizziere eine allgemeine, idealerweise verlaufende Persönlichkeitsentwicklung mit unterschiedlichen psychologischen und spirituellen Reifungsphasen.
1. Studie von Melvin Morse (Seattle-Studie)
Dr. Melvin Morse ist Kinderarzt und die Fragestellung seiner Studie war: Entwickelten sich Erwachsene, die als Kinder eine Nahtoderfahrung erlebten, anders als Erwachsene, die dies nicht erlebten? Insgesamt nahmen 350 Erwachsene an der Studie teil.
Die Ergebnisse der Transformationsstudie sind folgende:
Menschen, die als Kind eine NTE erlebten, gaben an
- verminderte Angst vor dem Tod,
- eine Zunahme übersinnlicher Fähigkeiten,
- eine gesteigerte Lebensfreude,
- eine höhere Intelligenz zu haben.
Zu den übersinnlichen Fähigkeiten gehörten Gedankenübertragung, Vorahnungen, präkognitive Träume, Menschen aus einer Art Fernsicht zu sehen sowie Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen. Aber auch Nachtodkontakte oder Kontakte zum Todeszeitpunkt werden häufig erlebt.
»Aus den voraussehenden Träumen oder Visionen wird geschlossen, dass das Leben nach einem festgelegten Plan, der bis zum Todeszeitpunkt reicht, abläuft.«
Aus den voraussehenden Träumen oder Visionen wird geschlossen, dass das Leben nach einem festgelegten Plan, der bis zum Todeszeitpunkt reicht, abläuft. Mit höherer Intelligenz ist vermutlich die emotionale Intelligenz gemeint, die intuitiv zu verorten ist. Emotionale Intelligenz kann komplexe Zusammenhänge leichter erfassen, wodurch Menschen Lebensereignisse stärker in einem spirituellen Zusammenhang sehen können.
Insgesamt kann man sagen, dass sich vieles im Leben der Menschen mit NTE im Kindesalter positiv verändert hat und sie durch die Zunahme an übersinnlichen Fähigkeiten einen anderen Blick auf das Leben bekamen.
»Menschen mit Nahtoderfahrung sind »im allgemeinen ganz gewöhnliche Menschen, die eine außergewöhnliche Erfahrung überlebten.«
Wir erfahren aus dieser Studie aber nicht, ob sich die Persönlichkeit dieser Menschen in einer »besonderen« Weise weiterentwickelt hat, zum Beispiel ob sie besonders liebend oder demütig geworden sind. Selbst Melvin Morse schreibt am Ende seines Buches, dass Menschen mit Nahtoderfahrung »im allgemeinen ganz gewöhnliche Menschen sind, die eine außergewöhnliche Erfahrung überlebten.« (S.305)
2. Zusammenfassung von Kenneth Rings Buch: »Im Angesicht des Lichts – was wir aus Nahtoderfahrungen für das Leben gewinnen«
Kenneth Ring war Psychologieprofessor an der Universität Connecticut und befasste sich Jahrzehnte lang mit dem Thema »Leben nach dem Tod«. In seinem Buch fasst er mehrere Untersuchungen zusammen und listet folgende psychologische und verhaltensspezifische Veränderungen nach NTEs auf: gesteigerte Wertschätzung des Lebens, bessere Selbstakzeptanz, mehr Sorge um andere, Ehrfurcht vor dem Leben, Antimaterialismus, Ende des Wettbewerbsdenkens, universale Spiritualität, erhöhte Suche nach spirituellem Wissen, von einem heiligen Lebenssinn überzeugt, keine Angst mehr vor dem Tod, Glaube an ein Leben nach dem Tod und in manchen Fällen auch an Reinkarnation und der Glaube an die Existenz Gottes. (S.113 ff)
Nicht nur werden Veränderungen der Lebenseinstellung nach einer NTE in diesem Buch zusammengefasst, sondern es werden auch Veränderungen des Bewusstseins und der paranormalen Funktionen aufgeführt: erweiterte mentale Bewusstheit mit Informationen außerhalb des ichbezogenen Selbst, paranormale Sensibilität wie Telepathie, Hellsehen, Präkognition und außerkörperliche Wahrnehmung, und bei manchen stellt sich die Gabe des Heilens ein.
Die aufgeführten Nachwirkungen einer NTE wurden von Ring an zahlreichen Einzelfallbeispielen dokumentiert. Er klassifiziert die NTEs in drei Kategorien, die unterschiedliche Ebenen des Verständnisses repräsentieren:
- Der umfassendste und universale Aspekt der NTE ist die beseligende Vision, in der das Individuum die Vollkommenheit des Universums und seine eigene Vollkommenheit erkennt und diese als wahre und ewige Heimat identifiziert.
- Der zweite Aspekt repräsentiert Erkenntnisse, die auf das Erdenleben bezogen sind. Man erkennt die Bedeutung bestimmter menschlicher Werte wie empathische Liebe, Fürsorge und umfassendes Wissen, und dass es diese sind, die einen im Erdenleben weiterführen.
- Der dritte umfasst die persönlichen Offenbarungen, die zum Beispiel während der Lebensrückschau dem Individuum gezeigt werden. Die Einsichten daraus verwerten die meisten Menschen nach dem Wiedereintritt in ihren menschlichen Körper so, dass sie versuchen, selbstsüchtige Bestrebungen zu überwinden und ihre Talente und Neigungen mehr zu leben, um ein authentisches Leben zu führen.
Viele Menschen mit NTEs erkennen hinterher, dass sie nicht wirklich ihr eigenes Leben führten, sondern ihr Leben zuvor nach falschen Bedürfnissen ausgerichtet hatten. Ring schreibt: »Das falsche Selbst wird von der Gesellschaft geformt; das wahre Selbst hingegen wird nicht so sehr durch die NTE verliehen als vielmehr vom Individuum nach der NTE geschaffen und verwirklicht. Mit Hilfe des durch das Licht verliehenen Wissens kann das Individuum das falsche Selbst und seine Entstehung erkennen – und das reicht oft aus, um mit seinem Abbau zu beginnen. Sobald dieser Prozess einsetzt, entsteht Raum für das neue, authentische Selbst…« (S.70) An dieser Stelle betont Ring, dass diese Lektionen vom Licht nicht nur an Nahtoderfahrene gerichtet sind, sondern an uns alle. Er bezeichnet die Nahtoderfahrenen in diesem Zusammenhang als Lehrer, die uns diese Weisheiten aus dem Licht übermitteln sollen. Das Licht liebt alle Menschen, und es ist wichtig, zu wissen, dass wir von ihm geliebt werden. Somit schlussfolgert Ring: »Diese Liebe ist für uns alle da, und wenn Sie sich ihr öffnen, dann wird sie Sie unvermeidlich zu Ihrem Selbst führen – Ihrem wahren Selbst.« (S.71) Wie soll man diesen Weg gehen, wenn man die göttliche Liebe nicht selbst gespürt hat? Diese Frage stellten sich die Studierenden von Ring in einer Vorlesung, in der er eine Nahtoderfahrene als Gastrednerin eingeladen hatte. Als diese Frage an sie gerichtet wurde, antwortete sie: »Liebe andere«. (S.134)
In anderer Form begegnen wir dieser Aufforderung in der Lebensrückschau während einer NTE. Dort wird Nahtoderfahrenden häufig die Frage gestellt, was sie für das Wohl oder den Fortschritt der Menschheit getan haben. Bei dieser Frage müssen viele von ihnen, die sehr egoistisch gelebt haben, peinlich berührt gewesen sein, weil sie nichts darauf antworten konnten. In einigen Fällen bietet das Lichtwesen, das einen bei der Lebensrückschau begleitet, alternative Handlungsweisen an, damit man weiß, was man in Zukunft in solchen Situationen tun kann. Solch eine Lebensrückschau ist das ultimative Lehrinstrument für die eigene Transformation. Ring widmet in seinem Buch diesem Thema ein ganzes Kapitel mit der Überschrift: »Die Heilkraft der Lebensrückschau für die Transformation der Persönlichkeit«. (S.172) Man darf allerdings nicht vergessen, dass während einer NTE das Individuum mit allem und jedem verbunden ist und alles Emotionale circa tausendmal stärker erlebt als auf der Erde. Somit spürt es den Schmerz des Gegenübers, den es ihm angetan hat, so intensiv, dass es beinahe automatisch bei jedem eine Reuereaktion erzeugt und das Bedürfnis nach Wiedergutmachung entsteht. Der ganzheitliche Blick in dieser Situation erklärt einem vieles, was man zu Erdzeiten nicht verstand. Daraus entsteht schließlich die Reaktion des Verzeihens – sich selbst und dem anderen.
»Ich denke, die Lebensrückschau war für mich wie ein Heilungsprozess.«
Ein Nahtoderfahrener berichtet: »Ich denke, die Lebensrückschau war für mich wie ein Heilungsprozess. Sie bewirkte eigentlich die ganzen Veränderungen in mir, weil sie mir ermöglichte, Dinge, die ich nicht verstand und die für mich eine Quelle von Zorn und Frustration waren, abzulegen. Zum Beispiel den Schmerz darüber, nicht verstanden und akzeptiert zu werden. Oder weshalb Leute mir Dinge antaten, die ich als schrecklich grausam empfand.« Während des Lebensrückblicks erfuhr er, dass die Menschen nur aus Unwissenheit gehandelt hatten, und konnte ihnen daraufhin vergeben.
Ring betont in seinem Buch, dass alle Menschen sich auf den Weg zur persönlichen Transformation machen sollten. Dabei weist er auf den Unterschied zwischen unserem wahren göttlichen Kern und unserem bislang entfalteten Potenzial in unserer Persönlichkeitsentwicklung hin. Diese beiden unterschiedlichen Aspekte der menschlichen Seele (das göttliche Potenzial und das verwirklichte Sein) sollten sich im Laufe eines Lebens annähern, sodass wir durch unsere Lebensweise unseren göttlichen Kern im Alltag durch unser Handeln und unsere tätige Liebe zum Ausdruck bringen. Ring betont: »Doch nur das Licht zu betonen oder zu meinen, dass es aus sich heraus und unabhängig davon, wie wir gelebt haben, nach dem Tod alles gut machen wird, ist meiner Meinung nach eine naive und irrige Lesart von Folgerungen der NTE-Forschung. Aus ebendiesem Grunde habe ich in diesem Buch die Bedeutung der Lektionen der Lebensrückschau so sehr betont und an anderer Stelle darauf bestanden, dass die bedingungslose, nicht verurteilende Liebe des Lichtes nicht bedeutet, dass jedes Verhalten gleichermaßen akzeptabel und somit alles erlaubt ist.
»Was die NTE wirklich über das Leben nach dem Tod lehrt, ist, dass wir in jedem Augenblick unseres Lebens unser Lebensskript schreiben.«
Im Gegenteil, was die NTE wirklich über das Leben nach dem Tod lehrt, ist, dass wir in jedem Augenblick unseres Lebens unser Lebensskript schreiben, das über die posthume Reise unserer Seele entscheiden wird – dass niemand anders als wir selbst also der Gestalter des Schicksals unserer Seele nach dem Tode sind. Das Licht mag zwar unser wahres Wesen reflektieren und unser Gefühl für die Sünde auflösen, aber es kann uns niemals von der Verantwortung für unser Leben freisprechen. Nach dem Tod wird nicht nur – womöglich auch mit Schmerzen – evident, was wir unserem Wesen nach sind, sondern auch, wie wir tatsächlich gelebt haben.« (S.283) Aus diesem Grund hat sich Ring in diesem Buch vor allem auf das fokussiert, was wir aus den NTEs in diesem Leben lernen können. Denn obwohl man eine NTE erlebte, kann man trotzdem in seiner weiteren Persönlichkeitsentwicklung vom »richtigen Weg« abkommen. Auch unter Nahtoderfahrenen gibt es Menschen, »die nicht immer sind, was sie zu sein scheinen, und denen man als kluger Mensch am besten aus dem Weg geht, weil sie an offensichtlicher Selbstüberhebung oder anderen hochtrabenden Tendenzen leiden.« (S.305) Somit beende ich meine Ausführungen über die Erkenntnisse von Ring mit folgendem Zitat von ihm: »Nah-Tod-Erfahrene haben zwar das Licht gesehen, aber auch sie sind immer noch Menschen und als solche mit menschlichen Fehlern und Schwächen behaftet. Nicht sie sollte man in den Himmel heben, sondern nur das Licht.« (S. 305)
Gerald F. Rubisch: »Abenteuer Jenseits – Nahtoderfahrungen und wie das Leben danach weitergeht«
Der Autor Gerald F. Rubisch beschreibt in seinem Buch seine eigene Nahtoderfahrung. Kurz danach gründete er eine Gruppe, in der sich Menschen mit Nahtoderfahrungen austauschen konnten. Sein Fazit: »Wie die Betroffenen selbst mit ihrer Nahtoderfahrung umgehen, hängt in erster Linie von der jeweiligen Persönlichkeit ab.« (S.104) Diejenigen, die sich zuvor in keiner Weise mit der geistigen Welt beschäftigt haben, erleben eine Art Kulturschock bei ihrer Rückkehr. Das vorherige Weltbild wird vollkommen auf den Kopf gestellt. Die Frage »Wer bin ich wirklich?« muss neu gedacht werden. Dabei spielt auch der Grad der Sturheit und Festgefahrenheit des Charakters eine Rolle. Je festgefahrener das Weltbild, desto mehr führt die NTE zu einer Desorientierung. Darüber hinaus können Betroffene über das Erlebte mit fast niemandem ehrlich sprechen, was das Wiedererlangen von Orientierung zusätzlich erschwert. Psychologen oder Theologen verfügen meist über keinerlei konkretes Wissen über die jenseitige Welt. Aber wer wäre kompetent, darüber Auskunft zu geben? So fühlen sich viele Nahtoderfahrene über eine lange Zeit verloren und verlassen.
Andere wiederum entwickeln in der Folge ein aufgeblähtes Ego. Sie dichten Geschichten zu der NTE hinzu, um es in einen für sie passenden Rahmen zu stellen. Rubisch dazu: »Eine Folge von Nahtoderfahrungen sind Erkenntnisse über die eigene Natur und das Leben. Damit wird der Integrationsprozess zu einem geistigen und spirituellen Weg, auf dem wir die neuen Erfahrungen in die Persönlichkeit integrieren können. Erst dann haben sie einen transformatorischen Wert. Geschieht dies nicht, kann sich das Ego in den Vordergrund stellen, und das eigentliche Erlebnis tritt zurück. « (S.131) Er schreibt weiter: »Eine Nahtoderfahrung enthält ein großes Potenzial an spirituellen Erkenntnissen und impliziert auch die Möglichkeit, diese zum Aufpolieren des eigenen Selbstwertgefühls einzusetzen. Dabei besteht bei etwas labileren Persönlichkeiten die Gefahr, sich darin mit egoistischen Motiven zu verlieren.« (S.132) Doch gerade, weil Nahtoderfahrene manchmal paranormale Fähigkeiten (Hellsehen, Telepathie etc.) entwickeln, tragen sie infolgedessen eine hohe soziale Verantwortung mit sich. Wenn dies nicht mit einer gewissen Persönlichkeitsreife gepaart ist, sondern vom Egoismus missbraucht wird, können Fehlentwicklungen nach der NTE stattfinden. Obwohl die meisten Menschen nach einer NTE sich mehr dem Geistigen und weniger dem Materiellen zuwenden, bleibt zu beachten, in welcher Persönlichkeitsreife dies geschieht.
Die Struktur des Jenseits
Zahlreiche mediale Autoren beschreiben den Aufbau des Jenseits (Edgar Cayce, Rudolf Steiner, Jana Haas, James van Praagh, Silvia Wallimann u. v. a. m.). Allen gemeinsam ist, dass es das unbewusste, jedem Menschen innewohnende Ziel ist, wieder mit der Urkraft des Schöpfers in Verbindung zu sein. Das Ziel und der Sinn eines Menschenlebens ist es, sich in seiner Seelereife durch Liebestätigkeit und Egoüberwindung immer höher und weiterzuentwickeln bis zum inneren göttlichen und vollkommenen Wesenskern, bis der Mensch seine Seelenerfahrungen über viele Inkarnationen so bereinigt hat, dass er die höheren Welten schauen kann. So sieht es auch der »schlafende Prophet« Edgar Cayce: »Dies ist die Bestimmung des Menschen – eins zu werden mit dem Schöpfer, wieder würdig und Ebenbild des Schöpfers zu werden.« (E. Cayce, S.270) Dieses Ziel ist im Diesseits und im Jenseits genau gleich.
Abriss einer idealen Persönlichkeitsentwicklung
Wie bereits im Vorangegangenen deutlich wurde, sind göttliche Lichterfahrungen in einer NTE kein Garant dafür, die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen auf einen »besseren« Weg zu führen. Ebenso verhält es sich meines Erachtens mit meditativen oder spirituellen Lichterfahrungen. Wenn das Ego nicht überwunden wurde, werden sich nach der Lichterfahrung zum Beispiel narzisstische Persönlichkeitsanteile nicht von selbst auflösen.
Eine positive Voraussetzung für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes ist ein soziales Umfeld, in dem die Akteure einen hohen Entwicklungsstand in ihrer Seelenreife aufweisen. Dies ist aber selten der Fall. Kinder wachsen immer in einer sozialen Umgebung mit Menschen auf, die mehr oder weniger große Persönlichkeitsdefizite in sich tragen. Von einer hohen geistigen Entwicklung kann man vielerorts nur träumen. Somit finden bereits in der frühen Kindheit Verletzungen statt, lebensnotwendige Sehnsüchte werden nicht erfüllt und die eigene Bedürfnisentwicklung bleibt auf der Strecke, weil dafür die geeigneten Vorbilder fehlen. Doch wir haben von den NTEs gelernt, dass alles nach einem optimal ausgerichteten, individuellen Lebensplan geschieht, der entsprechend den früheren Leben konstruiert wurde. Viele Nahtoderfahrene konnten in die Zukunft blicken und später – wieder zurück im physischen Körper – fand alles so statt, wie sie es zuvor gesehen hatten. Dies wäre ohne festgelegten Plan nicht möglich. Aus dieser Perspektive ist es nicht sinnvoll, das eigene Schicksal anzufechten oder Schuldige dafür zu suchen. Denn die einzige Ursache für den individuellen Lebensplan sind wir selbst und unsere Taten in einer früheren Zeit. Dennoch hindern uns die negativen Kindheitserfahrungen daran, ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen, weil die unerfüllten Sehnsüchte immer wieder befriedigt werden wollen und der Mensch sich entweder »Scheinbefriedigungen« sucht (Erfolg, Sucht, Reichtum, Macht etc.) oder in Beziehungssituationen mit seinem Partner in einer Art »Wiederholungszwang« Erlebnisse macht, die ihn an die negative Kindheit erinnern. Somit müsste die Entwicklung wesentlicher Bedürfnisse und ihre Umsetzung im Erwachsenenalter nachgeholt werden, wenn dies nicht in der Kindheit erlernt wurde, denn sie sind die Grundlage für eine gelungene Persönlichkeitsentwicklung.
Diese Defizite aufzuarbeiten, ist die Aufgabe der Psychotherapie. Die Psychotherapeuten sollten in diesem System die »reiferen« Menschen sein, die durch eine intensive Beziehung zum Patienten und geeignete Lernprozesse auf allen Lebensebenen ihren Patienten eine »nachholende« Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen. Doch die Voraussetzung für diesen Prozess wäre ein »reifer« Psychotherapeut. Wenn wir von der Seelenreife ausgingen, wäre es jemand, der mit seiner Liebe zum göttlichen Schöpfer sein eigenes Ego bereits überwand. Wo findet man so jemanden? Ich denke, dass man dieses Individuum nirgendwo in Reinform finden kann, und wenn überhaupt nur in der menschlichen Annäherung an dieses Ziel.
Wie könnte diese Aufarbeitung aussehen? Geht man von einem gerechten und festgelegten Lebensplan aus, wäre vernunftmäßig eine »radikale« Akzeptanz der eigenen Lebensbedingungen in der Kindheit die beste Einstellung. Dem folgend wäre die zweite Frage, wie man aus den negativen Mustern hinausfindet. Die Antwort ist durch das Erlernen und Erleben von positiven Beziehungsmustern. Im Laufe der Entwicklung sind erwachsene Patienten nicht nur Opfer, sondern auch Täter ihrer negativen Beziehungsmuster, weil sie die negativen Seiten von den Eltern oder anderen Beziehungspersonen übernahmen. Somit geht es in der Psychotherapie sowohl um die Bereitstellung positiver Beziehungsmuster als auch um die Konfrontation mit den negativen Seiten des Patienten, die den Aufbau der positiven Muster oftmals behindern. Ein großer Schritt in diese Richtung ist Vergebung. Vergeben ist notwendig, um mit dem Vergangenen abschließen zu können. Wenn man etwas Neues aufbauen will, sollte man die Vergangenheit hinter sich lassen, ansonsten holt sie einen immer wieder ein. Für Vergebung sprechen zwei wichtige Faktoren: Erstens hat sich jeder seinen Lebensplan mit allen negativen Auswüchsen durch seine vergangenen Leben selbst zuzuschreiben und zweitens haben die betreffenden Beziehungspersonen (zum Beispiel Eltern) meist selbst keine besseren Beziehungsmuster in ihrer eigenen Kindheit erlernt als diejenigen, die sie an ihre Kinder weitergaben.
»Das Aufarbeiten der negativen Erfahrungen, das Erschaffen positiver Muster und die Vergebungsarbeit sind das Fundament für eine spirituelle Weiterentwicklung hin zu einer »vollkommeneren« Seelenreife.«
Das Aufarbeiten der negativen Erfahrungen, das Erschaffen positiver Muster und die Vergebungsarbeit sind das Fundament für eine spirituelle Weiterentwicklung hin zu einer »vollkommeneren« Seelenreife. Der Individualpsychologe Alfred Adler sah in seinem 1933 erschienenen Buch »Der Sinn des Lebens« die Vollkommenheit des Menschen sowohl im metaphysischen Sinne als auch im Erleben eines idealen Gemeinschaftssinns: »Die Gesamttatsache der schöpferischen Evolution alles Lebenden kann uns darüber belehren, dass der Richtung der Entwicklung jeder Spezies ein Ziel gesetzt ist, das Ziel der Vollkommenheit, der aktiven Anpassung an die kosmischen Forderungen.« (A. Adler 2023, S.186) Weiter: »Sie können es spekulativ nennen oder transzendental, es gibt keine Wissenschaft, die nicht in die Metaphysik münden müsste. (…) … dieses Ziel der Vollendung muss in sich das Ziel einer idealen Gemeinschaft tragen, weil alles, was wir wertvoll finden im Leben, was besteht und bestehen bleibt, für ewig ein Produkt dieses Gemeinschaftsgefühles ist.« (ebda. S.190) Er sieht die individuelle Entwicklung zur Vollkommenheit im Zusammenhang mit der »Höherentwicklung der gesamten Menschheit«.
Im Gegensatz zum Buddhismus, der keinen außerhalb von uns existierenden Gott kennt, sondern die Hingabe auf einen erleuchteten Guru richtet, erhalten Menschen mit NTEs andere Hinweise: »Das Leben in dieser Welt wurde dir nur zu einem Zweck gegeben, nämlich, um lieben zu lernen, und das bedeutet, Gott zu lieben und zu verwirklichen. Und Gott lieben bedeutet wiederum, dass man lernt, Gottes Willen zu erkennen und dann Gottes Willen zu erfüllen durch Nächstenliebe. Vor diesem Ziel tritt alles Weitere zurück und ist nur Beiwerk in deiner kurzen Lebenserfahrung auf dieser weltlichen Ebene.« (H. Storm 2008, S. 38) Allen spirituellen Traditionen gemeinsam ist das Erreichen einer hohen Form der Nächstenliebe, das durch anwachsendes Mitgefühl und Überwindung eines stolzen Egos ununterbrochen im täglichen Handeln geübt werden kann. Selbst der weltweit bekannte Neurowissenschaftler und Psychiater Raphael M. Bonelli empfiehlt in seinem Buch »Die Weisheit des Herzens« die Ausrichtung auf einen höheren Sinn des Lebens durch Selbsttranszendenz: »Selbstverwirklichung des Herzens durch Selbstvergessenheit. Wer seinen Sinn im Wahren, Guten und Schönen zu finden vermag, bei dem ist kein Platz mehr für kleinlichen Egoismus oder hasserfüllte Menschenhetze.« (R. M. Bonelli 2023, S. 230) Er beschreibt den Weg zur Weisheit des Herzens über heilsame Stille, Sammlung und Besinnung. Erst dadurch lässt sich »das innere Heiligtum« erfahren.
Die aufgeführten Darstellungen sagen im Kern dasselbe: Die Verwirklichung einer allumfassenden Liebe in diesem Leben sei zentral für die Selbstvervollkommnung des Menschen und für die Entwicklung der Menschheit insgesamt. Nun die Frage: Wie gelangt man dorthin? Die stärkste Liebe spüren viele Menschen im Angesicht kleiner Kinder, die durch ihre Reinheit und Unschuld jedem normalen Menschen das Herz öffnen. Wir schauen in die Augen der Kinder und spüren Liebe. Wie sollen wir das Gott gegenüber machen? Sein Angesicht wurde auch von Nahtoderfahrenen nicht geschaut. Aber mehrfach wurde seine Stimme vernommen. Aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, dass Gott ein personales Wesen ist und nicht nichtpersonal, wie es von vielen (zum Beispiel W. H. Moissl: »Jenseits und Bewusstsein«) postuliert wird. Wenn er der Urgrund allen Seins ist, dann ist er alles zugleich: personal und nicht personal, – in allem Seienden immanent. Es ist darauf zurückzuführen, welche Begegnung man mit ihm hatte – war sie nichtpersonal (zum Beispiel Licht und Liebe), so meint man, er sei nur das; war die Erfahrung personal, so denkt man, er existiere als sichtbare Wesenheit. Die einzige Gewissheit, die fast alle NTEs teilen, ist, dass der Urgrund aus Licht und Liebe und Kraft bestehe. Niemals wurde der Urgrund im Jenseits als Leere erlebt.
Ich halte es für den einfachsten Weg, um zur allumfassenden Liebe zu gelangen, wenn man sich den göttlichen Schöpfer als Wesen vorstellt (von mir aus visuell als gütigen Vater oder gütige Mutter, oder zum Beispiel als die Gestalt des Jesus Christus, der oft in NTEs in Gottes Nähe erlebt wird), den man wie ein Kind lieben lernt. Man vertraut ihm alles an; ist gewiss, dass er präsent ist, wenn man mit ihm redet; gibt ihm sein ganzes Leben in die Hand, weil er durch dieses Vertrauen einem selbst viel näher kommen kann; schweigt und liebt ihn konzentriert, so lange man kann, bis seine Präsenz im Alltag allgegenwärtig ist.
Ohne dieses absolute Vertrauen in die Güte und Weisheit des Schöpfers wird man als Mensch den Sprung in die vollkommene Hingabe nicht wagen. Die Nahtoderfahrenen geben Zeugnis ab, dass dies, was sie dort erlebten, Gewissheit und kein Glaube ist. Wenn jemand diesen Weg geht, wird er im Innern seine Heimat finden und sich nicht ständig nach dem erlebten Licht während der NTE schmerzlich sehnen.
Dr. Viktor Terpeluk, geb. 1958 in München. Studium der Psychologie in München, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Medizinische Psychologie an Universität Ulm. Während einer sechsmonatigen Auszeit in Indien machte er tiefgreifende spirituelle Erfahrungen. Im Anschluss arbeitete er vier Jahre lang in einer Privatklinik für Psychosomatik und Psychiatrie, später baute er einen alten Bauernhof um, in dem sein Haus, ein Seminargebäude (seminarhof-morgenstern.de) und seine psychotherapeutische Praxis untergebracht sind.
Literatur:
Adler, A.: »Der Sinn des Lebens«, 2023, Nikol Verlag, Hamburg
Atwater, P.M.H.: »Wir waren im Himmel«, 2020, Ansata Verlag, München
Bonelli, R.M.: »Die Weisheit des Herzens«, 2023, Edition a, Wien
Haas, J.: »Jenseitige Welten«, 2012, Knaur Verlag, München
Kardec, A.: »Das Buch der Geister«, (http://writeapp.io)
Moissl, W.H.: »Jenseits und Bewusstsein«, 2015, Basilides-Verlag, Nürnberg
Morse, M. & Perrry, P.: »Verwandelt vom Licht«, 1994, Knaur-Verlag, München
Op den Dries, D.: »Zurück aus dem Himmel«, 2013, crotona Verlag,
Ring, K. & Elsaesser-Valario, E.: „»Im Angesicht des Lichts«, 1999, Ariston, München
Robinson, L.W.: »Edgar Cacye`s Bericht vom Ursprung und Bestimmung des Menschen«, 1974, Bauer Verlag, Freiburg
Rubisch, G. F.: »Abenteuer Jenseits«, 2013, Goldmann Verlag, München
Rinpoche S.: »Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben«, 2020, Knaur, München
Steiner, R.: »Das Leben nach dem Tod«, 2010, Archiati Verlag, Bad Liebenzell
Steiner, R.: »Arbeit an sich selbst«, 2017, Archiati Verlag, Bad Liebenzell
Terpeluk, V.: »Weisheit aus dem Jenseits«, 2022, Spirit Rainbow Verlag, Aachen
Van Praagh, J.: »Jenseitswelten«, 2002, Goldmann Verlag, München
Wallimann, S.: »Brücke ins Licht«, 1997, Bauer Verlag, Freiburg
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- Schwerpunktthema »Tod und Trauer«
- Dieter Schnocks – C. G. Jungs Verständnis der Seele
- Akambi Oluwatoyin – Charakter ist Spiritualität
- Dr. Thomas F. Wachter – Die essenzielle Dimension der Seele
- Dr. Sylvester Walch – Transpersonales Selbst. Innere Weisheit und die Sehnsucht nach Befreiung
Ken Wilber bietet mit seiner integralen Meta-Theorie (u.a. „Integrale Psychologie“ und „Die Religion von Morgen“) einen hilfreichen Schlüssel zum Verständnis der unterschiedlichen spirituellen Erlebnisse und Interpretationen: Zustände des Bewusstseins – Stufen des Erwachens – werden von Menschen auf unterschiedlichen Stufen des Erwachsens erlebt und interpretiert, die von archaisch, magisch, mythisch über rational, pluralistisch bis integral und superintegral reichen. Berücksichtigt man gleichzeitig unterschiedliche Linien oder Intelligenzen – kognitiv, emotional, moralisch, ästhetisch, personell u.a. – und Lebensbereiche – Religion, Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft, Ökologie u.a. – sind nahezu unbegrenzte diagnostische Kombinationen möglich, die dabei helfen, sich selbst und andere zu verstehen, mit einander zu kommunizieren und die Entwicklung voranzubringen. Ratschläge und Hinweise sind dann immer situations-, entwicklungs- und personengebundene „geeignete Mittel“, die keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Gründliche und umfassende wissenschaftliche Kenntnisse – u.a. der Neurowissenschaften – sollten dabei ebenso selbstverständlich sein wie die Kenntnis der fachlich wichtigsten Literatur. Mit weniger sollten sich Leser und Klienten – am besten auch Autoren – nicht zufrieden geben.