Über das Ent-Decken einer lebensfreundlichen Zivilisation der Gabe
Da es in diesem Beitrag ums Schenken geht, schenken wir euch den Text 😀.
(offener Beitrag ohne Bezahlschranke)
Matriarchale Gesellschaften weisen auch in der Ökonomie und Lebensführung einen lebensfreundlichen Weg auf, in dem nicht der Tausch, sondern die Gabe das zentrale Element ist. Das Grundprinzip der Gabe betrachtet den Menschen als das, was er ist: ein gebendes und empfangendes Wesen, eingebunden in vielfältige Beziehungen, das in der Lage ist, die Gaben des Lebens anzunehmen und diese selbst auch wieder zu geben.
Nicht zufällig scheint in Zeiten der Krise die Auseinandersetzung mit der Gabe als soziales und kulturelles sowie insbesondere auch als ökonomisches Phänomen von großem Interesse zu sein. Tatsächlich konnte in den vergangenen 15 Jahren und angesichts des sich zuspitzenden multiplen Krisengeschehens, das die von Claudia von Werlhof begründete Kritische Patriarchatstheorie als planetare Zivilisationskrise ausmacht, eine Renaissance der Gabe-Theorien innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion beobachtet werden. Diese hat in einer regelrechten Flut an neuen Publikationen zum Thema sowie dem Entstehen zahlreicher Projekte zur Tausch- und Schenkpraxis ihren Ausdruck gefunden.
Während sich in den 1960er-Jahren und insbesondere mit dem Vorliegen des bahnbrechenden Werks von Marcel Mauss ein reges und breites Interesse an diesem komplexen Themenbereich im Zusammenhang mit anthropologischen Studien und mit dem Erforschen des »Fremden« entwickelte, scheint es nach einigen philosophischen Exkursen in diesen Themenkreis nun so, dass die Gabe, ihre Logik, ihre Wirkungsweise und Bedeutung nun auch disziplinenübergreifend im »Eigenen« entdeckt werden sollen. So sind vielerorts auch Schenkkreise entstanden, »Umsonstläden« und sonstige Initiativen wurden gegründet oder es sind etwa auch Diskussionen rund um das Ehrenamt oder »Care« als tragende Säulen der kapitalistischen Gesellschaft entbrannt.
Bei der Analyse dieser Ansätze und Zusammenhänge erweist sich die Gabe manches Mal als eine besonders »günstige« Form der Ergänzung des kapitalistischen Systems – günstig in dem Sinne, dass sie, auf den ersten Blick, eben nichts »kostet«, und darüber hinaus günstig auch insofern ist, dass sie sich als besonders dienlich erweisen kann, indem sie »Nischen« und Felder innerhalb des kapitalistisch-patriarchalen Systems eröffnet, in denen Fragen nach angeblichen Alternativen einen kontrollierten, aber insbesondere auch vom System kontrollierbaren Platz finden können, während sich dieses jedoch seinem Fortschrittscredo entsprechend immer weiter intensivieren und beschleunigen kann.
»Es sind schließlich feministische Ansätze, die die Gabe als Urlogik des Lebens herausgearbeitet haben.«
Es sind schließlich feministische Ansätze, die die Gabe als Urlogik des Lebens herausgearbeitet haben und ihr damit eine umfassende Dimension verleihen konnten, die ein Denken der Gabe auch jenseits des Systems erlauben können. Diese Analysen münden schließlich im Homo donans als Gabe-orientiertes Menschenbild, das von Genevieve Vaughan entwickelt wurde und das auch immer wieder Ausgangspunkt meiner eigenen Forschungsarbeit darstellt.
Gabe und Tausch – zwei gegensätzliche Logiken
Die wenigsten Autor*innen, die sich eingehend mit der Gabe befassen, unterscheiden zwischen den durchaus fundamental unterschiedlichen Logiken und Funktionsweisen des Tauschs und der Gabe als soziale Interaktionsformen; sie beschränken sich im Wesentlichen auf die Beschreibung von ökonomischen Zirkulationsbewegungen von materiellen und/oder immateriellen Gütern und Leistungen. Damit werden die in diesem Zusammenhang teilweise als Synonyme verwendeten Begrifflichkeiten nicht nur verwässert oder gar entfremdet, sondern es wird insbesondere auch die gemeinschaftsbegründende Funktion der Gabe verkannt, die als anthropologische Konstante, ja als Urlogik des menschlichen (und vermutlich auch nichtmenschlichen) Lebenszusammenhangs fungiert. Ausnahmen bilden hier einige Publikationen aus dem Umfeld der modernen Matriarchatsforschung sowie rund um ein von Genevieve Vaughan initiiertes feministisches Forschungsnetzwerk zur Gabe (International Feminists for a Gift Economy). Tatsächlich war es auch Genevieve Vaughan, die ein bahnbrechendes Werk zur Gabe vorlegte.
»Sie ortet das Urmodell einer Ökonomie der Gabe in der Mutter-Kind-Beziehung, die in der nährenden, mütterlichen Zuwendung an die konkreten Bedürfnisse des anderen ihren Ausdruck findet.«
Sie ortet das Urmodell einer Ökonomie der Gabe in der Mutter-Kind-Beziehung, die in der nährenden, mütterlichen Zuwendung an die konkreten Bedürfnisse des anderen ihren Ausdruck findet. Sie ist es auch, die das Menschenbild des Homo donans entwickelt und damit dem Homo oeconomicus ein kraftvolles Bild entgegengesetzt hat, das unser Denken und Begreifen von Zivilisation und Kultur wesentlich zu berühren vermag. Die Erkenntnisse der modernen Matriarchatsforschung zeigen schließlich auf, dass sich matriarchale Gesellschaften als lebensfreundliche Zivilisationen im Wesentlichen am zentralen Element der Gabe orientieren.
Wenn wir das Grundprinzip der Gabe annähernd begreifen möchten, so kommen wir meines Erachtens nicht umhin, dieses der Logik des Tauschs gegenüberzustellen. Dabei darf betont werden, dass es in sämtlichen Kulturen und Gesellschaftsformen selbstverständlich in der Praxis Mischformen der Gabe und des Tauschs gibt, die auch bestimmten Zwecken dienen, sei es im Verhältnis nach innen, das heißt in der Beziehung mit anderen innerhalb der eigenen Gemeinschaft, oder nach außen, sprich im Kontakt mit Fremden. Als bestes Beispiel könnten hier etwa diverse Praktiken der Gastfreundschaft genannt werden, die sich zwar aus einer oberflächlichen Betrachtung heraus am Stillen von Bedürfnissen der anderen orientieren, indem diese beschenkt und/oder bewirtet werden, um ihnen Respekt zu zollen und Sorge für ihr Wohl zu tragen. Gleichzeitig steht aber auch das eigene Interesse im Mittelpunkt, wie etwa jenes der Anerkennung durch das Respektieren von definierten gesellschaftlichen Normen und Konventionen, oder des Selbstschutzes vor Angriffen durch die als Gast empfangenen Fremden als Nichtzugehörige zur eigenen Gemeinschaft.
In der Analyse und Unterscheidung der Logik der Gabe vom Prinzip des Tauschs kann es zunächst durchaus bemerkenswert sein, einen Blick auf die Geschichte der entsprechenden Begrifflichkeiten zu richten. Gerade der Begriff des ›Tauschs‹ taucht in der deutschen Sprache nämlich relativ spät auf und erst im Neuhochdeutschen wird das ›Täuschen‹ als Variation davon abgetrennt. Die etymologische Forschung konnte bislang weder die Herkunft des Wortes noch seine ursprüngliche Bedeutung (als das Tauschen oder Täuschen im Sinne von Betrügen) eindeutig klären. Dieser Umstand erscheint uns umso interessanter, als dass er aufzeigt, dass das Tauschen gewissermaßen von Beginn an unmittelbar mit dem Vortäuschen von möglicherweise falschen Tatsachen verbunden sein könnte.
»Der Tausch beruht im Kern auf dem Prinzip des Getrennt-Seins.«
Eng damit zusammenhängend erscheint uns der Begriff des ›Werts‹. Dieser findet im Deutschen unter anderem als ›Preis‹ oder ›Gegenwert‹ Verwendung und nimmt in der Logik, die hinter dem Tauschakt steht, eine zentrale Rolle ein. Vor diesem Hintergrund liegt die Annahme nahe, dass der Tausch im Kern auf dem Prinzip des Getrennt-Seins beruht. Dieses Getrennt-Sein bezieht sich dabei nicht nur auf den Tauschpartner als Gegen-über, sondern vor allem auch auf das Tauschobjekt, dessen konstruierte Wertigkeit letztendlich in Gestalt des zunehmend abstrakt-numerisch definierten Tauschwerts als Preis ausgedrückt wird.
Dem Prinzip des Tauschs liegt der oft zitierte Grundsatz des ›do ut des‹, »Ich gebe, damit du gibst«, zugrunde. Damit wird der Tauschakt zu einem Akt der Spekulation, indem er nicht unmittelbar zur Stillung eines konkreten Bedürfnisses, sei es nun materiell oder immateriell, dient, sondern mitunter auch auf Akkumulation und/oder das Erreichen eines eigenen Profits und Vorteils abzielt. Damit offenbart sich die Ego-Bezogenheit des Tauschs, die darüber hinaus von einem tiefen Misstrauen geprägt zu sein scheint, das sich auf das andere und in letzter Konsequenz auch auf sich selbst, ja gar auf das Leben generell bezieht.
Der Begriff der ›Gabe‹ verweist hingegen bereits in seinem Begriffsursprung darauf, dass es eine untrennbare Verbindung zwischen dem ›Geben‹ und ›Nehmen‹ gibt, da beide Verben an derselben Wortwurzel auftreten. Wir können dementsprechend davon ausgehen, dass es sich um einen Begriff handelt, der aus einer Verbindung zwischen dem einen Prinzip, jenem des Gebens nämlich, und dem anderen, jenem des Empfangens oder Nehmens, resultiert. Die Tatsache, dass dem Geben und Nehmen ein gemeinsamer Vorstellungsinhalt zugrunde liegt, wird auch durch die vielfache Beschreibung der Gabe als ein sinnlicher Zusammenhang unterstrichen, in dem die Elemente der Begegnung und der Berührung durch das Entgegenstrecken der Hände im Abgeben und Aufnehmen angedeutet werden. Eine Art fließende Bewegung scheint die (eigenmächtige) Subjektivität der am Akt Beteiligten zu betonen und die Akteure untereinander vertrauensvoll zu verbinden. Das Verb ›schenken‹ taucht ursprünglich vornehmlich im Zusammenhang mit der Praxis und Tradition der Gastfreundschaft auf, konkret in seiner ursprünglichen Bedeutung des »Zu-trinken-Gebens«. Erst ab der nachklassischen Zeit des Mittelhochdeutschen erlangt das Verb ›schenken‹ die allgemeine Bedeutung von ›geben‹ oder ›darreichen‹. Durch den Verweis auf das Trinken berührt auch das Schenken zunächst die Sphäre des Sinnlichen, wenngleich die Unmittelbarkeit dieses Aktes durch das Hinzukommen mindestens eines Mediums, in unserem Falle nämlich jenes des Gefäßes, aus dem ausgeschenkt wird, und jenem des Gefäßes, in das eingeschenkt wird, bereits aufgebrochen wird.
Während sich die Logik des Tauschs am ›do ut des‹ orientiert, ist die Bewegung der Gabe von zirkulärem Charakter. Das bedeutet, dass sie nicht unmittelbar zurück-gegeben wird, sondern dass sie im Prinzip weiter-gegeben wird. Der Kulturwissenschaftler Lewis Hyde vergleicht die Gabe mit einem fließenden Fluss, der auszutrocknen droht, falls diese nicht weiter-gegeben wird. Was in diesem Falle übrig bliebe, wäre schließlich der Hunger. Damit drückt Hyde aus, dass sich die Gabe durch das Gemeinsame, das heißt den Verbund, der durch sie geschaffen wird, anreichert und auf diese Weise alle(s) gleichsam bereichern kann. Die Basis dafür bildet das Vertrauen. Diese Erkenntnis widerspricht freilich den Dogmen der gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des kapitalistischen Patriarchats, das auf zerstörerischen Transformationsprozessen und gewaltsamen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen beruht. Sie entspricht aber den Grundsätzen der matriarchal organisierten Gesellschaften, die sich durch eine ausgesprochene Lebens- und Gabe-Freundlichkeit auszeichnen.
Homo donans
Das Konzept des ›Homo donans‹ wurde von Genevieve Vaughan geprägt, die sich in ihrer langjährigen theoretischen und praktischen Arbeit mit der Gabe und der Frage nach den Möglichkeiten einer Schenkökonomie auseinandergesetzt hat. Sie begründet ein Modell des Menschen als gebendes und empfangendes Wesen, und es gelingt ihr damit zunächst, eine neue Perspektive zu eröffnen, die sich an den menschlichen Primärerfahrungen orientiert und die hin-gabevolle Zuwendung an das andere thematisiert. Damit trägt sie dem Umstand Rechnung, dass wir von Beginn unseres Lebens an die Erfahrung machen, dass wir Gaben empfangen dürfen, ja sogar müssen, wenn wir überleben wollen, ebenso müssen wir uns um andere kümmern, damit diese leben und wachsen können.
»Homo donans ist entsprechend kein Konzept, das konstruiert werden müsste. Homo donans – das sind wir!«
Vaughan setzt in erster Linie an der Mutter-Kind-Beziehung an, die sie als Urmodell einer Ökonomie der Gabe fasst, das sich an den konkreten Bedürfnissen des Kindes orientiert. Tatsächlich sind wir als Kleinkinder sehr lange auf Fürsorge angewiesen und gar nicht in der Lage, die zur Stillung unserer Bedürfnisse empfangenen materiellen und immateriellen Gaben zu retournieren und damit in eine Art von Beziehung der Reziprozität einzutreten. Im Laufe unseres Lebens und angesichts der komplexen Beziehungsgeflechte, die wir aufbauen und auf unterschiedliche Weise pflegen, werden wir immer wieder die Erfahrung machen, dass es diese Reziprozität gar nicht gibt beziehungsweise auch nicht geben kann. Wir werden schließlich in eine Welt der Gabe hineingeboren, in der wir Tag für Tag materielle und immaterielle Gaben empfangen und (weiter-)geben dürfen. Ja ich gehe noch einen Schritt weiter, oder besser »zurück«: Wir sind aus einer Welt der Gabe herausgeboren, aus dem Mutterleib als ersten Lebenszusammenhang und Erfahrungsort nämlich, in dem wir die Verbundenheit alles Seienden und, in unserer Angewiesenheit, die unbedingte Stillung unserer Bedürfnisse erleben durften. Mit der Geburt werden wir zwar von unserem pränatalen Urzustand getrennt, im Trauma des Getrennt-Seins von diesem Ursprung versuchen wir jedoch immer wieder – unbewusst und bewusst –, im Kontakt mit dem anderen (unerheblich ist dabei, ob es sich hier um andere Menschen oder sonstige Erscheinungen der Natur handelt) eine Annäherung an ihn zu finden. Homo donans ist entsprechend kein Konzept, das konstruiert werden müsste. Homo donans – das sind wir!
Die Ent-Deckungsreise der Gabe als (Rück-)Besinnung auf die eigenen Wurzeln
Es eröffnen sich in der Auseinandersetzung mit dem so vielschichtigen Phänomen der Gabe und ihrer Logik demnach ganz neue, wenngleich auch nicht »unbekannte« Perspektiven, die eine Alternative zum kapitalistischen Patriarchat als besonders aggressive Periode des im Kern lebensfeindlichen patriarchalen Zivilisationsgeschehens offenlegen. Eine Ent-Deckungsreise der Gabe führt uns nämlich nicht nur in alternative Gesellschaften und Kulturen, deren soziale Interaktionen und Gesellschaftsstrukturen primär am verbindenden Prinzip der Gabe orientiert sind, sondern insbesondere auch in die eigenen Ursprünge und Grundbewegungen der menschlichen Existenz. Das bedeutet, dass die Erfahrungen und Wirkungsweisen der Gabe immer da sind, wenngleich sie verdeckt wirken, kaum in ihrer lebens- und gemeinschaftsbegründenden Funktion anerkannt, ja gar negiert und/oder systematisch manipuliert werden. Als beste Beispiele dienen hier unter anderem die unbezahlte Hausarbeit, die Fürsorge der Mütter in der Erziehungsarbeit oder das Ehrenamt, ohne die die gegenwärtige Gesellschafts- und Wirtschaftsform tatsächlich zusammenbrechen würden. Nach außen hin erscheinen sie als »freiwillige« Geschenke an die Gemeinschaft, tatsächlich werden sie jedoch – von einer Makroebene aus betrachtet – sozial und ökonomisch erzwungen, wenngleich der ausgeübte Zwang im Vergleich zum rechtlich verpflichteten »Abführen« von Steuern als eine proklamierte Art der angeblichen Solidaritätsbekundung freilich wesentlich subtiler agiert und an das moralische Gewissen einerseits und die Freude an der Hin-Gabe oder die Liebe andererseits appelliert.
Diese wesentlichen Tätigkeiten und fürsorglichen Haltungen im Denken, Handeln und Fühlen dienen – ob wir es wollen oder nicht – dem Erhalt der vielen Systeme, in denen wir uns tagtäglich bewegen, und doch werden sie nicht in ihrer tatsächlichen Wertigkeit voll anerkannt. Als »wertvoll« mag im kapitalistischen Patriarchat lediglich das erscheinen, das auch einen entsprechenden monetären Wert aufweisen kann beziehungsweise zugewiesen bekommt. Was sich nicht in Zahlen und Profit ausdrücken kann, erscheint als Wert-los. Dabei handelt es sich zumeist um all jenes, das sich um das Leben, seine Pflege und Weiter-Gabe kümmert, ja um das Leben selbst.
»Mutter Erde wird als die Große Geberin schlechthin anerkannt.«
Diese »perverse« Haltung dem Leben und seiner Pflege gegenüber ist den matriarchalen Gesellschaftsformen völlig fremd. Die Erkenntnisse der modernen Matriarchatsforschung zeigen nämlich, dass es sich bei Matriarchaten um lebensfreundliche Zivilisationen handelt, deren Grundverhältnisse durch ein kooperatives Verhältnis zur Natur, generelle Herrschaftsfreiheit und Egalität zwischen den Geschlechtern und den Generationen geprägt sind und die Prinzipien der Verbundenheit und Zugehörigkeit die Lebensbereiche der Einzelnen sowie der Gemeinschaft als Ganze durchziehen. Wenn vom Matriarchat die Rede ist, kann dieses jedoch nicht als »Mütterherrschaft« und somit als Gegenstück zum Patriarchat mit Herrschaftsverhältnissen unter weiblichen Vorzeichen interpretiert werden. Die Matriarchatsforschung zeigt nämlich, dass es bislang keinen Hinweis für eine derartige »Herrschaft der Mütter« oder der Frauen in den matriarchalen beziehungsweise präpatriarchalen Gesellschaften gegeben hat oder gibt. Der ursprünglichen Bedeutung von »mater arché« folgend übersetzt die Kritische Patriarchatstheorie das Matriarchat mit »Am Anfang die Mutter«, wodurch auf die konkrete Erfahrung und Beobachtung verwiesen wird, dass das Leben aus Müttern, das heißt ihrem schöpferischen Leib, und eben nicht aus Vätern (»pater arché«) kommt. Matriarchate zeichnen sich nicht nur durch ihre ausgesprochene Lebensfreundlichkeit aus, sondern vor allem auch durch ihre Gabe-Freundlichkeit. Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate zumeist subsistent-autarke Ackerbaugesellschaften, in denen Privatbesitz und Territorialbeanspruchung unbekannt scheinen, jedoch das Nutzungsrecht entscheidend ist. Die Zirkulation der Güter entspricht am ehesten einer Ökonomie der Gabe, deren Ziel nicht die Akkumulation von materiellen und immateriellen Gütern ist, sondern die ausgleichende Verteilung zur Schaffung von sozialem und wirtschaftlichem Ausgleich im Sinne des Wohles für alle, der Gemeinschaft sowie einer nachhaltigen, respektvollen und freundlichen Beziehung zur Natur und ihren Erscheinungen als schöpferischem Lebenszusammenhang. Dies zeigen heute noch indigene Kulturen und Weltbilder, die zwar im Zuge der Kolonisierung zunehmend patriarchalisiert wurden, sich im Kern jedoch an das Matriarchat als Zivilisationsmodell anzulehnen scheinen. Insbesondere wird dies anhand eines kooperativen Naturverhältnisses sichtbar, das sich als freundlich und nahezu verwandtschaftlich darstellt. Die als mütterlich vorgestellte Natur, die nicht umsonst als »Mutter Erde« oder, wie etwa in Südamerika »Pachamama« bezeichnet wird, wird als lebendiges Wesen geachtet, zu dem auf verschiedenste Weise eine Beziehung im Lichte der Gabe gepflegt werden kann. Als autonomes und eigenmächtiges Subjekt wird die Natur als Gebende und Empfangende charakterisiert und in verschiedenen rituellen und alltäglichen Praktiken eine Gabe-Beziehung zu ihr gepflegt. Mutter Erde wird als die Große Geberin schlechthin anerkannt.
Gerade angesichts der gegenwärtigen zivilisatorischen Krise (und allem voran in ihrem Erscheinen als Naturkrise), die sich als umfassende Krise im allgemeinsten Sinne mit Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche der Einzelnen sowie der Kollektive weltweit herausstellt, sind wir derzeit mehr denn je dazu aufgerufen, uns mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Ab- und/oder Umkehr von der als alternativlos propagierten Profitgier und dem ausgewachsenen Transformationswahn sowie den zerstörerischen Methoden des kapitalistischen Patriarchats zu befassen. Wir sind dazu aufgefordert, Möglichkeiten und Ansätze einer dem Leben zugewandten Zivilisation zu erahnen, die im Kern den Großteil der Menschheitsgeschichte geprägt hat und die nach wie vor als Teil unseres kollektiven Unbewussten wirkt. So können wir davon ausgehen, dass nach Renate Genth das »Matriarchat als zweite Kultur« auch, besser gesagt gerade, im (kapitalistischen) Patriarchat als Sediment des kollektiven Unbewussten immer wirksam ist und verschiedene matriarchale Praktiken ihren unbewussten und bewussten Ausdruck finden oder gar finden müssen, da diese für das menschliche Überleben entscheidend sind. Tatsächlich gehen wir noch einen Schritt weiter und stellen fest, dass das Matriarchat als Kultur- sowie als Denk- und Erkenntnisform nicht nur für das menschliche Überleben unbedingt notwendig ist, sondern auch für das Patriarchat als eine Gesellschaftsform, die ihre Existenz auf Bekriegung, Zerstörung, Plünderung und Verkehrung des Matriarchalen gründet. In seiner Abzielung auf Lebensfeindlichkeit wird das Patriarchat durch diesen selbst induzierten Verlust der eigentlich konstituierenden Grundlage, nämlich jene des Vorhandenseins des als feindlich zu Deklarierenden und zu Bekämpfenden, schließlich Opfer seiner selbst, wie wir anhand der gegenwärtigen Krise beobachten können. Das Patriarchat schafft sich nämlich sozusagen selbst ab, indem es die Lebensgrundlagen des menschlichen Daseins, ja jene des gesamten Planeten unwiederbringlich zu zerstören droht.
Es scheint jedenfalls der Zeitpunkt gekommen zu sein, an dem wir ein Bewusstsein über die Tatsache erlangen sollten, dass wir das per se krisenhafte patriarchal-utopische Projekt der Megamaschine (Werlhof) verlassen müssen, das die Transformation und damit Zerstörung des Gegebenen anstrebt, um es in eine angeblich »höhere« oder »bessere« maschinenhafte (oder tatsächlich zur Maschine gewordene) Anti-Natur zu verwandeln.
Wenn wir uns also die Frage nach der Möglichkeit von Alternativen stellen wollen und neue Wege abseits des kapitalistischen Patriarchats – womöglich in die Zukunft einer post-patriarchalen Zivilisation – suchen und finden wollen, so stoßen wir angesichts der weltumfassenden Megamaschine an unsere Grenzen: Kann es ein »Außerhalb« überhaupt noch geben? Wenn ja: Wie kann dieses »Außerhalb« wieder ent-deckt und schließlich auch tatsächlich gelebt werden? Kann auf vergifteten Böden eine Alternative wachsen und gedeihen? Aus Sicht der Kritischen Patriarchatstheorie kann eine Zeiten-Wende und die damit verbundene Ab-Kehr vom kapitalistischen Patriarchat nur im Zeichen eines völlig anderen, dem Patriarchat entgegengesetzten Paradigmas vollzogen werden, das ein radikales Umdenken, ein tiefes (Ein-)Fühlen und ein eigenmächtiges, verantwortungsvolles Handeln sowie spirituellen Aktivismus erfordern würde. Dies müssten wir angesichts der patriarchalen Kolonisierung und alchemistischen Zu-richtung des Denkens, Handelns und Fühlens erst wieder neu lernen. Es ginge schließlich darum, eine dem Leben und seinen mannigfaltigen Gaben zugewandte Alterna-Tiefe einzuüben, entsprechende Bewusstwerdungsprozesse zuzulassen und anzustoßen sowie eine mutige (Rück-)Besinnung auf unsere Wurzeln zu wagen.
Dr.in MMag.a Simone Wörer, geboren 1981 in Bruneck/Südtirol, lebt und arbeitet in Innsbruck. Studium der Politikwissenschaft (Schwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, politische Theorie und Ideengeschichte) und Erziehungswissenschaft (Schwerpunkte: Anthropologie, psychoanalytische Erziehungswissenschaft) an der Universität Innsbruck, Promotion im Dissertationsfach Politikwissenschaft bei Univ.-Prof. Dr. Claudia von Werlhof. Neben der Berufstätigkeit im Veranstaltungssektor als freie Forscherin und Vortragende tätig; Mitarbeiterin des „Forschungsinstituts für Patriarchatskritik und alternative Zivilisationen FIPAZ e. V.“ und der „Planetaren Bewegung für Mutter Erde – PBME“. Autorin von Publikationen in deutscher, englischer und italienischer Sprache. Forschungsschwerpunkte: Kritische Patriarchatstheorie, Theorien und Praktiken der Gabe, Alternativen der/zur Ökonomie und Politik, Wissenschaftskritik, soziale Bewegungen, Ökofeminismus.
Auswahl Literatur
Behmann, Mathias/Frick, Theresa/Scheiber, Ursula/Wörer, Simone (Hrsg.): Verantwortung – Anteilnahme – Dissidenz. Patriarchatskritik als Verteidigung des Lebendigen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Claudia von Werlhof. Peter Lang, Frankfurt a. M. 2013.
Genth, Renate: Über Maschinisierung und Mimesis. Erfindungsgeist und mimetische Begabung im Widerstreit und ihre Bedeutung für das Mensch-Maschine-Verhältnis. Peter Lang, Frankfurt a. M. 2002.
Göttner-Abendroth, Heide: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik. Drachen Verlag, Klein Jasedow 2008.
Hyde, Lewis: The Gift. Creativity and the Artist in the Modern World. Vintage, New York 2007.
Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1990.
Projektgruppe „Zivilisationspolitik“: Kann es eine „neue Erde“ geben? Zur „Kritischen Patriarchatstheorie“ und der Praxis einer postpatriarchalen Zivilisation. Peter Lang, Frankfurt a. M. 2011.
Vaughan, Genevieve: For-Giving. Schenken und Vergeben. Eine feministische Kritik des Tauschs. Ulrike Helmer, Königstein/Taunus 2008.
Werlhof, Claudia von: Der unerkannte Kern der Krise. Die Moderne als Er-Schöpfung der Welt. Arun Verlag, Uhlstädt-Kirchhasel 2012.
Wörer, Simone: Politik und Kultur der Gabe. Annäherung aus patriarchatskritischer Sicht. Peter Lang, Frankfurt a. M. 2012.
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Der neueste Versuch patriarchaler Naturbeherrschung
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