Prof. Dr. Gerald Hüther – Was bedeutet das: Lebendig zu sein?

Die Biologie an der Schwelle eines neuen Selbstverständnisses

Durch ein abgespaltenes Weltbild und Versuchsanordnungen, die den Körper von seiner Umwelt trennten, hat sich das biologische Weltbild der Determiniertheit und Unveränderlichkeit der Gene herauskristallisiert. Dies wird heute mehr und mehr infrage gestellt. Hüther, Biologe, plädiert für eine Biologie der Verbundenheit und dynamischen Entwicklung im gesamtkulturellen Kontext unter Einbezug alles Lebendigen.

In kaum einer anderen naturwissenschaftlichen Disziplin ist die Suche nach neuen Erkenntnissen und das daraus entwickelte Theoriegebäude so stark vom jeweiligen Zeitgeist und den Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft bestimmt worden wie in der Biologie. Biologische Erkenntnisse wurden gesucht und gefunden, um zu begründen, dass angeborene Triebe und Instinkte das Verhalten von Menschen bestimmen, dass es »bessere« und »schlechtere« Menschen gibt, dass der Kampf um das Dasein ein Naturgesetz ist und »minderwertige« Individuen oder gar »Rassen« deshalb keine Lebensberechtigung haben. Die Liste derartiger »biologischer« Begründungen zur Durchsetzung bestimmter Interessen ist lang und lässt sich problemlos noch bis in unsere Gegenwart fortsetzen: Frauen sind biologisch für die Aufzucht der Nachkommen zuständig. Männer sind notorisch untreu und an der maximalen Verbreitung der Gene interessiert, Intelligenz ist angeboren, deshalb brauchen wir ein dreigliedriges Schulsystem …

Wir haben Lebewesen als wissenschaftliche Objekte behandelt und untersucht und dabei übersehen, dass jedes Lebewesen kein Objekt ist, sondern ein Subjekt.

Solche und ähnliche, aus dem letzten Jahrhundert stammende Vorstellungen haben sich in allen Bereichen unserer Gesellschaft festgesetzt. Sie sind von anderen Disziplinen der sog. Life Sciences, von Psychologen, Pädagogen, Medizinern, sogar Wirtschaftswissenschaftlern und Philosophen übernommen und zur Grundlage der dort entwickelten Vorstellungen gemacht worden. Sie werden noch immer in Schulen und an Universitäten gelehrt und in populärwissenschaftlicher Form auf allen Ebenen medial sehr erfolgreich vermarktet. Sie liefern »biologische Begründungen« dafür, dass unsere gegenwärtige Welt so ist, wie sie ist, und Veränderungen der Art unseres Zusammenlebens und unserer Beziehungen zur Natur nur im Rahmen dessen möglich sind, das unsere »biologische Natur« zulässt. Sie stillen damit das Bedürfnis von Menschen, die ein besonderes Interesse daran haben, ihre jeweiligen Privilegien und Besitzstände zu sichern und ihre gewohnten Denkmuster und Verhaltensweisen nicht infrage stellen zu müssen. Solange solche Bedürfnisse bei der Mehrheit der Mitglieder einer Gemeinschaft vorherrschen, sind der Verbreitung anderer Vorstellungen von dem, was Leben ist, was alle Lebewesen brauchen, was sie miteinander verbindet, welche Potenziale in ihnen und nicht zuletzt in uns selbst angelegt sind und wie sie sich entfalten können, deutliche Grenzen gesetzt.

Dennoch ist die Ausbreitung dieser anderen Vorstellungen nicht mehr aufzuhalten. Maßgeblich dafür sind zwei voneinander unabhängige Entwicklungen, die seit der Jahrtausendwende zunehmend an Einfluss gewinnen. Das ist zum einen eine tiefgreifende Veränderung unseres eigenen Selbstverständnisses.

Am deutlichsten spürbar wird sie bei der nachwachsenden Generation junger Menschen, die angesichts der mit der Digitalisierung und Globalisierung einhergehender Veränderungen wesentlich besser als alle vorangegangenen Generationen gelernt hat, mit einer wachsenden Komplexität ihrer Lebenswelt und der damit einhergehenden Verunsicherung umzugehen. 

Die Auflösung vorhersagbarer Lebensentwürfe und der Zerfall autoritärer Strukturen zwingen diese jungen Menschen, die Verantwortung für ihre eigene Lebensgestaltung zunehmend selbst zu übernehmen. Sie brauchen die einfachen Begründungen der Biologie des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Für sie gibt es immer weniger, was es festzuhalten und zu verteidigen gilt. Sie sind global vernetzt und fühlen sich auf eine bisher noch nie dagewesene Weise miteinander verbunden. Und sie glauben nicht mehr an das, was in den Lehrbüchern steht. Vieles von dem, was ihren Eltern und Großeltern noch wichtig für ihr eigenes Selbstverständnis war, hat für diese junge Generation seine Bedeutung verloren.

Statt der vermuteten 300.000 Gene, die unsere Entwicklung steuern sollten, fand man lediglich etwa 30.000, und damit nicht viel mehr als bei den Fadenwürmern.

Die zweite, gleichermaßen tiefgreifende Veränderung vollzieht sich seit einigen Jahren auf dem Gebiet der Biologie selbst. Der dort zu verzeichnende enorme Erkenntniszuwachs hat dazu geführt, dass so manche alte Vorstellung, die noch gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts als unverrückbar galt, nun immer stärker infrage gestellt wird. Die mit großen Erwartungen im Rahmen des »Human Genome Project« vorangetriebene Entschlüsselung unserer Erbanlagen erwies sich als Flop. Statt der vermuteten 300.000 Gene, die unsere Entwicklung steuern sollten, fand man lediglich etwa 30.000, und damit nicht viel mehr als bei den Fadenwürmern.

Von unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen unterscheiden wir uns genetisch nur in 0,5 Prozent und seit es unsere Spezies gibt, hat sich an unseren genetischen Anlagen nichts Wesentliches mehr verändert.

Bestimmte Gensequenzen erwiesen sich auch nicht wie erwartet als eigenständige Einheiten, die in der Lage sind, die Leistungen einer Zelle oder gar die Herausbildung komplexer Merkmale zu steuern. Gene sind offenbar viel stärker miteinander vernetzt und in ihrer Expression voneinander abhängig als bisher angenommen. So genannte epigenetische Faktoren, also äußere Einflüsse, denen eine Zelle ausgesetzt ist, und innere Veränderungen, die sie in bestimmten Phasen durchläuft, sind offenbar entscheidend dafür, welche Gene in ihrem Zellkern abgeschrieben und welche blockiert werden. Zellen werden also nicht von ihren Genen gesteuert, sondern Zellen benutzen die in ihrem Zellkernen abgespeicherten genetischen Sequenzen, um sich in ihrer jeweiligen Lebenswelt zurechtzufinden, sich an bestimmte Erfordernisse anzupassen, bestimmte Leistungen zu erbringen und auf diese Weise selbst wieder Bedingungen zu schaffen, die andere Zellen anregen, bestimmte Gene in ihrem Zellkern ein- oder abzuschalten.

Die alten Vorstellungen, dass es immer einen bestimmten Verursacher gibt, der eine bestimmte Wirkung erzeugt, haben sich aber nicht nur auf der Ebene der Genregulation als unzutreffend erwiesen. Sie sind auch auf allen anderen Ebenen der Regulation lebender Systeme unbrauchbar geworden. Überall sind es nicht besondere Leistungen oder Fähigkeiten einzelner Komponenten, sondern es ist die Beziehung aller Bestandteile eines lebenden Systems, ihr Zusammenwirken, was darüber bestimmt, was aus einer Zelle, einem Organismus oder einem Ökosystem wird, wie es sich verändert und in welche Richtung es sich weiterentwickelt.

Damit beginnt sich innerhalb der biologischen Wissenschaften ein Denken auszubreiten, das sich nun allerdings sehr grundsätzlich von den Vorstellungen unterscheidet, die die alte Biologie aus den klassischen Naturwissenschaften übernommen hatte. Diese neue Biologie ist gegenwärtig dabei, genau das wieder in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu rücken, was schon immer im Mittelpunkt des Interesses von Menschen an den Phänomenen der lebendigen Welt gestanden hatte: die Eingebundenheit jedes einzelnen Lebewesens in das Gesamtgefüge von Beziehungen, die alle Lebensformen miteinander verbinden.

Wendezeit in der Biologie

Die Biologie ist als eine noch relativ junge Disziplin aus den klassischen Naturwissenschaften hervorgegangen. Ihr Gegenstand, das Leben in all seinen vielfältigen Formen, ist so komplex, dass die Biologen in vielen Gebieten noch immer beim Sammeln, Beschreiben und Sortieren sind. In manchen Bereichen sind sie bereits zum Zerlegen übergegangen und haben begonnen, die Eigenschaften der einzelnen Teile so genau wie möglich zu erfassen. Sie sind dabei bis auf die Ebene einzelner Moleküle vorgedrungen, haben den genetischen Code entschlüsselt und eine Unmenge von Signalen, Signalstoffen und deren Rezeptoren entdeckt, mit deren Hilfe Informationen innerhalb von Zellen, zwischen Zellen und Organen und schließlich auch zwischen Organismen ausgetauscht werden. Sie können zum Teil schon genau beschreiben, wie sich bestimmte Lebensformen im Lauf der Stammesgeschichte herausgebildet haben, wie die dafür erforderlichen Informationen an die Nachkommen weitergegeben und wie sie zur Herausformung bestimmter körperlicher Merkmale während der Entwicklung des einzelnen Individuums genutzt werden.

All dieses bisher über den Aufbau und die Funktion von lebenden Systemen durch biologische Forschungen generierte Wissen hat nicht nur sehr viel mit uns selbst zu tun, es betrifft uns auch selbst viel unmittelbarer als etwa unsere Erkenntnisse über physikalische Phänomene oder chemische Reaktionen. Dass die Newtonschen Gesetze nur dort gelten, wo es nicht zu groß und nicht zu klein ist, dass es gekrümmte Räume gibt, dass die Zeit nur relativ ist und Wellen und Teilchen ineinander übergehen können, ist für das Leben der meisten Menschen völlig belanglos. Deshalb haben sich diese neuen Betrachtungsweisen der Physiker auch nicht allzu sehr auf unser Leben und unser Selbstverständnis ausgewirkt.

Biologisches Wissen ist jedoch immer auch Wissen über uns selbst. Und aus der Biologie abgeleitete Vorstellungen sind immer auch Vorstellungen über unsere eigene Beschaffenheit und damit ein wesentlicher Bestandteil unseres eigenen Selbstverständnisses. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Theoriegebäude, das aus diesen Erkenntnissen entstanden ist und in das alle neuen Befunde aus dem Bereich biologischer Forschung eingeordnet werden, immer wieder kritisch im Hinblick auf seine Stimmigkeit und seine Tragfähigkeit überprüfen. Vieles spricht dafür, dass dieses alte, im vorigen Jahrhundert entstandene Gebäude inzwischen ziemlich wackelig geworden ist und von Grund auf neu ausgerichtet werden müsste.

Dafür, dass die Biologie des 21. Jahrhunderts einer solchen grundsätzlichen Neuausrichtung bedarf, gibt es gute Argumente:

  • Nach wie vor wird die Biologie als eine Naturwissenschaft betrachtet. Die Biologie ist aber die Wissenschaft vom Leben. Und zwischen dem, was in der Natur lebt und den Phänomenen der überlebenden Natur besteht ein himmelweiter Unterschied.
  • Man hat uns gelehrt, die Konkurrenz sei die Triebfeder der Evolution. In Wirklichkeit führt aber Konkurrenz nicht zur Weiterentwicklung, sondern lediglich zu einer fortschreitenden Spezialisierung. Evolution ist jedoch mehr als die Herausformung immer besser an bestimmte Gegebenheiten angepasste Spezialisten.
  • Wir haben die vielfältigen Lebensformen bis in ihre kleinsten Komponenten und Bausteine zerlegt, um herauszufinden, wie diese Lebewesen beschaffen sind. Mithilfe des so erlangten Wissens sind wir in der Lage, den Aufbau und die Funktionsweise von Zellen und Organismen so detailliert wie nie zuvor zu beschreiben. Aber alle diese an zunächst abgetöteten und dann in ihre Einzelteile zerlegten Lebewesen gewonnenen Erkenntnisse erweisen sich als unbrauchbar, um zu verstehen, was ein Lebewesen lebendig macht und am Leben erhält. 
  • Wir haben Lebewesen als wissenschaftliche Objekte behandelt und untersucht und dabei übersehen, dass jedes Lebewesen kein Objekt ist, sondern ein Subjekt, das, solange es lebt, etwas will und dieses Ziel, sei es auch nur die Sicherung seines eigenen Überlebens, seines Wachstums und seiner Fortpflanzung, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt. Diese Intentionalität alles Lebendigen ist ein Phänomen, das wir mithilfe unseres bisher angesammelten biologischen Wissens bis heute nicht erklären können.
  • Unsere mechanistischen Vorstellungen und unsere Unfähigkeit einander gegenseitig bedingende Wirkungsgefüge zu beschreiben, hat uns dazu verleitet, nach Programmen zu suchen, die die Entwicklung der verschiedenen Lebensformen steuern. Dadurch haben wir uns selbst den Blick verstellt, um zu verstehen, dass das wichtigste Merkmal alles Lebendigen seine Fähigkeit zur Selbstorganisation ist. Bis heute können sich nur wenige Menschen vorstellen, was Autopoiesis bedeutet. 
  • Weil wir so viel Wert auf die Herausarbeitung all dessen gelegt haben, was ein einzelnes Lebewesen oder eine einzelne Art ausmacht, wodurch sie sich von anderen Lebewesen und anderen Arten unterscheidet und was sie voneinander trennt, haben wir bisher weitgehend übersehen, was alle Lebensformen miteinander verbindet.
  • Indem wir uns diese Betrachtungsweisen der alten Biologie selbst zu eigen gemacht haben und sie bis heute in Schulen und Universitäten an unsere Kinder weitergeben, verhindern wir, dass endlich eine neue Generation von Menschen heranwächst, die sich in andere Lebewesen hineinversetzen, sich mit ihnen verbunden fühlen kann.

Angesichts dieser Überlegungen ist es an der Zeit, die Biologie als Wissenschaft vom Leben neu zu begründen, die alte Biologie des Zerlegens und voneinander Abgrenzens in eine neue Biologie der Verbundenheit allen Lebendigen und des miteinander Wachsens zu verwandeln.

Lebendig zu sein, heißt verbunden zu sein

Kein Lebewesen ist ohne andere Lebewesen überlebensfähig. Jedes Lebewesen lebt in einem von anderen Lebewesen gestalteten Lebensraum. Und indem es lebt, Ressourcen verbraucht und Wirkungen erzeugt, verändert es auch immer zwangsläufig den Lebensraum und die Lebensbedingungen anderer Lebewesen.

Das gilt für Bakterien ebenso wie für Einzeller, für jede Pflanze ebenso wie für jedes Tier, und das gilt in besonderer Weise für uns Menschen, auch wenn wir uns dessen meist kaum bewusst sind.

Alles, was lebt, hat sich deshalb auch niemals allein entwickelt, weder als einzelne Art eines Stammes noch als einzelnes Individuum einer Art. Evolution ist immer Koevolution. Jede eigene Weiterentwicklung ist nur möglich auf der Grundlage dessen, was bisher bereits entwickelt wurde und kann nur im Rahmen dessen stabilisiert werden, was der bisher erschlossene und von anderen Lebewesen mitgestaltete gemeinsame Lebensraum an Möglichkeiten bietet. Gleichzeitig zwingt jede neue Leistung, jede neue Verhaltensweise, zu der ein Lebewesen im Zuge einer solchen Weiterentwicklung fähig wird, alle anderen Lebewesen, mit denen es sich einen gemeinsamen Lebensraum teilt oder in deren Lebensraum es eindringt und damit zwangsläufig verändert, zu einer eigenen Weiterentwicklung. Auch dafür bieten die von uns Menschen im Zuge unserer eigenen Weiterentwicklung erzeugten Wirkungen, die von uns geschaffenen Veränderungen der Lebensräume und Lebensbedingungen anderer Lebewesen die eindringlichsten Beispiele. Diese eigenen Wirkungen auf andere Lebewesen – und auf andere Menschen, mit denen wir zusammenleben – werden wir uns allerdings meist erst dann bewusst, wenn wir diese Lebensräume und Lebensbedingungen so stark und so nachhaltig verändert haben, dass deren – und auch unser eigenes – Überleben gefährdet wird.

Dennoch, oder möglicherweise auch deshalb, ist der Mensch das einzige Lebewesen, das im Lauf seiner eigenen Entwicklung die Voraussetzungen dafür herausgebildet hat, sich dieser eigenen Wirkungen bewusst zu werden und damit auch Verantwortung für die von ihm ausgehenden Wirkungen zu übernehmen.

Wenn das bis heute nur in unzureichender Weise geschieht, so ist die Ursache dafür weniger ein kognitives Defizit als ein emotionales: Obwohl wir wissen, wie untrennbar wir mit allen anderen Lebewesen auf dieser Erde verbunden sind, fühlen wir diese Verbundenheit nicht, sie geht uns nicht unter die Haut, sie macht uns nicht betroffen, sie führt zu keiner Aktivierung der emotionalen Zentren in unseren Gehirnen. Und ohne diese emotionale Aktivierung kommt es auch zu keiner nachhaltigen Veränderung all jener im Verlauf unserer eigenen Entwicklung heraus geformten und stabilisierten, unsere Vorstellungen, inneren Einstellungen und damit unser Verhalten bestimmenden neuronalen Verschaltungsmuster in unserem Frontalhirn. Es ist nicht möglich, uns mit anderen Lebewesen verbunden zu fühlen, solange wir sie als Objekte, als hilfreiche und nutzbare Ressourcen für unser eigenes Leben oder als bedrohliche und störende Elemente bei unserer eigenen Lebensgestaltung betrachten.

Leichter unter die Haut geht die Erkenntnis, dass es uns ohne andere gar nicht gäbe. Kein Lebewesen existiert für sich allein. Jedes Tier, jede Pflanze, ja sogar jedes Bakterium verdankt seine Existenz dem Umstand, dass es Eltern gab, die es gezeugt und mit dem zum Überleben Notwendigen ausgestattet haben. Jedes Individuum einer Art ist also immer nur das letzte, heute lebende Glied einer langen Kette transgenerational miteinander verbundener Vorfahren. Die Mitglieder einer Art sind also alle miteinander verwandt, sind nur unterschiedlich gewordene Nachfahren der gleichen Vorfahren. Und weil diese am Anfang der Ahnenkette stehenden Vorfahren einer bestimmten Tier- oder Pflanzenart ja selbst auch nur unterschiedlich gewordene Nachfahren von gemeinsamen Vorfahren waren, sind auch die Mitglieder verschiedener Arten über diese gemeinsamen Vorfahren noch immer miteinander verbunden. Manche Merkmale teilen sie noch immer miteinander, andere Merkmale sind erst später entstanden, sind also spezifische Merkmale entweder der betreffenden Art, der betreffenden familiären Linie, also der Sippe oder aber des aus dieser Linie hervorgegangenen Individuums. Die Möglichkeit, dass als gegenwärtige Verkörperung dieser jeweiligen Entwicklungslinien genau dieses Individuum entsteht, das jedes einzelne Lebewesen heute ist, war also von Anfang an bereits in unseren ersten Vorfahren angelegt. Dieses Potenzial hat sich erst im Verlauf dieser langen Entwicklungsreihe in dieser Weise entfaltet. Bei uns so, bei anderen Lebewesen anders, je nachdem, welche Voraussetzungen und Möglichkeiten für die eigene Entwicklung innerhalb der jeweiligen Lebenswelt von den jeweiligen Vorfahren bereitgestellt, übernommen und genutzt werden konnten.

Die wichtigste Voraussetzung, die unsere Vorfahren für uns bereitgestellt haben, sind die von ihnen gemeinsam über Generationen hinweg geschaffenen und weitergegebenen Kulturleistungen. Die biologischen Voraussetzungen, also die genetischen Anlagen, die es ermöglichten, diese Kulturleistungen hervorzubringen, haben diese Vorfahren nicht selbst geschaffen. Die haben sie von ihren damals noch ziemlich tierischen Vorfahren übernommen. Dazu zählen vor allem jene genetischen Anlagen, die die Herausbildung eines enorm plastischen, zeitlebens umbaufähigen Gehirns ermöglichen. Die Anlagen für so ein Gehirn hatten unsere Vorfahren vor 100.000 Jahren auch schon, aber die Erfahrungen, die sie damals in ihren frühen Gemeinschaften machen konnten, waren eben andere Erfahrungen als die, die wir heute in unseren Familien, Kommunen, Ausbildungsstätten, Betrieben und Altersheimen machen. Deshalb haben wir heute auch ein anderes Gehirn. Deshalb denken, fühlen und handeln wir heute anders als sie, und deshalb entfalten wir heute unsere Potenziale anders als sie damals. Aber diese Potenziale konnten damals und können auch heute Menschen nur gemeinsam entfalten. Nicht in Ameisenstaaten-ähnlichen oder Herden-artigen oder Schwarm-ähnlichen, sondern in individualisierten Gemeinschaften, in denen es auf jedes einzelne Mitglied ankommt, wo jeder Einzelne die in ihm angelegten besonderen Begabungen entfalten und mit seinen besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung der in diesen Gemeinschaften verborgenen Potenziale beitragen kann.

Möglicherweise ist es das Geheimnis solcher individualisierten Potenzialentfaltungsgemeinschaften, dass sie eine innere Organisation entwickeln, die der des menschlichen Gehirns in vieler Hinsicht sehr nahe kommt. Tatsächlich funktionieren alle nicht durch Zwänge zusammengehaltenen, entwicklungsfähigen Gemeinschaften so ähnlich wie zeitlebens lernfähige Gehirne: Sie lernen durch Versuch und Irrtum, sie entwickeln flache, stark vernetzte Strukturen, sammeln Erfahrungen und passen ihre innere Organisation immer wieder neu an sich ändernde Rahmenbedingungen an. Durch sich selbst optimierende kommunikative Vernetzungen auf und zwischen den verschiedenen Organisationsebenen gelingt es ihnen, nicht nur möglichst rasch und effizient, sondern auch möglichst umsichtig und nachhaltig auf neue Herausforderungen zu reagieren. Und so, wie es Gehirne gibt, in denen die Kommunikation zwischen rechter und linker Hemisphäre und zwischen »oben« und »unten« nicht so recht gelingt, gibt es auch Gemeinschaften mit entsprechenden Blockaden, Abspaltungen, Zwangsstrukturen und eingefahrenen Bahnen. Solche Gemeinschaften mögen zwar noch für gewisse Zeit überleben. Lebendig, flexibel und vor allem kreativ und innovativ sind sie mit Sicherheit nicht.

Um ihre Potenziale entfalten und sich weiterentwickeln zu können, sind menschliche Gemeinschaften auf Begegnungen und Austausch mit anderen Gemeinschaften angewiesen.

Lebendig zu sein, heißt in ständiger Entwicklung zu sein

Ohne die Verschmelzung der in vorangehenden Differenzierungs- und Spezialisierungsprozessen von den Individuen einer Art jeweils gemachten unterschiedlichen Erfahrungen ist keine innovative Weiterentwicklung möglich. Wettbewerb allein führt lediglich zur fortschreitenden Ausprägung einzelner, in den Individuen einer Art bereits angelegter Merkmale. Neue, bisher nicht vorhandene, innovative Lösungen können nur durch wechselseitigen Austausch, durch Verschmelzung und Neukombination der mitgebrachten Anlagen gefunden werden. Die Triebfeder für Spezialisierung und verbesserte Nutzung vorhandener Ressourcen ist also der Wettbewerb. Aber die Grundlage für die Herausbildung neuartiger Potenziale und damit für wirkliche Weiterentwicklung ist der Austausch und die Verschmelzung bzw. Durchmischung der von den Individuen einer Art bisher gemachten und in ihrem Genom verankerten »Erfahrungen« in Form bestimmter DNA-Sequenzen sowie der für deren Expression verantwortlichen »epigenetischen Faktoren«.

Auch bei der Differenzierung einzelner Zellen im Verlauf der Ontogenese vielzelliger Organismen kommt es lediglich zu einer fortschreitenden Spezialisierung bzw. Differenzierung ganz bestimmter, in den jeweiligen Ursprungsformen, also in den Stammzellen des betreffenden Organismus bereits angelegter Möglichkeiten.

Stammzellen können dabei nur auf diejenigen Optionen zurückgreifen, über die sie aufgrund der Beschaffenheit ihres Genoms verfügen. Herausgebildet wurde dieses jeweilige Spektrum von möglichen Reaktionsmustern im Lauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung einer Art durch Mutation und Rekombination dieser Anlagen. Aber nicht durch Konkurrenz und Abtrennung voneinander, sondern als Ergebnis der Fehlerfreundlichkeit und Plastizität des Genoms sowie der nachfolgenden Durchmischung der durch diese Plastizität entstandenen Möglichkeiten, durch Austausch und Verschmelzung.

Die durch Konkurrenz forcierte Spezialisierung treibt einzelne Arten in ökologische Nischen. Komplexität und die Generierung eines reichhaltigen Spektrums von im Genom angelegten Potenzialen sind in solch speziellen Lebensräumen ohne Vorteil für das Überleben und die Reproduktion. Wer als Spezialist gut überleben kann, der braucht kein Alleskönner zu werden oder zu bleiben. Günstige Bedingungen für die Erweiterung des Spektrums der im Genom verankerten Optionen und für die Herausbildung komplexer Beziehungsmuster und Organisationsstrukturen innerhalb und zwischen Individuen herrschen also nicht dort, wo der Wettbewerb besonders stark ist. Sie wären vielmehr überall dort zu suchen, wo der Wettbewerb eine weniger bedeutsame Rolle für das Überleben und die Reproduktion der Individuen einer Art spielt. Das aber sind jene Phasen in der stammesgeschichtlichen Entwicklung einzelner Arten, in denen nicht Not, Elend, Mangel und Ressourcenverknappung herrschten, sondern Überfluss. Dort, in diesen Phasen des unangestrengten, stress- und konkurrenzfreien Zusammenlebens werden kreative und innovative Lösungen möglich, dort kommt es zur Herausbildung neuer Potenziale, dort wird die spielerische Weiterentwicklung und Neukombination bereits angelegter Reaktions- und Beziehungsmuster möglich. Nicht unter Druck, sondern im unbekümmerten freien Zusammenspiel erfindet das Leben sich immer wieder neu, bilden die sich entwickelnden Lebensformen zunehmend komplexere innere Strukturen und Interaktionsmuster aus und gehen immer engere und komplexere Wechselbeziehungen mit anderen Lebensformen ein. Nicht so sehr die Alten, bereits Erwachsenen, sondern die Jungen und Jüngsten, die noch viel offener und beziehungsfähiger sind. 

Je weiter die Entwicklung des Lebens aus unserer Erde in dieser Weise voranschritt, desto differenzierter und vom zuvor erreichten Entwicklungsstand abhängiger wurden die jeweils neu hinzukommenden Lebensformen. Aus den anfangs noch sehr einfachen Bauplänen für die schnell wachsenden und sich rasch vermehrenden Einzeller entstanden so immer kompliziertere genetische Muster für den Aufbau langsamer wachsender und sich weniger rasch vermehrender, dafür aber immer komplexer strukturierter Vielzeller. Aus den primitiven Nervensystemen der ersten Tiere entstand das komplizierte, lernfähige Gehirn des Menschen mit der Fähigkeit, selbst innere Muster in Form von Ideen und Vorstellungen zu erzeugen, diese an andere Menschen weiterzugeben und an nachfolgende Generationen zu überliefern. 

So wurde das ursprünglich noch von DNA-kodierten Mustern gelenkte, noch rein stoffliche Wachstum zu einem nicht stofflichen, durch die Verbreitung von inneren, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Vorstellungen gelenktes geistiges Wachstum. Die von den ersten Lebensformen entwickelte Fähigkeit, DNA-verankerte Erfahrungen zu übernehmen, zu erweitern und zur Lenkung des eigenen Wachstums und zur Aufrechterhaltung der eigenen inneren Ordnung zu nutzen, ist damit in eine neue Qualität umgeschlagen: Das bis dahin sichtbare und messbare Wachstum wurde zu einem immateriellen, nicht sichtbaren und nicht messbaren Wachstum. So ist das Leben – wenngleich noch immer an materielle Strukturen gebunden – zu einem Erkenntnis gewinnenden, geistigen Wachstumsprozess geworden. 

Jeder, der sich heute auf der Welt umschaut, wird schnell bemerken, dass dieser Prozess durchaus bisher nicht dort angekommen ist, wo er einmal ankommen könnte. »Der Übergang vom Affen zum Menschen sind wir«, mit dieser knappen Feststellung hat bereits Konrad Lorenz sehr bildhaft den gegenwärtigen Stand dieses Entwicklungsprozesses beschrieben: Wir beginnen zu ahnen, was aus uns werden könnte. Gleichzeitig schleppen wir aber noch immer eine Vielzahl unterschiedlicher, aus unserer Vergangenheit mitgebrachter und fest im Hirn verankerter Vorstellungen mit uns herum, die uns daran hindern, zu dem zu werden, was wir werden könnten. Wir wissen, dass wir die Probleme, die wir mit diesen alten, unser bisheriges Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Vorstellungen erzeugt haben, nur noch durch eine gemeinsame Anstrengung bewältigen können. Aber diese alten, von unseren jeweiligen Vorfahren entwickelten und über Generationen hinweg erfolgreich benutzten Welt-, Feind- und Menschenbilder haben sich tief in die Gehirne eingegraben und bleiben als Orientierung bietende Vorstellungen von Familien, Sippen oder Kulturgemeinschaften oft über Generationen hinweg so, wie sie einmal waren. Die einer Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Kenntnisse, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten wachsen jedoch ständig weiter. Das Wissen vermehrt sich, die Fähigkeiten werden erweitert, die Fertigkeiten vervollkommnet. Dieses Wachstum vollzieht sich in unterschiedlichen Gesellschaften in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausgangssituation – also dem bis dahin erreichten Wissensstand und den bis dahin bereits entwickelten technischen Möglichkeiten – unterschiedlich rasch und erstreckt sich – in Abhängigkeit von der jeweiligen Zielorientierung – auf ganz bestimmte Bereiche. Aber die Folgen des unvermeidlichen Erkenntniszuwachses und des damit einhergehenden technologischen Fortschritts sind immer und überall gleich: Das neu hinzugekommene Wissen und die neu erlangten Fähigkeiten passen über kurz oder lang nicht mehr zu den alten tradierten Weltbildern und den daraus abgeleiteten Orientierungen. Die alten Ideen müssen erweitert und die Ziele müssen neu definiert werden. Wenn ein Orientierung bietendes Ziel einigermaßen klar umschrieben ist und der betreffenden Gemeinschaft als deutliches inneres Bild vor Augen steht, führt der technische Fortschritt meist dazu, dass dieses Ziel über kurz oder lang auch wirklich erreicht wird. Dann freilich hat die betreffende Gemeinschaft ihre gemeinsame bisherige Orientierung verloren. Gleichzeitig verursacht aber der Einsatz neuer, effizienterer Technologien zwangsläufig eine Reihe weiterer, zunächst nicht beabsichtigter und auch nicht vorausgesehener Veränderungen der bisherigen Lebenswelt. Diese treten nun als neue Probleme zutage und müssen ebenfalls gelöst werden. Zu diesem Zweck werden neue Vorstellungen entwickelt, neue Ziele definiert und neue Visionen entworfen, die fortan ihrerseits als neue innere Orientierungen die weitere Entwicklung der betreffenden Gemeinschaft und der von ihr zum Erreichen dieser Ziele eingesetzten Mittel und Technologien bestimmen. Abermals kommt es jetzt zu erneuten, zunächst nicht bedachten oder nicht vorausgesehenen Veränderungen der bisherigen Lebenswelt und damit zu neuartigen Problemen, die ihrerseits gelöst werden müssen, und so weiter, bis die betreffende Gemeinschaft schließlich irgendwann nur noch mit der Behebung der von ihr selbst erzeugten Probleme befasst ist.

Je zahlreicher und verschiedenartiger diese Probleme werden, desto stärker wächst auch die Gefahr der Auflösung ihrer sozialen Strukturen aufgrund eines fortschreitenden Verlustes zusammenhaltender, ihre innere Organisation und Ordnung lenkender, Orientierung bietender innerer Bilder. Wenn dieser Zustand erreicht ist, kann die betreffende Gesellschaft dem drohenden Kollaps nur durch drei unterschiedliche Strategien begegnen: Sie kann erstens versuchen, ein ganz bestimmtes Problem aus der Vielzahl der tatsächlich vorhandenen Probleme herauszugreifen und in den Mittelpunkt aller gemeinsamen Anstrengungen der Mitglieder dieser Gemeinschaft zu stellen (Ablenkung durch Schaffung eines neuen Feindbildes oder einer neuen Vision, z. B. eines Fluges zum Mars). So wird eine neue Orientierung in Form einer gemeinsamen Vorstellung zur Lösung genau dieses Problems geschaffen. Mit dieser Strategie lässt sich die drohende Auflösung der Gesellschaft jedoch allenfalls eine Zeit lang aufhalten, aber nicht dauerhaft verhindern. Das Gleiche gilt auch für die zweite Strategie. Sie erschöpft sich in dem Versuch, zu expandieren, also die Lösung der selbst erzeugten Probleme auf eine immer größer werdende Gemeinschaft zu verteilen und die dort noch vorhandenen unterschiedlichen Ressourcen zur Lösung oder Abschwächung ebendieser Probleme zu nutzen (Globalisierung). 

Die dritte Strategie ist die schwierigste, aber dafür die einzige, die Stabilität, Wachstum und Weiterentwicklung dauerhaft ermöglicht. Sie ist aber auch die banalste: Er ist der Versuch, eine gemeinsame, für alle Menschen und alle Gemeinschaften unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster Entwicklungsstandards gleichermaßen gültige und attraktive Vision zu schaffen, ein sich global verbreitendes und im Gehirn aller Menschen verankertes inneres Bild zu erzeugen. Ein Bild, das zum Ausdruck bringt, worauf es im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung der Beziehungen zur äußeren Welt wirklich ankommt: auf Vertrauen, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein. Erstmals im Verlauf der Menschheitsgeschichte gewinnt eine solche gemeinsame Vision schemenhafte Konturen. Erstmals wird uns bewusst, dass wir alle im gleichen Boot sitzen und wir in einer Welt begrenzter Ressourcen nicht ständig mehr Energie und Rohstoffe verbrauchen können, dass unser fossiles Zeitalter endet und in Zukunft nur noch eines wachsen kann: die Intensität unserer Beziehungen, das Gefühl von Verantwortung, das Ausmaß an Selbsterkenntnis und das Verständnis unserer eigenen Eingebundenheit in den Prozess der Evolution des Lebendigen, der bis hierher auf unserem Planeten stattgefunden und uns hervorgebracht hat.

Prof. Dr. Gerald Hüther

Gerald Hüther, Dr. rer. nat. Dr. med. habil. ist Professor für Neurobiologie und leitet die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Wissenschaftlich befasst er sich mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, mit den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und populärwissenschaftlicher Darstellungen (Sachbuchautor).
Mehr erfahren Sie unter www.gerald-huether.de.

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