Saskia John

Saskia John – »Erste-Hilfe-Koffer« bei Angst und Panik

Fünf wirksame Tipps zur Sofortmaßnahme

Ängste kennt ein jeder von uns. Ob Existenzangst, Verlustangst, Leistungsangst oder die Angst vor Ablehnung, die meisten Menschen machen in ihrem Leben mit diesen oder ähnlichen Ängsten Bekanntschaft. Gut, wenn man in einer solchen Situation weiß, wo die Ängste herkommen, und wenn man die geeigneten Werkzeuge und Methoden an der Hand hat, um diese Ängste aufzulösen. Saskia John gibt in diesem Artikel dem Leser konkrete Tipps an die Hand, die genau dann helfen können, wenn man in eine Angstspirale gerät.

Herzrasen, Atemnot, Übelkeit: Die Angst hat viele Gesichter. Mehr als zwölf Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einer Angststörung. Frauen sind deutlich häufiger davon betroffen als Männer. Oft sind es Krisen und Konflikte im Außen, die unsere verdrängten Ängste triggern. Hinzu kommt, dass unsere Gegenwart von Unsicherheit und Komplexität geprägt ist. Dadurch drängen persönliche und kollektive Existenzängste an die Oberfläche, deren Ursprung wir uns häufig nicht bewusst sind. Infolgedessen ist das Leben im Hier und Jetzt für viele Menschen anstrengend und belastend geworden.

In meiner Praxis erlebe ich viele Menschen, die mit ihren Ängsten und Sorgen kämpfen – und teilweise von ihnen komplett vereinnahmt werden. Das reicht von der Angst, allein zu sein oder nicht mehr genug Geld zu haben beziehungsweise sozial abzusteigen, bis zum Gespräch mit dem Chef oder der Chefin, das Panik auslösen kann. Grundsätzlich ist es ratsam, die Ursache der Angst aufzulösen und nicht nur die Angst an der Oberfläche zu »bekämpfen«. Hier kann es sinnvoll sein, sich professionelle Hilfe zu holen.

Was du konkret tun kannst: fünf Erste-Hilfe-Maßnahmen

Kurzfristig kannst du fünf konkrete Dinge tun, wenn du in eine Angstspirale gerätst. Sie helfen dir, dich wieder zu beruhigen und zu entspannen.

1.Gedanken-Stopp: Unterbrich das Gedankenkarussell und stabilisiere dich. Angst beginnt immer mit Gedanken. Wenn deine Gedanken anfangen, sich um die Angst zu drehen, und du bemerkst, wie dein Herz rast oder das Atmen dir schwerfällt, dann stell dich ihnen bewusst gegenüber. Sag laut und deutlich »Stopp«. Im Anschluss lenkst du deine Gedanken bewusst auf ein anderes Thema – auf etwas, das dir guttut, etwas, das dich entspannen und durchatmen lässt. Wenn die Gedanken wieder zu kreisen beginnen, wiederhole das »Stopp« mit noch mehr Entschlossenheit und Klarheit. Der bewusste Gedankenwechsel stabilisiert dich und verhindert, dass du immer weiter in die Angstspirale abrutschst und in Panik gerätst.

2.Realitätscheck – so holst du dich in die Gegenwart zurück:
Nachdem du deinen negativen Gedankenstrom unterbrochen hast, beginnst du, deine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Schaue dich im Raum um, in dem du dich befindest. Sage laut oder leise deinen Namen, wie alt du bist und wo du wohnst. Benenne alles, was du siehst. Beispielsweise, an der Wand hängt ein Bild mit einem Baum, neben dem Nachttisch steht eine Leselampe, die Vorhänge sind dunkelblau.

Auf diese Art und Weise nimmst du die Realität um dich herum bewusst wahr. Das ist hilfreich, wenn die Angst die Wirklichkeit ausblendet und eine Gefahr signalisiert, die in den allermeisten Fällen real nicht vorhanden ist, sondern nur in deinem Kopf existiert: in Gedanken, die sich auf die Vergangenheit oder Zukunft beziehen. Indem du deine Umgebung bewusst wahrnimmst, bringst du dein Bewusstsein in die Gegenwart und die Energie in deinen Körper zurück. Du kommst wieder auf dem Boden der Tatsachen an.

3.Erde dich mit der Gehmeditation: Stelle dich aufrecht hin und fühle in deinen Körper hinein. Lenke die Aufmerksamkeit auf deine Füße. Beginne, den Boden unter deinen Füßen und den Zwischenraum zwischen Fußsohle und Boden zu fühlen. Sobald du dir dessen bewusst bist, beginne langsam zu gehen. Spüre beim achtsamen Gehen weiterhin den Boden unter deinen Füßen. Fühle die Muskeln in deinem Körper, die sich beim Gehen bewegen. Bemerke, wie sich dein Gleichgewicht mit jedem Millimeter verlagert. Laufe bewusst und sehr langsam, wie in Zeitlupe. Spüre, in welcher Körperhaltung du läufst, fühle, wie der Boden dir Halt gibt, wie er dich trägt, wie er dir einen sicheren Stand ermöglicht. Ein Beispiel dafür findest du im Video »Gehmediation« auf meinem YouTube-Kanal.

4.Mit der Angst reden: ein Kissen als Symbol. Wenn die Angst dich weiter fest im Griff hat und du nicht mehr klar denken kannst, nimmst du ein Kissen in die Hand. Das Kissen steht für deine Angst. Du erinnerst dich, dass du erwachsen bist, schaust auf die Angst und redest mit dem Kissen wie mit einem kleinen Kind. Warum? Weil wir uns in der Angst meistens sehr klein fühlen. Du sprichst sozusagen mit deinem Inneren Kind und nimmst es in den Arm. Du kannst zu ihm sagen: »Ich sehe und fühle, dass du große Angst hast. Ich bin da.« Diese einfachen Sätze wiederholst du immer wieder wie ein Mantra. »Ich sehe deine Angst. Ich fühle deine Angst. Ich bin da.« In dem Moment, in dem du dich der Angst zuwendest und in einen gefühlten Kontakt mit ihr kommst, baut sie sich wieder ab und entgleist nicht weiter. Auf meinem YouTube-Kanal habe ich den Vorgang erklärt.

Kombiniere diese Übung – je nach Notwendigkeit – mit dem Gedanken-Stopp, dem Realitätscheck und der Gehmeditation.

Alternative: Wenn du das Kissen nicht in die Hand nehmen möchtest, legst du es zwei bis drei Meter vor dich auf den Boden oder auf einen Stuhl (je nach Gefühl auch noch weiter weg). So schaffst du mehr Raum zwischen dir und der Angst und kannst aus einer sicheren Distanz mit der Angst reden. Verwende die gleichen beruhigenden Sätze wie oben. Dabei kannst du, wenn die Angst sehr stark ist, weiterhin laufen. Laufe bewusst und langsam um das Kissen herum und rede weiter wie mit einem ängstlichen Kind. Welche der beiden Möglichkeiten hilfreicher für dich ist, gilt es auszuprobieren.

5.Bewusstes Atmen beruhigt den Geist.
Der Atem stellt eine wichtige Verbindung zwischen Körper und Geist dar. Er kann dazu beitragen, den Geist zu beruhigen und die Sinne zu schärfen. Das bewusste Atmen hilft, sich auf den gegenwärtigen Moment zu fokussieren, die Emotionen zu regulieren und sich der konditionierten Gedanken und Gefühle bewusst zu werden.

So kannst du vorgehen: Konzentriere dich auf deine Atmung. Beginne damit, tief durch die Nase einzuatmen, und zähle dabei bis 4. Halte den Atem für 2 Sekunden an und atme dann langsam durch den Mund aus, während du bis 6 zählst. Versuche, deine Atmung tief und langsam zu halten, und konzentriere dich darauf, wie der Atem in deine Lungen strömt und wie er beim Ausatmen deinen Körper verlässt. Wenn du in Gedanken abdriftest, bringe deine Aufmerksamkeit sanft zurück zu deiner Atmung. Fokussiere dich auf den Moment und bleibe im Hier und Jetzt.

Alternative: Atme langsam und tief ein und aus, während du dabei die Atemwelle die ganze Zeit aufmerksam beobachtest. Bewusstes Atmen kann gut mit der Gehmeditation verbunden werden.

Diese Maßnahmen helfen dir, deine erwachsene Klarheit und innere Ruhe wiederzugewinnen, dich mit deiner Angst zu verbinden und sie zu integrieren, anstatt vor ihr wegzulaufen.

Welchen Satz du auf keinen Fall sagen solltest

Es gibt einen Satz, den du in der Angst weder zu dir selbst noch zu jemand anderem sagen solltest: »Du brauchst (Ich brauche) doch keine Angst zu haben!« Diese Aussage ist immer kontraproduktiv – egal, ob du mit deinem Inneren Kind sprichst oder mit einer anderen Person.

Warum ist das so?

  • Die Angst ist bereits da. Etwas »nicht zu brauchen«, kommt einem völligen Missverständnis gleich.
  • Dein Unterbewusstsein versteht keine Verneinung.
  • In der Verneinung der Angst ist die Aufmerksamkeit auf die Angst gerichtet, was sie nur verstärkt, statt abbaut.
  • Eine Erwartungshaltung an eine Person zu haben, die in einer emotionalen Notsituation ist, macht keinen Sinn! Die Person ist sowohl emotional als auch mit den physischen Folgen der Angst hochgradig überfordert. Jede weitere Aufforderung und Erwartung macht es für den Betroffenen nur noch schlimmer.

Eine Erwartungshaltung an eine Person zu haben, die in einer emotionalen Notsituation ist, macht keinen Sinn!

Sagen Eltern diesen Satz in guter Absicht zu ihrem ängstlichen Kind, gerät es in einen zusätzlichen inneren Konflikt. Es glaubt den Erwachsenen, dass es keinen Grund für die Angst gibt. Diese Aussage irritiert das Kind jedoch, denn es hat ja Angst. Um dem Erwachsenen gerecht zu werden, versucht es, die Angst zu unterdrücken. Da es in sich selbst jedoch keinen »Ausschalter« hat und der Erwachsene dem Kind keine »Bedienungsanleitung« gibt, kann das Kind die Angst nur verdrängen.

Doch verdrängte Angst ist nicht weg, sondern lediglich in das Unterbewusstsein verschoben.

Doch verdrängte Angst ist nicht weg, sondern lediglich in das Unterbewusstsein verschoben. Dort verursacht sie, ohne dass es dem Kind bewusst ist, weiterhin Adrenalin-Schübe und Spannungen im gesamten Körper. Das kann zu langfristigen Auswirkungen auf das Verhalten, die Beziehungen und die psychische sowie physische Gesundheit des Kindes führen.

Außerdem wischt die Aussage »Du brauchst doch keine Angst haben!« die Gefühle des Kindes energetisch zur Seite. Die Aussage wird bei dem Kind eher wie ein Vorwurf (statt als Hilfe) ankommen, wodurch sie nicht kleiner wird. Dadurch entsteht weiterer Druck im Kind, weil es in seinem kindlichen Bewusstseinszustand den Satz nur persönlich nehmen kann, als würde etwas mit ihm nicht stimmen. Das Kind kann sich so in seinen Gefühlen weder verstanden noch ernst genommen fühlen. Das führt ebenfalls dazu, dass es versuchen wird, die eigenen Gefühle herunterzuspielen, weil der Erwachsene aus seiner Perspektive keinen Grund dafür sieht.

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Doch kein Kind hat grundlos Angst. Es gibt immer einen Grund, auch dann, wenn das Kind diesen (noch) nicht in Worte fassen oder differenzieren kann und der Erwachsene ihn aufgrund eigener blinder Flecken, die in seiner Kindheit entstanden sind, nicht sehen kann.

Es ist die Aufgabe von uns Erwachsenen zu erkennen, wenn ein Kind Angst hat. Hilfreich für das Kind ist es, ihm auf Augenhöhe zu begegnen und mit ihm in seiner Angst zu sein. Sich auf das ängstliche Kind einzustimmen, sein Nähe- und Schutzbedürfnis zu erfüllen und es, je nach Alter und Bedürfnis, in den Arm oder auf den Schoß zu nehmen. Ihm in warmer, verständnisvoller Zuwendung Sicherheit und Geborgenheit zu geben und mit dem Kind so lange präsent zu sein, bis sich das kindliche Nervensystem wieder beruhigt und die Angst sich aufgelöst hat.

Normalerweise sucht ein Kind, das Angst hat, die schützende Nähe eines Erwachsenen, um sein Sicherheitsbedürfnis zu erfüllen. Doch wenn der Erwachsene die Angst des Kindes herunterspielt, wegredet, sich lustig macht, es wegen der Angst beschämt oder genervt reagiert, dann ist dieser Schutzraum für das Kind nicht gegeben. Im Gegenteil. Das dominante Verhalten des Erwachsenen macht dem Kind zusätzlich Angst – und diese wiederum blockiert das Kind, seine Nähe zu suchen. Es zieht sich dann in seiner Angst zurück und wird Strategien finden, diese allein zu managen und zu verdrängen. Mit all den Konsequenzen, die sich daraus für das gesamte Leben des Kindes ergeben.

Meditation – die Angst transformieren am Beispiel der Verlustangst

Ist die akute Angst abgeklungen, kannst du als Erwachsener versuchen, deine Angst mittels Meditation zu transformieren. Wenn die Angst allerdings überwältigend stark ist, ist es sehr ratsam, sich für den folgenden Prozess professionelle Hilfe und Unterstützung zu suchen.

Meditation: Finde einen ruhigen Ort, an dem du dich entspannen kannst. Setze dich bequem und entspannt hin und nimm einige bewusste Atemzüge (siehe oben Punkt 5). Sobald du deine Aufmerksamkeit nach innen gerichtet hast, stellst du dir die Person bildlich vor, um die sich deine Verlustangst dreht, und schaust ihr in die Augen. Wenn du die Angst fühlst, mach dir bewusst, dass es allein deine Angst ist. Die andere Person löst das Gefühl nur in dir aus. Das gilt übrigens auch für andere Emotionen wie Trauer, Wut und Scham. Du findest die Meditation auch auf YouTube: https://youtu.be/n2u6bGFLXUY.

Als Metapher könnte es hilfreich sein, dir die Angst als dein Inneres Kind vorzustellen, das bei der anderen Person steht. Mit deinem Bewusstsein holst du die Angst zu dir zurück, statt sie weiterhin auf die andere Person zu richten. Wenn du die Angst (dein Inneres Kind) gut bei dir fühlen kannst und die vor dir stehende Person davon gefühlt befreit ist, kannst du die Person innerlich langsam gehen lassen. Es entspannt die Beziehung, wenn deine Angst nicht mehr der anderen Person zugeordnet ist.

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In einem weiteren Schritt stellst du dein Inneres Kind (die Angst) dorthin, wo vorher die andere Person stand, und schaust liebevoll und mitfühlend auf es – am besten in seine Augen. Wie reagiert das Kind auf deine liebevolle Zuwendung? Schaut es dich an? Und wenn ja, mit welchem Augen- und Gesichtsausdruck schaut es dich an? Oder schlägt es die Augen nieder und schaut zu Boden? Oder durch dich durch? Oder an dir vorbei?

Das Feld der Angst möchte gesehen werden, braucht unser Herz, unsere Liebe. Unser verantwortungsbewusstes Handeln.

Wenn du als Erwachsener im Kontakt mit der Angst bist und dein Inneres Kind sich von dir gesehen fühlt, wird es auf dich reagieren. Und du wirst die Antwort deutlich verstehen. In dem Moment geschieht Wandlung, Heilung und Integration. Nach einer solchen Erfahrung ist nichts mehr, wie es vorher war. Das Feld der Angst möchte gesehen werden, braucht unser Herz, unsere Liebe. Unser verantwortungsbewusstes Handeln.

Diese innere Arbeit kannst du immer machen, wenn Angst in dir auftaucht. 

Doch woher kommen unsere Ängste eigentlich?

Persönliche und kollektive Angst

Eines vorneweg: In uns kann nur auftauchen, was schon da ist, wo es eine Resonanz in uns gibt. Deshalb frage dich: Gehört die Angst, die du spürst, wirklich in den jetzigen Augenblick oder gehört sie in deine Vergangenheit?

Viele unserer Ängste sind in unserer Kindheit oder Jugend entstanden. Wir haben sie verdrängt, als wir emotional überfordert waren. Oder wir haben die unverarbeiteten Gefühle unserer Eltern oder Großeltern unbewusst übernommen.

Wenn du feststellst, dass deine Angst nicht zum gegenwärtigen Moment passt, dann gehört sie per se in deine Vergangenheit – zu einem Zeitpunkt, wo die Angst ursprünglich entstanden ist.

Eine Person, die geerdet, innerlich ruhig und rational klar ist, handelt anders als eine Person, die Angst hat.

Wenn unverarbeitete Angst aus der Kindheit aufkommt, kann sie in uns Erwachsenen eine sehr intensive Reaktion auslösen. Sie kann uns überfluten und so sehr destabilisieren, dass wir uns klein und eng, haltlos, sprachlos, wie eingefroren und letztendlich handlungsunfähig fühlen. In solchen Momenten können wir die Realität nicht mehr klar sehen. Auch wenn im »Jetzt« keine lebensbedrohliche Situation vorhanden ist, können wir uns dennoch existenziell bedroht fühlen. Unser logisches Denken ist dann stark eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden. Wir können die Situation nicht mehr richtig einschätzen. Eine Person, die geerdet, innerlich ruhig und rational klar ist, handelt anders als eine Person, die Angst hat.

Existenzangst – die Möhre in der Erde

Existenzangst ist eine sehr starke Energie, die einen Erwachsenen wie ein Magnet in einen Strudel hineinsaugen und völlig vereinnahmen, ja sogar lahmlegen kann. Das ist gut bei Kindern spürbar, die Angst haben und sich an den Erwachsenen klammern. Das Kind sucht in seiner Angst Kontakt, Halt und Sicherheit. Wenn es das bekommt, kann sich das kindliche Nervensystem wieder entspannen. Sind der Schutz und die Geborgenheit nicht gegeben, weil der Erwachsene emotional nicht präsent ist, fühlt sich das Kind ungeschützt und in Lebensgefahr. Es gerät in eine existenzielle Angst, die ein kleines Kind nicht allein verarbeiten kann. Daher verdrängt es (unbewusst) die Angst oder beamt sich innerlich weg, um sich zu stabilisieren und mit der Situation zurechtzukommen. In der Folge bedeutet das: Die Angst ist dem Kind und späteren Erwachsenen nicht mehr bewusst.

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Existenzangst entsteht also oft, wenn die kindlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Schutz und Sicherheit nicht ausreichend erfüllt worden sind. Die Verdrängung der Existenzangst geschieht schon seit Generationen. Das bedeutet, dass wir als Menschheit ein riesiges Reservoir an verdrängter existenzieller Angst in unserem persönlichen und kollektiven Unterbewusstsein haben. Sie steckt wie unsichtbar in unserem Seelen – und Menschheitsfeld. Ich vergleiche sie in meiner Arbeit gern mit einer Möhre, die sich unter der Erdoberfläche befindet. An der Oberfläche taucht sie – wie das grüne Möhrenkraut – in verschiedenen Varianten auf: beispielsweise Angst vor dem Tod, Angst vor Verlust, Angst vor Krankheit, Angst vor Armut, Angst vor Strafe, Angst vor Einsamkeit, Angst vor Enge, Angst, zu kurz zu kommen, Angst vor Geldknappheit oder Angst, den Job zu verlieren.

Meiner persönlichen Erfahrung nach und in der Arbeit mit Klienten zeigt sich, dass die an der Oberfläche scheinbar so verschiedenen Ängste alle in der Existenzangst wurzeln – also in der Möhre, die unsichtbar im Boden steckt –, die in unserer frühen Kindheit verdrängt wurde.

Das macht es nicht leichter, sie zu meistern. Aber mit diesem Wissen können wir uns unserer Angst im Inneren zuwenden, anstatt die Ursachen und die Lösung im Außen zu suchen. Wir haben die Möglichkeit, liebevoll mit uns selbst umzugehen und die Angst in unsere Persönlichkeit zu integrieren.

Persönliche Existenzangst: Entscheidungen treffen, die uns schaden

Wenn kindliche Angst durch äußere Umstände im Erwachsenen getriggert wird, heftet sie sich durch ihre hohe magnetische Kraft an alles und jeden. Sie lässt nicht mehr von allein los. Selbst dann nicht, wenn es der Person mit dem, woran sie festhält, nicht gut geht. Ein Beispiel sind Paarbeziehungen, in denen Menschen vergeblich versuchen, sich aus einer gewalttätigen Verbindung zu trennen. Aus Angst vor dem Unbekannten, aus Angst, wieder allein zu sein, halten sie lieber am (schmerzhaften) Bekannten fest. Die Existenzangst hat sie fest im Griff. Video auf YouTube: Persönliche und kollektive Angst – ihre Entstehung und Transformation

Ein anderer Fall ist es, wenn wir den Kontakt mit Menschen, die intensive, schmerzhafte Gefühle in uns auslösen, vermeiden und so der Angst aus dem Weg gehen. Das ist keine nachhaltige Lösung, weil wir die Angst auf diese Weise nicht transformieren. Stattdessen bleibe ich an die Person, die ich von mir wegschiebe, weiterhin gebunden, mit all den Konsequenzen, die das für mein weiteres Leben und alle weiteren Beziehungen hat.

Gesellschaftliche Existenzangst: Alte Muster und Vorurteile

Auch als Gesellschaft halten wir durch tief sitzende und unbewusste Existenzängste an überlebten und verkrusteten Strukturen fest. Deshalb ist es schwierig, selbst Dinge, die gesellschaftlich als ungesund und überholt erkannt wurden, zu verändern. Beispielsweise halten wir seit Jahren an einem veralteten Bildungssystem fest, das sich nicht an den Bedürfnissen von Kindern orientiert. Unser Gesundheits- und Pflegesystem leidet seit Jahrzehnten unter zu wenig Personal, dennoch werden immer weiter Stellen abgebaut und die wenigen Fachkräfte werden schlecht bezahlt. Ein weiteres Beispiel ist die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Aufrechterhaltung von traditionellen Geschlechterrollen, die Männer wie Frauen auf bestimmte Verhaltensweisen festlegen.

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Auch Rassismus und Diskriminierung wurzeln in tief sitzender Angst, die auf Vorurteilen beruhen, obwohl es längst einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass sie falsch sind. Die wirtschaftliche Ungleichheit (Einkommen, Vermögen) sowie das Festhalten am Ausbeuten von Ressourcen der Erde basieren ebenfalls auf tiefen Ängsten. Der fehlende Umwelt- und Klimaschutz ist ein weiterer Ausdruck dessen. Die über Jahrzehnte wiederholte Aussage, dass für notwendige Veränderungen keine Gelder vorhanden wären oder dass große Veränderungen Zeit bräuchten, kann spätestens seit Corona nicht mehr ernst genommen werden. Der Lockdown hat gezeigt, was in extrem kurzer Zeit weltweit möglich ist. Ob er sinnvoll war, ist eine andere Frage.

Wir können auflodernde Existenzängste – egal, ob es um persönliche oder kollektive Ängste geht – nicht einfach loslassen oder wegdrücken. Sie gehören derzeit zu bestimmten inneren Entwicklungsstufen unseres Menschseins und unserer Gesellschaft dazu. Aber wir können die Angst wandeln – als Individuum und als Gemeinschaft. Denn Angst ist Energie und Energie ist veränderbar.

Durch Selbstliebe können wir unsere zu Eis gefrorene Angst auftauen.

Durch Selbstliebe können wir unsere zu Eis gefrorene Angst auftauen. Es entsteht wieder klares, fließendes Wasser. Die Herausforderungen im Inneren und im Außen sind eine große Chance, die einst verdrängten, aber immer stärker ins Bewusstsein drängenden Ängste zu transformieren und zu integrieren.

Saskia John

Saskia John ist Therapeutin und Bewusstseinsforscherin und hat sich auf Traumaheilung und Innere-Kind-Arbeit spezialisiert. Als Heilpraktikerin und Autorin unterstützt sie seit mehr als 20 Jahren in ihrer Praxis Menschen auf ihrem persönlichen Weg zu Heilung und spirituellem Wachstum. In ihrer Heilarbeit geht es immer darum, dass die drei Ebenen Körper, Geist und Seele in Einklang kommen und eine Sprache sprechen.

saskiajohn.de

YouTube: Saskia John https://www.youtube.com/@SaskiaJohn

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