Im Gespräch mit einer Frau aus einer matrilinearen Gesellschaft
Illin Masar gehört zum indigenen Volk der Khasi – abgeleitet vom Eigennamen Ki Khasi, »Die von einer Frau Geborenen« –, die eine matrilineare Gesellschaft bilden. In dieser sind der Clan, die eigenen Verwandten und die Beziehungen untereinander elementar. Im folgenden Gespräch gehen wir den Fragen nach, welche Aufgaben bestimmte Familienmitglieder innehaben, wie sich das Verhältnis von Frau und Mann gestaltet und wie sich die Bräuche und Traditionen im 21. Jahrhundert wandeln.
matriarchale Gesellschaften
Die Khasi
Tattva Viveka: Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, dieses Interview mit uns zu führen. Wir sind schon sehr gespannt.
Illin Masar: Es ist mir eine Freude, dass ich dazu beitragen kann.
TV: Zuerst möchten wir dich bitten, uns ein wenig über dich zu erzählen: Was ist dein Familienstand und wie alt bist du? In welchem Beruf bist du tätig? Hast du Kinder?
Illin: Ich heiße Illin Masar, bin verwitwet und 58 Jahre alt. Ich habe fünf Kinder, zwei Töchter und drei Söhne. Mein Mann ist vor 20 Jahren verstorben. Seitdem bin ich eine alleinerziehende Mutter und lebe in meinem eigenen Haus. Früher arbeitete ich als Auftragnehmerin der Regierung. Eine meiner Aufgaben war es, Häuser zu reparieren. Aber seit fünf Jahren bin ich arbeitslos. Mein jüngster Sohn arbeitet und versorgt mich im Moment. Meine anderen vier Kinder sind bereits verheiratet, aber er, der Jüngste, ist noch ledig. Er arbeitet im autonomen Bezirksrat von Khasi Hills und hat einen Master-Abschluss in Computeranwendungen gemacht.
TV: Wohnst du in der Nähe deiner Familienmitglieder?
Illin: Ja, wir leben auf einem großen Grundstück und direkt neben mir wohnt meine Schwester. Ich bin die Älteste. Irgendwann wurde das Land geteilt, und jede hat ihr eigenes Grundstück erhalten, also ich selbst, meine mittlere Schwester und meine jüngste Schwester. Wir sind zu dritt hier. Meine Cousins und Cousinen wohnen ebenfalls in der Nähe.
TV: Du bist also nicht allein.
Illin: Nein! Ich bin nicht allein, denn auch meine Cousins und Cousinen, die Töchter und Söhne meiner Tante, der älteren Schwester meiner Mutter, leben in meiner Nähe. Wir sind eine große Familie.
TV: Du lebst in einer matrilinearen Gesellschaft, richtig?
Illin: Matrilinear, ja! Meistens wird es falsch verstanden. Sie ist nicht matriarchal, sondern matrilinear.
TV: Kannst du beschreiben, wie der Clan organisiert ist? Wer ist wofür zuständig?
Illin: Du meinst, wie es in den alten Tagen war, oder? Der Onkel ist das Haupt der Familie. Er ist nicht nur das Haupt des Clans der Mutter, sondern auch im Haus seiner Frau, denn er ist der Vater. Aber leider habe ich keinen Onkel mehr. Welche Aufgaben anstehen und welche Entscheidungen getroffen werden sollen, dies alles besprechen wir untereinander mit unseren Brüdern und Schwestern. Meine Geschwister sind verheiratet, und bevor meine Mutter starb, musste sie uns ihr Land geben. Also kümmern wir uns um unser Land, und die jüngste Schwester hat das meiste geerbt.
TV: Die jüngste Tochter ist die Khado?
Illin: Genau. Nach dem Brauch der Khasi ist die jüngste Tochter, die bei uns Khado genannt wird, die Haupterbin des Landes und des Hauses. Heute ist es aber anders, weil wir meistens mit unseren eigenen Familien leben. Aber früher, als mein Onkel noch da war, hat er meistens entschieden, wem er dieses oder jenes geben wollte. Er musste es ja wissen.
TV: Warum ist der Onkel so wichtig? Er ist der Bruder deiner Mutter?
Illin: Richtig. Der Bruder der Mutter spielt eine wichtige Rolle. Der Onkel ist wirklich von Bedeutung, weil er aus unserem eigenen Clan ist, und er sollte verheiratet sein. Zum Beispiel muss der Onkel informiert werden, wenn man heiraten möchte. Wenn man keinen Onkel hat, wird die Mutter oder der Vater informiert. Diese setzen sich mit der Familie des zukünftigen Ehemannes in Verbindung, zumindest taten sie das früher. Sie mussten zur Familie des Mannes gehen, wenn die Nichte oder die Tochter einen ihrer Söhne heiraten wollte. Daraufhin arrangieren wir uns mit der Familie, wir reden miteinander und dann leben wir zusammen.
TV: Auch die Großmutter spielt eine wichtige Rolle?
Illin: Ja, die Großmutter ist ebenfalls sehr wichtig. Wir haben leider keine Großmutter mehr, denn sie ist vor mehr als 20 Jahren verstorben. Aber wenn wir noch eine Großmutter hätten, würden wir uns sehr gut um sie kümmern. Sie lebte im Haus meiner Mutter, denn meine Mutter ist die Khado. Die Khado muss sich um die Mutter, den Vater oder jene Brüder kümmern, die kein gutes Verhältnis zu ihrer Frau haben, oder wenn sie sich trennen. Zu ihr kann man gehen, wenn man nicht im Haus seiner Mutter wohnt. Da ich aber die Älteste bin, wohne ich in meinem eigenen Haus.

Die Großmutter spielt eine wichtige Rolle, denn von ihr bekommen wir unser Land und den Familienbesitz, da dies alles nur der Großmutter gehört. Meine Großmutter war die einzige Tochter, also gehörte ihr das ganze Land. Deshalb entschied sie darüber, wer das Land erhält. Die Großmutter, der Onkel und die Mutter sind wichtige Entscheidungsträger.
TV: Ich las, dass in der Khasi-Kultur gegenseitige Fürsorge und Pflege sehr wichtig sind. Kannst du uns ein wenig mehr darüber erzählen?
Illin: Ja, wir kümmern uns sehr viel umeinander. Wenn wir einander besuchen oder zu jemandem nach Hause kommen möchten, müssen wir nicht anrufen, wir gehen einfach hin. Das heißt, wir können jederzeit überall hingehen. Ich gehe zum Haus meiner Mutter und meiner Schwestern, wann immer ich Zeit habe. Ich kann dort essen und Tee trinken. Selbst wenn ich eine Nacht dort schlafen möchte, kann ich es problemlos tun. Vor allem, wenn jemand krank ist, kümmern wir uns um die Person. Wir gehen dorthin und fragen, wie es ihr geht und um welche Krankheit es sich handelt. Wenn es niemand tun kann, bringen wir sie auch zum Arzt und holen Medikamente. Wir sind sehr eng miteinander verbunden.
TV: Würdest du sagen, dass die Bande in eurer Gesellschaft stärker sind als in anderen, beispielsweise als in Deutschland? Ich habe nämlich gelesen, dass eine Schwester von dir in Deutschland lebt und du sie bereits besucht hast, nicht wahr?
Illin: Ja, ich war bereits zweimal in Deutschland.
TV: Hattest du das Gefühl, dass die Familien hier anders sind oder dass sie sich anders verhalten als deine Familie?
Illin: Ich habe gute Freundschaften in Deutschland geknüpft. Ich nahm am ersten Weltfrauenkongress in Luxemburg teil und lernte dort Menschen kennen, mit denen ich mittlerweile sehr gut befreundet bin. Ich habe also Freunde in Deutschland, die uns auch hier besucht haben. Wir stehen uns sehr nahe; sie stehen mir und auch meiner Familie sehr nahe. Wenn wir Zeit miteinander verbringen, habe ich nicht das Gefühl, dass sie mir nicht nahestehen oder dass sie nicht so sind wie wir. Sie mögen unsere Kultur und versuchen, ihr zu folgen.
TV: Ihr inspiriert sie also.
Illin: Ja, das auch. Aber ja, in Deutschland ist es wirklich nicht so wie hier. Mir scheint es so, dass wenn man dort alt ist, man gar kein Leben mehr hat.
TV: Hier in Deutschland?
Illin: Ja, und in anderen europäischen Ländern, weil sie ihre Großmütter und Großväter ins Altersheim geben. Hier zum Beispiel behalten wir sie zu Hause. Wir bleiben zusammen, wir geben ihnen ein Zuhause.
»Wir bleiben zusammen, wir geben ihnen ein Zuhause.«
Wir geben ihnen Essen und alles. Mein Vater – meine Mutter ist verstorben – lebt noch bei uns. Meine jüngste Tochter ist die Khado, und wenn er krank und alt wird, muss sich diese Tochter um ihn kümmern. Wenn ich Zeit habe, gehe ich zum Haus meiner Mutter, um meinem Vater oder meiner anderen Schwester Essen oder das, was sie brauchen, zu bringen.
TV: Wie fühlst du dich als Frau? Hast du das Gefühl, dass du ein gutes Leben hast?
Illin: Ja, als Frau schon. Ich bin Gott dankbar, weil er mir das Leben und alles gegeben hat. Als Frau lebe ich ein gutes Leben. Als ich noch im Haus meiner Mutter lebte, hatte ich gar keine Sorgen, nichts dergleichen. Aber als ich geheiratet habe, musste ich mich um meine Kinder und meinen Mann kümmern. Er hat mir bei der Arbeit zu Hause geholfen. Damals hatten wir nämlich noch keine Waschmaschine und so, wir haben alles mit den Händen gewaschen. Er hat mir geholfen, Wasser zu tragen, Wäsche zu waschen und so weiter.

Das ist schön. Aber das Leben als alleinerziehende Mutter ist sehr schwer. Mein Mann arbeitete in einem Büro, aber da er seine 20-jährige Dienstzeit nicht beenden konnte, erhielt er keine Rente. Ich musste leiden und mich allein um meine Kinder kümmern. Das Leben kann auch hart sein. Aber ich bin stark genug, um mit allem umzugehen. Es gibt gute Zeiten und schlechte Zeiten.
TV: Wie überall auf der Welt. Die Menschen sind nicht perfekt.
Illin: Nein, das sind sie nicht. Aber es ist sehr wichtig für eine Frau, dass sie ihren Respekt bewahrt. Sie sollte Respekt vor sich selbst haben, Respekt geben und sie wird Respekt gewinnen.
TV: Allgemein, abgesehen von deinem persönlichen Schicksal: Wie gehen Männer und Frauen miteinander um, vor allem in einer Partnerschaft?
Illin: Mann und Frau haben hier ein gutes Verhältnis zueinander.
TV: Sind sie auf der gleichen Ebene und haben sie den gleichen Status? Verhalten sich Männer Frauen gegenüber dominant?
Illin: Nein, Männer verhalten sich Frauen gegenüber nicht dominant. Das tun sie nicht, weil sie sich gegenseitig verstehen. Hier werden Ehen nicht häufig geschieden.
TV: Nicht wie in Deutschland!
Illin: Nein. Nicht wie in anderen Ländern und in Deutschland. Die Frauen können arbeiten gehen, zum Beispiel im Büro. Mittlerweile arbeiten sowohl der Mann als auch die Frau.
TV: Also verdienen viele Frauen ihr eigenes Geld?
Illin: Ja. Viele tun das.
TV: Wie war das in früheren Zeiten?
Illin: Früher, in meiner Kindheit zum Beispiel, haben viele Frauen noch nicht außerhalb des Haushalts gearbeitet. Doch vielen ergeht es ähnlich wie mir. Wenn sie gearbeitet hätten, wären sie jetzt nicht von den Einkünften ihres Mannes abhängig. Aber mein Mann und meine Großmutter haben es mir nicht erlaubt, in einem Büro zu arbeiten. Ich blieb zu Hause und war Hausfrau, aber nach seinem Tod musste ich mir eine Arbeit suchen.
TV: Würdest du sagen, dass Männer und Frauen in der Gesellschaft gleichgestellt sind und die gleichen Rechte haben?
Illin: Nein, wir haben nicht die gleichen Rechte. Nach unserem System können Männer zweimal heiraten, während das für Frauen kaum möglich ist. Aber es kommt darauf an: Manche Frauen heiraten trotzdem ein zweites Mal, aber nur, wenn sie sich nicht gut verstehen oder der Vater seine Kinder nicht sieht. Doch wir haben unsere eigenen Rechte. Ich selbst kann für meine Kinder entscheiden. Selbst wenn ich noch einen Ehemann hätte, gehören die Kinder zu mir, und ich entscheide, wem ich Land gebe.

Ich habe das Land von meiner Mutter bekommen, also kann mein Mann nicht darüber verfügen. Wenn er selbst Land gekauft hätte, könnte er es einem Kind oder mehreren der Kinder geben. Aber in den meisten Fällen wird gemeinsam entschieden. Die Frau muss den Respekt der Familie bewahren, deshalb kann sie nicht frei tun, was sie will. Aber in guten Dingen ist sie frei.
TV: Es geht um das Thema Beziehungen, Männer und Frauen. Die nächste Frage bezieht sich auch auf die Sexualität. Wie wird sie in deiner Kultur bewertet? Assoziiert man mit Sexualität eher etwas Schlechtes, oder wird sie akzeptiert? Ich nehme an, du lebst monogam, oder wird dies nicht so streng gehandhabt? Wie geht man in der Khasi-Kultur mit Sexualität um?
Illin: Sex ist eine geheime Sache. Nur Mann und Frau wissen davon. Die meisten Kinder werden mittlerweile in der Schule im Sexualkundeunterricht aufgeklärt, also wissen sie auch davon. Aber im Allgemeinen behält man es für sich.
TV: In Deutschland und vor allem in der christlichen Kultur wird Sexualität häufig eher negativ wahrgenommen. Die Menschen denken, dass sie etwas Böses sei, und somit ist Sexualität mit Angst, Scham und Schuld beladen. Ich frage mich, wie eine Tradition wie deine, eine matrilineare, über Sexualität denkt? Glaubst du, dass sie sich von der christlichen Auffassung unterscheidet?
Illin: Ich weiß nicht, was das christliche Konzept besagt, aber für uns ist es eine geheime Angelegenheit. Wir sollten es für uns behalten. Man kann nicht einfach mit jedem ein Verhältnis haben.
TV: Die Ehepartner halten das Thema eher geheim?
Illin: Ja, denn wenn man mit jemandem Sex hat, sollte nicht viel darüber gesprochen werden. Besonders für verheiratete Frauen ist es ein Tabu, mit anderen Männern ein sexuelles Verhältnis zu haben.
TV: Wie ist es vor der Ehe? Kann man bereits davor Erfahrungen machen?
Illin: Viele tun es. Ich spreche allgemein, weil sich die Welt momentan verändert. Ich weiß nur: Wenn sie sich lieben und heiraten möchten, müssen sie dies zuvor in der Familie besprechen.
TV: Viele Khasi konvertieren zum Christentum. Bist du Christin oder lebst du den traditionellen Khasi-Glauben?
Illin: Ich lebe im traditionellen Khasi-Glauben, aber nicht streng traditionell. Ich besuche nicht so häufig religiöse Veranstaltungen. Wie in der »Seng Khasi«-Bewegung sollten Gläubige eigentlich regelmäßig ihren religiösen Aufgaben nachgehen. Aber ich folge der Khasi-Tradition und bin nicht konvertiert.
TV: Verändert sich derzeit die traditionelle Lebensweise stark?
Illin: Das ist schwierig zu sagen. Die Bräuche verändern sich nicht, wohl aber die Menschen, zum Beispiel durch die Bildung. Manche werden zudem von den Medien wie Fernsehen und Handys beeinflusst.
TV: Diese Verbindung zu anderen Ländern und anderen Menschen verändert den Blick auf die Bräuche?
Illin: Das hängt von der Familie ab. Die Familie wird ihre Kinder immer anleiten. Einige Kinder sind anders als andere, aber die Tradition ist immer noch sehr präsent, und unsere Verbindung zu unseren Traditionen ist stark. Selbst wenn viele Khasi mittlerweile Christen sind, müssen sie, wenn sie heiraten und Kinder haben, dasselbe tun wie wir Khasi.
TV: Wir haben bereits über die Khasi-Kultur gesprochen. Wie würdest du die Gesellschaft und Kultur beschreiben?
Illin: Ich denke, dass unsere Kultur eine gute Kultur ist, denn wir sind miteinander verbunden. Vor allem mit unserem eigenen Clan, unserer eigenen Familie. Denn viele Familien sind, wie wir in anderen Ländern gesehen haben, nicht mehr geeint.
»Ich denke, dass unsere Kultur eine gute Kultur ist, denn wir sind miteinander verbunden.«
Doch wir schon. Wir teilen, wir streiten, aber wir sind nicht voneinander getrennt. Wir halten immer zusammen. Wenn es zu Konflikten kommt, wissen wir bereits sehr früh, dass etwas nicht stimmt, und dann reden wir darüber. Wir sagen es in guten Worten. Und wir denken immer positiv, denn wir haben unseren Clan.
»Wir teilen, wir streiten, aber wir sind nicht voneinander getrennt. Wir halten immer zusammen.«
Wenn wir zum Beispiel einen Fremden treffen, fragen wir als Erstes nach dem Clan. So können wir herausfinden, ob wir aus demselben Clan stammen, also ob wir miteinander verwandt sind. Wir können nicht innerhalb unseres eigenen Clans heiraten. Das ist ein Tabu. Das ist eine ganz besondere Sache, nicht wahr?
TV: Kommt es oft vor, dass du zufällig jemanden triffst, mit dem du verwandt bist?
Illin: Ja, viele, viele Male. Manche sind mit mir väterlicherseits verwandt, manche vonseiten meiner Großmutter, meines Großvaters oder meines Mannes. Aber auch vonseiten des Vaters meines Großvaters oder meiner Mutter. Wir respektieren sie alle, insbesondere diejenigen, die väterlicherseits verwandt sind, weil wir vom Großvater das Leben bekommen. Meine Großmutter war die einzige Tochter und hat zwei Töchter geboren. Von diesen zwei Töchtern ausgehend ist unsere Familie auf mehr als 200 Personen angewachsen. Also zollen wir dem Vater der Familie meiner Großmutter Respekt, weil wir durch sie einen großen Clan haben.
TV: Die Frauen werden respektiert und die Männer ebenfalls.
Illin: Genau, denn der Onkel ist es gewohnt, seine Schwestern und Nichten zu respektieren. Mein Onkel respektierte mich als seine Nichte zum Beispiel sehr, weil ich die älteste Tochter bin. Er redete nett mit mir. Wenn ich Probleme hatte, besprachen wir die Angelegenheiten gemeinsam. Ich vermisse meinen Onkel, er war wirklich nett und lieb. Wenn ich zu ihm nach Hause kam, sagte er zu seinen Töchtern: Oh, meine Nichte kommt, geht, kocht Tee und gebt ihr zu essen. Das ist der Respekt in unserer eigenen Familie, wir respektieren uns gegenseitig.
TV: Welche Werte tragen und prägen die Khasi-Gesellschaft?
Illin: Es sind erstens: Tip briew tip Blei – die Menschen und Gott zu kennen; zweitens: Tip Kur tip Kha – seinen eigenen Clan und seine Verwandten zu kennen und sie zu respektieren; drittens: unseren Lebensunterhalt durch Rechtschaffenheit zu verdienen.
TV: Welche Vor- und Nachteile birgt deiner Meinung nach ein matrilineares System?
Illin: Ich verstehe die Frage, aber es ist eine sehr schwierige Frage …
TV: Warum ist es eine schwierige Frage?
Illin: Ich sehe keine Nachteile, weil wir in diesem System, in dieser Kultur womöglich seit Anbeginn der Welt der Menschen leben. Ich bin sehr stolz auf diese matrilineare Kultur und dieses System, denn die Familie bleibt zusammen. Die Mutter trägt den Familiennamen und sie gibt ihn an ihre Kinder weiter, das ist eine sehr wichtige Sache. Ich bin nicht so gut ausgebildet, um über die Nachteile zu sprechen. Ich habe erst vor 15 Jahren meinen Abschluss gemacht; nachdem mein Mann gestorben war, nahm ich mein Studium wieder auf. Meine Schwester Pindaplin ermutigte mich, wieder zu studieren, um einen Job zu bekommen, und daraufhin machte ich meinen Bachelor-Abschluss. Leider finde ich trotzdem keinen Job, aber zumindest habe ich diesen Abschluss und darauf bin ich sehr stolz.
TV: Warum bekommst du keinen Job? An welchen Umständen liegt es?
Illin: Das hängt vom Amt ab, sie wollten mir keinen geben. Aber mein jüngster Sohn hat jetzt einen Job bei der ehemaligen Arbeitsstelle seines Vaters.
TV: Würdest du sagen, dass es so ist, weil du eine Frau bist?
Illin: Nein, das ist nicht der Grund. Manche bekommen einen Job anstelle ihres Mannes, aber vielleicht habe ich nicht genug Glück, einen Job zu bekommen.
TV: Wir sprachen bereits darüber, dass du der Khasi-Religion angehörst. Kannst du uns ein bisschen mehr über deine Religion und Spiritualität erzählen?
Illin: Wir glauben nur an den lebendigen Gott. Sein Gesicht und alles andere können wir nicht beschreiben, weil wir ihn noch nie gesehen haben, aber wir glauben.
TV: Ist es ein männlicher Gott, oder existiert auch eine weibliche Göttin?
Illin: In unserem Haus sprachen wir immer von Ka Iawbai, denn aus ihrem Schoß sind wir hervorgegangen. Sie ist die Stamm-Ahnin.
TV: Sie ist die Mutter des Lebens?
Illin: Ja, sie ist die Mutter des Lebens. Sie ist die Mutter, die ihren Kindern das Leben geschenkt hat. So sind wir entstanden, eine Generation nach der anderen.
TV: Wie wichtig ist Spiritualität für dich?
Illin: Spiritualität muss da sein, denn wenn Probleme auftauchen, beten wir. Wir beten zu Gott, wir beten zur Mutter des Lebens, dass sie sich um uns kümmert, dass sie uns eine gute Gesundheit schenkt, dass sie uns führt, dass sie sich um die Familie kümmert, damit nichts Schlimmes passiert.
»Spiritualität ist sehr wichtig, denn wie können wir durch das Leben gehen, ohne zu denken, zu beten oder zu glauben.«
Spiritualität ist sehr wichtig, denn wie können wir durch das Leben gehen, ohne zu denken, zu beten oder zu glauben.
TV: Ihr glaubt an die Mutter des Lebens, Ka Iawbai, und es existiert auch ein Schöpfergott, der alles erschafft. Wie können wir uns das vorstellen?
Illin: Ja, wir glauben an den Gott, der alles erschafft. Wenn die älteren Menschen von den »Seng Khasi« beten, richten sie ihre Gebete an Gott, den Schöpfer. Doch wenn irgendetwas Negatives passiert, nennen sie den Namen der Mutter des Lebens.
TV: Wie lautet der Name des Schöpfergottes?
Illin: Sie nennen ihn U Blei Nong-Thaw, das bedeutet Gott.
TV: Bei meinen Recherchen las ich, dass die Wälder für euch heilig und euch sehr wichtig sind. Habt ihr eine starke Verbindung zum Wald und zur Natur?
Illin: Hier existieren eine Menge heiliger Wälder. Man kann sie jederzeit besuchen, aber es ist verboten, irgendetwas von dort mitzunehmen. Sogar die Blätter der Bäume müssen dort bleiben, denn wenn etwas weg- oder mitgenommen wird, kann etwas Folgenschweres geschehen, jemand könnte zum Beispiel erkranken. Es ist zudem nicht erlaubt, im Wald auf die Toilette zu gehen oder dort Liebe zu machen. Uns ist es gelungen, unsere heiligen Wälder zu erhalten. Da es ein geschütztes Gebiet ist, ist es verboten, dort Häuser zu bauen oder Bäume zu fällen. Wir bewahren und schützen die Wälder. Die heiligen Wälder sind sehr wichtig für uns, deshalb ist es nicht erlaubt, sie zu verschmutzen. Wenn wir die heiligen Wälder besuchen, gehen wir dorthin, spielen, setzen uns hin und essen dort, aber wir müssen ihn sauber halten.
TV: Mir wurde berichtet, dass im traditionellen Glauben die Vorstellung existiert, dass die Frauen die Ahnen wiedergebären.
Illin: Darüber weiß ich nicht viel. Wenn ein Mädchen in einer Familie stirbt, bedeutet es, dass ein anderes Mädchen es durch die Geburt wieder zum Leben erwecken wird. Ein Mädchen stirbt, ein anderes kommt. Wir sagen, dass es eine Art Ersatz ist, aber ob das stimmt oder nicht, kann ich nicht sagen. Ein Sprichwort besagt, dass die Mutter, die Schwester oder die Großmutter in der Familie, im Clan, dasselbe Geschlecht wiedergebären wird wie das des Verstorbenen. Aber wie gesagt, es ist ein Sprichwort, und ich weiß nicht, ob es wahr ist.
TV: Vielen Dank für dieses sehr interessante und informative Gespräch, Illin.
Das Interview führten Alice Deubzer und Ronald Engert.

Illin Maser lebt im Nordosten Indiens in Shillong, Meghalaya, und ist Teil des indigenen Volkes der Khasi, die eine matrilineare Gesellschaft bilden. Sie ist die älteste Tochter ihrer Familie, 58 Jahre alt und verwitwet.
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Bildnachweis: © Uscha Madeisky