Ronald Engert

Ronald Engert – Radha, die indische Göttin der Liebe

Leitbild für eine zukünftige spirituelle Gesellschaft

Im indischen Götterhimmel gibt es viele Göttinnen, die wichtige Funktionen innehaben. Eine sehr bedeutende ist Radha, die Gefährtin von Krishna. Die Beziehung zwischen Radha und Krishna könnte als Prototyp einer Liebesbeziehung überhaupt bezeichnet werden. In der Meditation über ihre Spiele fühlen wir uns in ihre Gemütsstimmungen ein und erheben unser Bewusstsein auf die spirituelle Ebene.

»Weil der Nektarozean der spirituellen Liebesstimmungen ohne Grund und ohne Ufer ist, ist es sehr schwierig, in ihn einzutauchen. Während ich an seiner Küste stehe, habe ich ihn einfach nur kurz berührt. Dieses Buch ist ein leuchtender Saphir (ujjvala nilmani), geschrieben in dem mysteriösen und unergründlichen Ozean von Vrindavan.«
(Rupa Goswami)

Es gibt wohl keine religiöse Tradition der Menschheit, die einen größeren Götterhimmel als die vedische, indische Kultur hat. Wir finden dort Abertausende von männlichen und weiblichen Gottheiten. Anders als in den abrahamitischen Religionen (Christentum, Judentum, Islam) sind die weiblichen Gottheiten im indischen Götterpantheon des Hinduismus sehr präsent. So gibt es verschiedene Hochgottheiten, die immer als Paar auftreten. Dazu gehören Shiva-Shakti, Sarasvati-Brahma, Lakshmi-Narayan, Sita-Ram und Radha-Krishna. In allen Fällen bilden die Göttinnen einen wichtigen Anteil und haben maßgebliche Funktionen.

So ist Sarasvati die Göttin des Lernens, der Sprache, der Wissenschaften, der Künste, der Dichtung, der Literatur, der Schrift, der Weisheit, des Tanzes, des Gesanges und der Musik. Sie gilt als »Mutter der Veden«, Erfinderin des Sanskrit-Alphabets und der Devanagari-Schrift. Als Frau des Schöpfergottes Brahma steht sie mit diesem in der Götterhierarchie allerdings nicht an erster Stelle.

Wandbild in Vrindavan: »Sri Radha«

In der vorliegenden Abhandlung soll es deshalb vor allem um Radha (Radharani, Srimati Radhika) gehen, die Gefährtin von Krishna, die mit ihm zusammen als das ewig jugendliche göttliche Paar (yugala kishora) verehrt wird. Sie steht für die höchste Form der göttlichen Liebe. Um die tiefe Bedeutung der Göttin Radha einordnen zu können, bedarf es einiger vorausgehender Erklärungen zur vedischen Spiritualität.

Der vedische Götterpantheon

Die höchste Ebene des Götterhimmels der Veden bildet das Dreigestirn Brahma, Vishnu und Shiva. Dabei steht Brahma für die Schöpfung, Vishnu für die Erhaltung und Shiva für die Zerstörung. Metaphysisch betrachtet stellt nur Vishnu reine Transzendenz jenseits von Raum und Zeit dar, da die Prinzipien der Schöpfung und Zerstörung raumzeitlich sind. Bei der Schöpfung beginnt etwas, und bei der Zerstörung endet etwas. Wir sind also mit diesen beiden Qualitäten innerhalb der Zeit. Indem mit Schöpfung und Zerstörung Form beginnt beziehungsweise endet, sind wir auch innerhalb des Raumes.

»Die höchste Ebene des Götterhimmels der Veden bildet das Dreigestirn Brahma, Vishnu und Shiva.«

Nur das Prinzip der Erhaltung, das durch Vishnu repräsentiert ist, transzendiert Raum und Zeit und führt uns in die Ewigkeit. Von diesen drei Gottheiten ist deshalb aus der Sicht der Vaishnavas Vishnu der höchste. Die göttlichen Qualitäten entscheiden über die theologische Funktion der jeweiligen Gottheit. Vishnu gilt als die Höchste Persönlichkeit Gottes, da er nicht durch Schöpfung oder Zerstörung bedingt ist. Vishnu ist reine Transzendenz.

Ronald Engert
Radha-Krishna, Krishna-Balaram-Mandir, Vrindavan, Indien

Auch wenn Vishnu die Transzendenz verkörpert, geht die Differenzierung auf der Ebene der Transzendenz weiter. Was wäre eine Höchste Persönlichkeit Gottes, wenn sie nicht noch viele Aspekte und Formen hätte? Diese absolute und von Raum und Zeit nicht bedingte Entität erscheint in Varianten, die eine unendliche Vielfalt beinhalten. Vishnu wird in diesem Sinne als der Ehrfurcht gebietende Aspekt, als die Höchste Persönlichkeit Gottes betrachtet. Narayan (s. o.) gilt als Wassergeborener und Menschensohn und ist eine Form von Vishnu. Seine Gefährtin Lakshmi ist die Glücksgöttin. Ram gilt als der siebte Avatar von Vishnu und erschien im Treta-Yuga, dem zweiten der vier Zeitalter. Ram und seine Frau Sita gelten innerhalb der indischen Religion als Verkörperung des Prinzips der Tugend und sind das ultimative Vorbild für einen ethischen Lebenswandel.

Krishna, die besondere Form Gottes

Krishna ist eine weitere Variante von Vishnu und gilt als der private und persönliche Aspekt dieser Gottheit. Besonderes Augenmerk liegt in den vedischen Schriften auf seinen persönlichen Beziehungen, in denen er die ekstatischen und beglückenden Spielarten der Liebe zu seinen Gefährten und Gefährtinnen erfährt. Krishna ist die einzige Gottheit in Indien, die ohne Waffe dargestellt wird. Er trägt stattdessen als untrennbar mit ihm verbundenes Attribut eine Flöte, auf der er betörende Lieder spielt, die nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere, Pflanzen und Halbgötter in ihren Bann ziehen. Seine Hautfarbe wird als blau oder schwarz beschrieben. Genau genommen ist es die Farbe einer dunklen Monsunwolke, die gleichzeitig schwärzlich und bläulich leuchtet.

»Krishna ist die einzige Gottheit in Indien, die ohne Waffe dargestellt wird.«

Wenn Vishnu den offiziellen, Ehrfurcht gebietenden Aspekt Gottes verkörpert, so kann man ihn bildlich zum Beispiel mit dem Bundespräsidenten im Amt vergleichen. Krishna wäre dann analog dazu der Bundespräsident zu Hause privat im Kreis seiner Liebsten.

Die meisten Verehrungsformen Gottes in allen Religionen beziehen sich auf den offiziellen Aspekt. Man betrachtet Gott aus einer Perspektive der Ehrfurcht und des Respekts, als Machtperson, als den Höchsten. Dies ist jedoch nicht die höchste Form der Beziehung zu Gott, die die Seele vollständig zufriedenstellt. Wie auf der menschlichen Ebene, so stellt uns auch in der Beziehung zu Göttin-Gott eine private, persönliche Beziehung, wie man sie zwischen Freunden oder Geliebten hat, am meisten zufrieden. Eine solche Beziehung stellt im Übrigen auch Gott selbst am meisten zufrieden.

Die fünf Rasas

Insgesamt gibt es in der vedischen Spiritualität fünf Gemütsstimmungen (Rasas), die sich in fünf Beziehungsformen ausdrücken:

  1. santa-rasa, die neutrale Beziehung
  2. dasya-rasa, die dienende Beziehung
  3. sakhya-rasa, die freundschaftliche Beziehung
  4. vatsalya-rasa, die elterliche Beziehung
  5. madhurya-rasa, die Liebesbeziehung

Eine neutrale Beziehung ist durch Distanz und emotionale Unbeteiligtheit gekennzeichnet, wie wir sie auf der menschlichen Ebene etwa zu Nachbarn oder dem Kassierer im Supermarkt pflegen. Man hat mit einer solchen Person auf sachdienlicher Ebene zu tun und ist freundlich, aber man hat keine besondere Zuneigung und auch keine engere Beziehung.

Die dienende Beziehung ist auf der menschlichen Ebene die Beziehung zu Vorgesetzten, Autoritätspersonen, ÄrztInnen etc. Innerhalb der Religion ist sie die am häufigsten vorkommende Form. Man betrachtet sich selbst als DienerIn und Gott oder Göttin als Herrn beziehungsweise Herrin. Dies ist die erste und grundlegende Form der Beziehung zu Göttin-Gott, ohne die von einer Gottesbeziehung nicht die Rede sein kann. Die Religionen adressieren in der Regel diese Form der dienenden Gottesbeziehung. Gott ist groß, wir sind klein. Der dasya-rasa ist auch in den höheren Rasas enthalten, wird dort jedoch von den anderen Rasas übertönt.

»Eine freundschaftliche Beziehung vollzieht sich auf Augenhöhe ohne Hierarchie.«

Eine freundschaftliche Beziehung vollzieht sich auf Augenhöhe ohne Hierarchie. Zu einem Freund pflegt man eine persönliche Beziehung und möchte diese Person einfach um ihrer selbst willen sehen, ohne sachlichen Nutzen. Man wird sicherlich einsehen, dass eine Beziehung zu einem Freund intimer und vertrauter ist als die zu einem Vorgesetzten oder zu einer Verkäuferin im Laden. Wir sehen hier bei den Rasas eine fortschreitende Intensivierung der Vertrautheit und Intimität, die sich auch in der Beziehung des Menschen zu Göttin-Gott zeigen kann.

in Vrindavan

In der elterlichen Beziehung werden Göttin oder Gott insofern als das Kind betrachtet. Diese Form der Gottesbeziehung findet sich relativ häufig in Indien, ist aber im Westen ganz unbekannt. Menschen im vatsalya-rasa fühlen sich wie die Eltern von Gopal Krishna, der als kleines Kind dargestellt wird. Man bringt ihm Süßigkeiten und Spielsachen dar. Dies ist eine sehr vertrauliche Beziehung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass – wie bei einem menschlichen Kind – der gläubige Mensch Verantwortung für das Wohlergehen des Kindes übernimmt und alle seine Bedürfnisse versorgt. Es ist eine sehr starke und innige Beziehung, die stärker als die Freundschaftsbeziehung ist. Man kann sich das mit folgendem Vergleich vorstellen: Angenommen, es gibt eine Notsituation, und man muss sich zwischen seinem Freund und seinem Kind entscheiden. Man wird immer das Kind wählen und den Freund notfalls aufgeben. Die Bindung ist stärker, man ist zu höheren Opfern bereit, man dient bedingungsloser.

Die höchste Form der Beziehung nun ist die romantisch-sexuelle Liebe zwischen zwei Personen. Dies ist die intensivste und intimste Form der Beziehung überhaupt, denn hier sind alle Chakren geöffnet und jede Distanz ist aufgehoben. Die innigste Verbindung überhaupt ist die Beziehung, in der alle Rasas enthalten sind, auch die sexuelle Ebene, die in dieser spirituellen Art und Weise auch unser innerstes spirituelles Wesen, unser wahres Selbst, erreicht. Hier öffnen wir uns vollständig und geben uns vollständig hin.

Diese Form der Beziehung, madhurya-rasa, findet sich in der vedischen Tradition zwischen Göttin und Gott, Radha und Krishna. Sie beinhaltet eine Glückseligkeit und Ekstase, wie man sie auf der weltlichen Ebene nicht findet. Wenn ein spirituell praktizierender Mensch sich in der Meditation in diese göttliche Beziehung einfühlt, erfüllt ihn die gleiche Ekstase.

Für manche Menschen ist die Beziehung zu ihrem Kind stärker als die zu ihrem Partner. Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied: Bei dem eigenen Kind sind schon fast alle Intimitätsgrenzen aufgehoben. Das Kind lebt mit im gleichen Haushalt, man isst vom selben Teller, man wäscht und badet das Kind. Aber es gibt eine Grenze: das Schlafzimmer. Das Kind wird nicht in die sexuelle Ebene integriert, und wenn es doch geschieht, ist es die schlimmste Form des Missbrauchs: Inzest.

Die Liebesbeziehung mit dem Partner ist eine intensivere Form der Verbundenheit, denn hier öffnet man sich dem anderen gegenüber vollständig, und es ist die einzige Beziehungsform, in der die Sexualität integriert ist. Die Öffnung auf der sexuellen Ebene ist sehr intim und sehr verletzlich. Die Kraft der Sexualität zeigt sich dadurch, dass durch sie neues Leben erschaffen werden kann. Sie schafft auch die tiefste Verbundenheit.

Erotische Liebe im Göttlichen

Alle diese Rasas existieren im Reich Gottes. Das Reich Gottes hat in der vedischen Spiritualität im Allgemeinen den Namen ›Vaikuntha‹. Im speziellen Fall Radha-Krishnas wird von ›Vrindavan‹ gesprochen. In der vedischen Geschichte ist Vrindavan der Ort, wo Radha und Krishna als Avatare auf der Erde Geburt genommen haben. Diesen Ort gibt es heute noch in Indien, und er ist der zentrale Pilgerort für alle VerehrerInnen von Radha und Krishna. Laut vedischer Ontologie gibt es diesen Ort auch in der spirituellen Welt, im Reich Gottes, jenseits der materiellen Manifestation als ewigen Ort der Spiele Radhas und Krishnas.

»Radha und Krishna selbst sind in einer Liebesbeziehung verbunden.«

Krishna und Radha haben nun diese verschiedenen Rasas mit ihren GefährtInnen. In dem inneren Bezirk von Vrindavan findet man vor allen Dingen die drei höheren Rasas Freundschaft, Elternschaft und Liebhaberschaft. Radha und Krishna haben in Vrindavan Freunde und Eltern. Radha und Krishna selbst sind in einer Liebesbeziehung, im madhurya-rasa, verbunden. Radharani ist also die Geliebte von Krishna, und sie haben auch sexuellen Austausch.

Radha und Krishna, eingehüllt in einen Sari mit Motiven aus dem Alltag der Kuhhirten

Die Erzählungen zu diesen Rasa-Beziehungen sind Gegenstand der spirituellen Praxis im Bhakti-Yoga und mit diesen erleuchten sich die Sprechenden und Zuhörenden gegenseitig. Es sind unfassbar süße Geschichten, und die Praktizierenden stimmen sich meditativ auf die Gemütsstimmungen ein, die bei diesen göttlichen Spielen in Erscheinung treten. Dadurch wird das Bewusstsein von materiellen Konzepten gereinigt und auf die transzendente Ebene erhoben. Man nennt diese spirituelle Praxis ›harikatha‹, Sprechen über die Spiele von Göttin-Gott.

Radha

Man stelle sich also vor, von allen Gemütsstimmungen (Rasas) ist die Beziehung als Liebespartnerschaft die höchste und intensivste. Die Rasas gibt es zwischen Menschen, zwischen Menschen und Göttin-Gott sowie zwischen Göttin und Gott. Im Vergleich zu den zwischenmenschlichen Rasas sind die Rasas in Beziehung zu Göttin-Gott sowie die Rasas zwischen Radha und Krishna selbst unvergleichlich intensiver. Am intensivsten von allen Rasas ist der madhurya-rasa auf der Ebene von Göttin-Gott, Radha-Krishna. Innerhalb des madhurya-rasa im göttlichen Spiel gibt es insgesamt mehrere Frauen, sogenannte Gopis, die mit Krishna in Beziehung stehen. Von diesen Frauen ist Radha diejenige, die von Krishna am meisten geliebt wird. Sie ist die Verkörperung der höchsten Liebe. Radha ist die Seele Krishnas. Sie steht noch höher als Krishna.

Theologisch ist Radha das Subjekt der Liebe (vishaya) und Krishna das Objekt der Liebe (ashraya). Radha liebt also Krishna, und ihre Liebe wird in den vedischen Schriften über alles gerühmt. Es wird berichtet, dass Krishna die Liebe Radhas nicht verstehen kann, weil sie so hoch und so rein ist. Radha ist deshalb für alle Gottgeweihten das Vorbild einer liebevollen Gottesbeziehung. Sie ist die höchste Göttin in Vrindavan, im innersten Reich Gottes, weshalb sie auch Vrindavaneshvari genannt wird: die Herrin von Vrindavan.

Ronald Engert
Radha ist traurig, weil sich Krishna versteckt hat.

Hören wir Rupa Goswami, einen verwirklichten Bhakti-Yogi aus dem 16. Jahrhundert:

»Srimati Radharani ist Krishnas hladini-shakti (Freudenenergie). Sie ist die Form der ekstatischen Liebe zu Krishna. […] Sie wird in allen vedischen Schriften gepriesen. In der Gopala-tapani Upanishad, Tu Tara-khanda, wird sie als Gandharva angesprochen. Im Rg-veda-parisista wird sie mit dem Namen Radha adressiert und als Gefährtin von Madhava (Krishna) beschrieben. Im Padma Purana erzählt Devarsi Narada ihre Herrlichkeiten. So wie Radha Krishna sehr lieb ist, so ist ihm ihr See, der Radha-kunda, auch sehr lieb. Von allen Gopis ist Srimati Radharani dem Lord Vishnu am liebsten.« (Rupa Goswami: Sri Ujjvala-Nilamani, Vrindavan 2006, S. 34)

Die Schönheit von Radharani wird beschrieben: »Radhas Augen überwältigen die Schönheit einer neuen Blüte der blauen Lotusblume. Die Schönheit ihres Gesichts übertrifft die eines ganzen Waldes voll erblühter Lotusse. Die Hautfarbe ihres Körpers scheint selbst Gold in Verlegenheit zu bringen. Auf diese Weise erwacht die wunderbare, unvergleichliche Schönheit Radhas in Vrindavan.« (ebd., 36)

Die Gopi-Botschafterinnen sagen zu Radha: »Radharani mit der schlanken Taille, du bist nun vorzüglich für den Liebeskampf vorbereitet. Deine Hüften sind dein Streitwagen, deine Brüste sind zwei Feuerräder. Deine Augenbrauen sind zwei kräftige Bögen und deine Augen sind zwei schnelle Pfeile. Der Liebesgott, Cupid, hat Krishna, den Meister der surabhi-Kühe, als General der gegnerischen Armee aufgestellt. Obwohl du dir des Sieges sicher warst, hat er dich besiegt und plündert nun die königliche Fülle deines transzendentalen Körpers. Er trägt deinen Reichtum als Siegesbeute davon.« (36f.)

Krishna zu Radha: »Meine liebste mond-gesichtige Radharani, hat der Blitz von deinen Seitenblicken die Kunst der schnellen Bewegung gelernt, oder haben deine Seitenblicke dies vom Blitz gelernt? Ich denke, dass deine Seitenblicke der Lehrer sein müssen und der Blitz ist der Schüler. Dein Blick ist so schnell, dass er selbst meinen schnell sich bewegenden Geist einfängt.« (37)

Vishakha zu Radha: »Nun, da er auf dem Mond deines Gesichtes die feinen Linien deiner Lippen gesehen hat, von denen der Nektar deines Lächelns ausströmt, fliegt der äußerst gutaussehende cakora-Vogel, Krishna, plötzlich hoch in die Luft, erregt von transzendentaler Glückseligkeit.« (37)

Radharani zu ihren Gopi-Freundinnen: »In den Spielen meiner Liebeshändel mit Krishna habe ich ihn wiederholt verletzt. Deshalb wurde ich nun als Radha bekannt. O liebste Gopi-Freundinnen mit den schlanken Taillen, nur wegen der wohlriechenden Blumenblüten eurer Barmherzigkeit hat Krishna mich wieder akzeptiert. Es gibt keinen anderen Grund für seine Akzeptanz als eure Gnade.« (39)

Ronald Engert
In traditioneller Tracht werden die Spiele von Radha und Krishna in Vrindavan aufgeführt.

»Radharani ist die ursprüngliche Lehrerin der Kunst der Malerei mit farbigen Pigmenten. Ihr Geist ist wunderschön mit der Expertise der Kochkunst dekoriert. In Wortgefechten spricht sie schlaue, witzige Worte, mit denen sie selbst Krishna und sogar Brihaspati, den Guru der Halbgötter, verwirrt. Sie ist die größte Gelehrte in der Wissenschaft des Flechtens von Blumengirlanden. Im Rezitieren von Gedichten ist sie besser als die Papageien. Im Glücksspiel besiegt sie sogar den unbesiegbaren Krishna. Sie ist Expertin in der Kunst transzendentaler erotischer Spiele. Ihre Intelligenz erstrahlt leuchtend in allen Spielarten des Wissens.« (39)

»Radha sendet viele pfeilschnelle Blicke aus den Winkeln ihrer spielerisch gebogenen, funkelnden Augen ab. Die Kletterpflanzen ihrer Augenbrauen tanzen voller Freude. Ihr Gesicht ist von dem Mondlicht ihres jasmingleichen Lächelns erhellt. Glitzernde Ohrringe schwingen über ihre Backen. Jedes halbe Wort spricht sie ein rätselhaftes, kraftvolles Mantra aus, um die Gegenwart des Liebesgottes zu beschwören. Mit all diesen Eigenschaften hat sie Krishna bezaubert. Mit den Wogen ihrer ausgelassenen Verspieltheit hat sie sein Herz hinweggefegt.« (41)

»Radha weinte einen großen Monsun der Tränen, der das Wasser in der Yamuna verdoppelte und sie wie ein candrakanta-Juwel erscheinen ließ, das im Licht des Mondes schmilzt. Sie stotterte und die Silben brachen mit stockender Stimme aus ihrer Kehle hervor. Die Haare ihres Körpers standen aufgerichtet, sodass sie wie ein kadamba-Baum aussah. Der Klang von Krishnas Flöte ließ sie wie eine Platane erscheinen, die in einem Wirbelsturm hin- und hergeworfen wird.« (41)

Krishna zu Radharani: »Mein liebes Mädchen mit den faszinierenden Augen, obwohl ich von vielen Mädchen mit wunderschönen Augenbrauen attackiert werde, die mit ihren rastlosen, schrägen Blicken aus den Augenwinkeln geschickte Bogenschützen sind, weiß ich nicht, wie ich auch nur einen Moment ohne dich Freude finden kann. Ich kann es nicht. Ich bin gerade so wie der Himmel. Selbst wenn das Mondlicht und alle Sterne versuchen, den Himmel zu erleuchten, wird er niemals richtig scheinen, bis er mit dem Sonnenlicht erfüllt ist. In der gleichen Weise ist es für mich nicht möglich, ohne dich in Freude zu leuchten. Weder Chandravali noch Tara, noch ihre Freundinnen können mich glücklich machen, ohne die Gegenwart Radharanis, der wundervollen Tochter von Maharaja Vrishabhanu.« (42)

Krishna sagt: »Meine liebe Radharani, hier sind die Blumen, die noch unberührt von den Bienen sind, viele vollständige Pfauenfedern und neue Blüten, so leuchtend wie die aufgehende Sonne. Ich habe alles entsprechend deiner Anweisung gesammelt. Ich bin dein untergeordneter Diener. Bitte befehlige mich. Was möchtest du noch von mir gebracht bekommen?« (42f.)

Die Liebe jenseits von Ehrfurcht

»Die Gopis waren sich nicht bewusst, dass Krishna die Höchste Persönlichkeit Gottes ist. Sie dachten, er sei der menschliche Sohn des Königs von Vraja (Vrindavan). Diese feste Überzeugung der Gopis war das Symptom ihrer großen Liebe für ihn, ein Symptom, das man nur äußerst selten bei den heiligsten Gottgeweihten findet. Einmal manifestierte sich Krishna spielerisch als Narayan mit vier siegreichen Armen in einer wunderschönen Form. Als die Gopis diese herausragende Form sahen, wurden ihre ekstatischen Gefühle jedoch abgeschwächt. Ein Gelehrter kann deshalb die ekstatischen Gefühle der Gopis nicht verstehen, die fest auf die ursprüngliche Form Krishnas als des Sohnes von Nanda konzentriert sind. Die wundervollen Gefühle der Gopis im ekstatischen parama-rasa mit Krishna gelten als das größte Mysterium des spirituellen Lebens.« (46)

Die normale Beziehung zu Gott ist von Ehrfurcht und Respekt geprägt. Eine solche Beziehung ist aber auch distanziert. Sie hat nicht die emotionale Nähe einer Freundschaft oder gar einer Liebhaberschaft. In den höheren Rasas der Freundschaft oder Liebhaberschaft gibt es keine Ehrfurcht und keine respektvolle Distanz. Im Gegenteil, man ist sogar geneigt, den anderen liebevoll zu necken oder Witze über ihn zu machen. Dies ist eine Form der Respektlosigkeit, die Zuneigung und Vertrautheit signalisiert und damit die Gefühlsstimmungen der Freundschaft und der Liebe intensiviert. Auch kleine Liebeshändel oder -kämpfe sind wohlmeinend und dienen als Vorwand, Körperkontakt herzustellen oder den emotionalen Austausch zu verstärken. Wenn die Gopis, die Kuhhirtenmädchen, wüssten, dass Krishna Gott ist, hätten sie Ehrfurcht und Distanz. Dann würde ihre Ekstase absinken. Gerade weil sie nicht wissen, dass er Gott ist, lieben sie ihn aus reinem Herzen ohne Hintergedanken. 

Ronald Engert
Krishna berührt mit Tränen der Liebe die Füße von Radharani.

Im Rasa der Liebe zu Radha und Krishna sehen auch die Gottgeweihten sie nicht mehr als Göttin-Gott, sondern als Gleichgestellte. Es hat keinen ekstatischen Geschmack, von Göttin-Gott zu sprechen. Radha und Krishna sind einfach Freunde, Familienmitglieder oder Geliebte, die dazugehören. Die heutigen EinwohnerInnen von Vrindavan behandeln Radha und Krishna so vertraulich.

Von allen Gopis liebt Radharani Krishna am meisten. Sie bezaubert ihn und bringt ihn mit ihrer Liebe unter ihre Kontrolle. Es gibt Situationen, wo sie sogar transzendentale Wut auf ihn hat und ihn zurückweist. Sie möchte sich dann nicht mit ihm treffen und schickt ihre Botschafterinnen, um ihm abzusagen. Dies ist aber für Krishna eine schmerzliche Situation, die ihn verzweifeln lässt. Er selbst liebt sie mehr als alles andere und nimmt als höheren Geschmack eine Gefühlsstimmung an, in der er nicht ohne sie leben kann. Wenn Radharani wütend auf Krishna ist, versucht er alles, um sie wieder wohlwollend zu stimmen.

Man fragt sich, warum ein Gott, der doch allmächtig und völlig unabhängig sein soll, sich in eine solche Situation begibt, wo er einem anderen Wesen untergeordnet ist und ohne dieses Wesen nicht glücklich sein kann. Tatsächlich wird Krishna als vollkommen unabhängig und in sich selbst zufrieden beschrieben (atmarama), aber diese Ebene der geistigen und emotionalen Unabhängigkeit ist nicht die höchste Ebene des Seins. Es ist nicht das, was die Seele am meisten zufriedenstellt.

»Die höchste Ebene des Seins ist die Liebe.«

Die höchste Ebene des Seins ist die Liebe. In dieser Liebe gibt es Gefühle unterschiedlichster Art: Freude, Trennungsschmerz, Wiedersehen, Verspieltheit, Wut, Anziehung u. a. Die Höchste Persönlichkeit Gottes findet ihre größte Freude darin, all diese intensiven Gefühle zu fühlen und in diesem liebevollen Austausch zu sein. Diese Beziehung ist wesentlich lebendiger und freudvoller als eine neutrale, unabhängige Position, in der man von nichts berührt wird. Diese Beziehung ist aber die freie Wahl Gottes. Er ist nicht gezwungen, in dieser Abhängigkeit zu existieren.

Viele Yogis und spirituelle PraktikerInnen missverstehen das. Sie denken, die Geschichten um Radha und Krishna seien eine untergeordnete Ebene, die nur für das einfache Volk gedacht sei. Sie glauben, die höchste Stufe sei brahman, das Ruhen in sich selbst, unberührt, unbedingt, unabhängig. Aber es gibt eine noch höhere Ebene. Vom brahman-Zustand kann man dorthin gelangen, wie die Bhagavad-gita sagt: »Brahma-buta prasanatma, na socati na kansati, sama sarva buthesu, mad bhaktim labhate param – Wer im Brahman-Zustand verankert ist, klagt weder, noch frohlockt er. Er sieht alle Lebewesen mit gleichen Augen. Von diesem Zustand aus erreicht er transzendentale Liebe (bhakti) zu mir.« (Vers 18.54)

Ronald Engert
Radharani beobachtet eine Hummel, die sie mit Krishna verwechselt, weil beide schwarz sind.

In diesem spirituellen Liebesspiel sind alle personalen Qualitäten vorhanden: ein spiritueller Körper (rupa), Eigenschaften (guna), Gefühle (rasa), Handlungen (lila), persönliche Identität (nama). Dafür stehen Radha und Krishna, und Radha ist die höchste Verkörperung dieses Prinzips. Radha und Krishna sind unsere Leitbilder, die Ur-Prototypen. Von ihnen lernen wir, wer wir sind und wie wir funktionieren.

Noch mehr als Krishna ist Radha unser Leitbild, denn in Bezug auf Gott sind alle Seelen weiblich und unsere wesensgemäße Bestimmung als spirituelle Seelen in Verbundenheit mit Gott ist es, Gott zu lieben und ihm zu dienen. Wir sind die Subjekte der Liebe, die Liebenden. Das lernen wir von Radha. Wir können Krishna jedoch nur zufriedenstellen, wenn wir seine Geliebte, Radha, zufriedenstellen. Deshalb dienen wir Radha in einer Beziehung der Freundschaft im sakhya-rasa, als sakhis, Freundinnen.

Im Sinne der vedischen Tradition liegt unsere wahre Identität in einem der Rasas zu Radha-Krishna begründet. Im besten Falle kann man Radha-dasi, Dienerin von Radha, sein. Das ist aber für jeden individuell unterschiedlich, gemäß dem eigenen Geschmack (sva-bhava) für einen der Rasas.

Freie Liebe

Radharani ist die höchste Gopi und sie ist das urerste Subjekt dieser Liebe. Diese Liebe kennt keine Regeln und Gesetze, keine moralischen Regularien oder Vorschriften. Diese Liebe ist frei. Sie ist nicht an gesellschaftliche Konvention gebunden. Deshalb gibt es in der Beziehung des madhurya-rasa zwei Spielarten: die eheliche Beziehung (svakiya-bhava) und die nicht eheliche Beziehung (parakiya-bhava).

Die nicht eheliche Beziehung gilt als höher, da sie eben nicht den sozialen Geboten und Verboten unterliegt. Sie ist außerhalb der moralisch akzeptierten Verkehrsformen und folgt deshalb ausschließlich den authentischen und echten Gefühlswellen. Radha und Krishna stehen in einer nicht ehelichen Beziehung zueinander. Diese Gefühle sind in dem liebevollen Austausch zwischen ihnen am reinsten repräsentiert. Während der Meditation über diese Spiele können wir an diesen Gefühlen Anteil nehmen und sie selbst fühlen. Das reinigt unser Bewusstsein, und unser innerstes Wesen, unsere Seele, wird freigelegt.

Ronald Engert
Radharani betrachtet Krishna im Spiegel, während er liebevoll ihre Haare kämmt. Krishna wird auch Krishna Chandra genannt: der Mondgleiche. So steht der Mond mit den Gesicht im Spiegel in Bezug.

Die Bhakti-Tradition weist darauf hin, dass man dies nicht missverstehen und auf die eigenen sexuellen Beziehungen übertragen sollte. Ziel ist es nicht, Radha und Krishna zu kopieren, sondern sich selbst als Gopi zu imaginieren und in der Meditation an dem göttlichen Spiel von Radha und Krishna teilzunehmen, indem man dort einen Dienst übernimmt, zum Beispiel den Treffpunkt vorbereiten, Botschaften überbringen, Radhas Haar flechten, das Bett machen etc.

Radha und Krishna sind einzigartig und nicht austauschbar. Sie sind Göttin und Gott. Indem wir ihnen dienen sowie auch in den höheren Rasas von Freundschaft, Elternschaft und auch Liebhaberschaft mit ihnen in Beziehung treten, können wir diese ekstatischen, reinen Liebesgefühle unserer Seele erfahren.

Es geht also nicht um eine sexuelle Ausschweifung innerhalb der menschlichen Ebene, die schnell Gefahr läuft, Schaden zu verursachen. In der absoluten Wahrheit ist alles konkret, und wir haben es mit individuellen, einzigartigen Wesenheiten zu tun. Es ist nicht angezeigt, sich selbst als Krishna oder Radha zu identifizieren. Wir dienen Radha und Krishna, wir können ihre Freunde sein im sakhya-rasa, elterliche Gefühle zu ihnen entwickeln im vatsalya-rasa oder auch – aber das ist eine sehr hohe und vertrauliche Stufe – erotisch-romantische Stimmungen in Bezug auf sie erleben.

Die erotisch-romantische Beziehung zu Göttin-Gott ist der positive spirituelle Kern des Zölibats. Im Christentum verstehen sich Nonnen als die Braut Christi. Die romantischen und sexuellen Energien werden auf Göttin oder Gott ausgerichtet und finden dort ihre Erfüllung. Es handelt sich also nicht um einen Verzicht auf diese Gemütsstimmung des madhurya-rasa, sondern Zölibatäre haben ein anderes Objekt für diese Stimmung: Göttin oder Gott. Es ist ein höherer Geschmack, und durch die rein spirituelle Ausrichtung wird die Seele aus der materiellen Bedingtheit befreit.

Ronald Engert
Krishna bittet die verärgerte Radha um Vergebung.

In der Beziehung zu Göttin-Gott befinden wir uns vollständig außerhalb der materiellen Welt und der zeitweiligen und bedingten Identifikationen. Der Geschmack an diesen göttlichen Beziehungen ist unvergleichlich größer und süßer als in weltlichen Beziehungen, die demgegenüber fade und trocken erscheinen. ›Rasa‹ bedeutet wörtlich ›Saft‹, und in der Tat sind diese göttlichen Rasas überaus saftig. Man fühlt sie im Herzen, und sie erfüllen die spirituell Praktizierenden mit göttlicher Freude und Liebe.

Diese Rasas werden durch harikatha, meditative Erzählungen der Spiele Radhas und Krishnas, sowie durch manasa-seva, Meditation über die Spiele Radhas und Krishnas, ausgelöst und verstärkt. Davon wurden oben einige Beispiele aus dem Ujjvala-Nilamani zitiert. Auch die Rezitation der Namen Radhas und Krishnas hat diesen Effekt. Es wird gesagt, dass die Namen von Radha und Krishna doppelt so viel Kraft haben wie Radha und Krishna selbst, weil sie deren Kraft und ihre eigene Kraft als Namen beinhalten. Die Namen von Radha und Krishna sind darüber hinaus nicht verschieden von ihnen.

Radha als höchste Göttin

Radha repräsentiert also im ganzen indischen Götterpantheon die höchste Stufe der göttlichen Liebe in ihrer reinsten Form. Diese Liebe ist so stark, dass sie sogar die Höchste Persönlichkeit Gottes besiegt. Krishna ist gegenüber Radharani machtlos und wie eine Marionette in ihren Händen. Er massiert ihre Füße, dekoriert ihr Haar, malt Delfine auf ihre Brust, pflückt Blumen für sie, und wenn sie mit seinem Verhalten unzufrieden ist, fürchtet er sich vor ihrem transzendentalen Zorn und bettelt auf Knien um Vergebung.

Hierarchie auf der menschlichen Ebene ist so oft ein Gegenstand des Missbrauchs geworden, dass heute niemand mehr etwas davon wissen möchte. Diese feinen Konstellationen innerhalb von Beziehungen sind jedoch ein wichtiger Bestandteil der Wirklichkeit, und es ist ratsam, diese Dynamiken zu verstehen. Sie sind im Idealfall die Quelle der Freude in diesen Beziehungen.

In den Geschichten, wie sie im Harikatha über Radha und Krishna erzählt werden, kommen diese Dynamiken in einer Reinheit und Klarheit zum Ausdruck, dass es kaum vorstellbar erscheint, dass sie einfach nur aus der Fantasie von sentimentalen Märchenerzählern stammen. Vielmehr sind diese Vorgänge meditative Schauungen von erleuchteten MeisterInnen direkt aus der spirituellen Welt, die die Urmatrix für die menschlichen Beziehungen wiedergeben.

Natürlich gehen diese spirituellen Adepten davon aus, dass Radha und Krishna real existieren. In der spirituellen Praxis kann man die Fülle dieser Beziehungen und die ozeanischen Qualitäten dieser Gemütsstimmungen täglich erfahren. Mit dieser Erfahrung kann man nicht anders, als die feste Überzeugung entwickeln, dass es sich hier um reale Kräfte handelt, die unser Bewusstsein erweitern und uns eine Form des spirituellen Erwachens ermöglichen, in dem wir diese Strukturen als ewige Wahrheit erkennen. Die Wirklichkeit ist so. Die essenziellste Ebene unserer Seele ist es, diese ekstatischen Gemütsstimmungen der göttlichen Liebe zu erfahren. Das ist die wahre Bestimmung unserer Seele und das, was sie am meisten zufriedenstellt. Radharani ist dasjenige Wesen, das diese Bestimmung am reinsten verwirklicht.

Pratibha Goswami – Shri Radharani

Lord Shri Krishna ist die höchste Kraft, und es gibt niemanden jenseits von Ihm. Die Kraft, die weniger als Er erscheint, wird ›Paramatma‹ genannt, und die am wenigsten erscheinende Kraft wird ›Brahman‹ genannt. Dies sind die drei Formen von Lord Shri Krishna. Die dritte Form, Brahman, hat keinen Namen, keine Form, keinen Aufenthaltsort, keine Tugend und keine Spiele. Shri Krishna ist sat, chit und ananda – ewig, voller Wissen und glückselig. Diese drei Kräfte sat-chit-ananda sind auch in Brahman enthalten, aber sie manifestieren sich im Brahman nicht. Brahman kann niemals Gnade gewähren.

Saguna Shakar, der vier Hände hat und Maha Vishnu genannt wird, hat einen Namen, eine Form, einen Aufenthaltsort und Tugenden, aber keine süßen Vergnügungen. Höchster Wohlstand und Reichtum sind in Maha Vishnu zu finden. Aber alle drei Eigenschaften sat, chit und ananda erscheinen nur in Shri Krishna. Die persönliche Kraft von Lord Krishna wird ›Swarup Shakti‹ genannt, die die privateste Kraft von Ihm ist. Auf der Grundlage dieser Shakti vollbringt Krishna alles im unbegrenzten Universum.

Die Swarup Shakti ist wiederum in drei Formen unterteilt, von denen die ›Hladini Shakti‹ die beste ist. Aufgrund dieser Hladini Shakti bleibt Shri Krishna immer in einer glücklichen und freudigen Stimmung, während er alle Aktivitäten des Universums ausführt.

Die Essenz dieser Hladini Shakti ist göttliche Liebe. Diese göttliche Liebe ist so mächtig, dass Lord Krishna sich ihr unterordnet. Schließlich ist die Essenz der göttlichen Liebe ›Mahabhava‹, die höchste Liebe überhaupt. 

Shri Radharani ist die Inkarnation dieser Mahabhava. Deshalb ist Shri Krishna der Diener von Shri Radharani. Shri Krishna praktiziert Bhakti und besitzt auch den Staub der Lotosfüße von Shri Radharani. Shri Radharani ist die Seele von Shri Krishna. Shri Radhas und Shri Krishnas Liebe ist unerklärlich. Es scheint schwierig, ihrer reinen und göttlichen Liebe einen Namen zu geben. Wir können nicht sagen, dass sie eine Einheit sind, aber gleichzeitig scheinen sie auch nicht zwei Persönlichkeiten/Körper zu sein, denn ohne Radha hat Shri Krishna keine Existenz und umgekehrt.

Ein Rasikjan (ein Kenner von Rasa*) sagt:

Wenn Krishna der Mond ist, dann ist Radha das Mondlicht.
Wenn Krishna die Blume ist, dann ist Radha der Duft.
Wenn Krishna Milch ist, dann ist Radha ihre Weiße.
Ist Krishna das Feuer, dann ist Radha die Brennkraft.

Shri Krishna sagt: ›Radha, wir beide sind untrennbar wie Wasser und seine Wellen. So wie Wellen nicht vom Wasser getrennt werden können, so können auch wir nicht voneinander getrennt werden, wir sind ungeteilt.‹ Shri Brishabhanu Nandini (Shri Radharani, die Tochter von Shri Brishabhanu) hat sich in Shri Brijmandal inkarniert, und durch das Medium ihrer süßen Vergnügungen verströmt sie süßen und eleganten Rasa im Herzen der Devotees und Rasikjans. Rasikjan sagt, dass diese beiden die Gärtner des Liebesgartens sind, die zusammen die ganze Zeit in Sri Vrindavan Dham wunderschöne Liebesblumen pflegen.

*Rasa: spiritueller Geschmack der Gottesliebe

 

Pratibha Goswami – Srimad Bhagavatam

Das heilige Buch der Inder

Das Srimad Bhagavatam ist die beste aller Schriften des Hindu-Dharma. Das ›Raas Panchadhyayi‹-Kapitel ist als die Seele des Srimad Bhagavatam bekannt. Dort wird die wahre Geschichte erzählt, dass die unverheirateten Gopis das ›Katyayani Devi‹-Fasten abhielten. Sie verehrten die Göttin Katyayani und sangen heimlich das Mantra: »O Mahamaya Devi! Bitte gib mir den Segen, dass Nandanandana Sri Krishna mein Ehemann wird.« Tatsächlich verehrten alle Gopis nach außen Katyayani devi, aber im Herzen verehrten sie nur Shri Krishna, denn vor 5.000 Jahren wäre es ein großer Skandal gewesen, wenn ein unverheiratetes Mädchen über einen Jungen gesprochen oder nachgedacht hätte. So gaben sie vor, Devi anstelle von Sri Krishna zu verehren.

Deshalb sagte Sri Krishna zur Zeit des ›Cheerharan Lila‹ zu allen Gopis: »Ich weiß, dass ihr mich verehrt habt und mich immer als euren Ehemann haben wolltet, deshalb bin ich hier, um eure Verehrung anzunehmen und euch allen zu versichern, dass ich euer Ehemann sein werde.« Um diesen Segen zu erfüllen, gab Shri Krishna ihnen den Rasa von Raas*.

Später, nach einem Jahr Cheerharan Lila, spielte Sri Krishna in der Nacht von Sharad Purnima seine göttliche Flöte, um alle Gopis einzuladen. In dem Moment, als die Gopis die Musik der göttlichen Flöte hörten, wurden sie alle verrückt nach Krishna, vergaßen ihre Kinder, ihre Ehemänner, kurzum, sie vergaßen alles und jeden. Bald begannen sie auch, das Bewusstsein zu verlieren. Sie vergaßen sogar, sich richtig anzuziehen, und trugen seltsame Kleidung. Alles, was sie taten, war, in die Richtung der Musik zu rennen. Sri Sukhdeva Maharaja sagt: »Dieses Raas Lila ist keine Begegnung zweier Körper, sondern eine Intimität zwischen ›Atma und Paramatma‹, Seele und Gott, wo es keinen einzigen Tropfen Lust gibt, sondern nur reine göttliche Liebe zwischen den Gopis und Shri Krishna. Wer an das Raas Lila denkt, sich darauf konzentriert oder darüber meditiert, dessen Lust und verunreinigte Gefühle werden zerstört, und Shri Krishna spielt in seinem Herzen.«

* Raas: der Tanz bzw. die erotische Liebesbeziehung Krishnas mit den Gopis

Ronald Engert

Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–22 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2022 Masterarbeit zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts«.

Blog: ronaldengert.com

Ronald Engert

Pratibha Goswami, geb. 1976, ist eine direkte Nachfahrin des Krishna-Devotees und Dichters Jayadeva Goswami, der im 13. Jahrhundert das berühmte Buch ›Gita Govinda‹ schrieb. Pratibha lebt seit ihrer Geburt in der heiligen Stadt Vrindavan, spricht Sanskrit und Brajabhasa, den Dialekt von Vrindavan, in dem auch devotionale Bücher und Lieder verfasst sind. Sie übersetzte und kommentierte das Buch ›Hit Chaurasi‹ von Hit Harivansh, einem Krishna-Poeten aus dem 16. Jh. (Edition Tattva Viveka, 2010)

Lectures von Pratiba auf YouTube: Voices of Vrindavan

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