Eine Einladung zu Absichtslosigkeit und zum Ausschöpfen des Potenzials unseres Menschseins
Ein wichtiges Prinzip der spirituellen Praxis in vielen Traditionen ist die Absichtslosigkeit. Sie befreit uns von Anspannung und Sorgen, gibt uns mehr Handlungsoptionen und steht im Einklang mit dem Willen Gottes. Die Alexandertechnik beruht auf demselben Prinzip und gibt uns bei körperlichen Beschwerden heilsame Impulse.
Bekannt ist die Alexandertechnik als Methode, vorteilhaftere Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten zu entwickeln, um Leichtigkeit und Balance im Alltag zu erleben und von positiven Auswirkungen auf die eigene Gesundheit zu profitieren. Der gute Gebrauch des eigenen Organismus, des Selbst, steht im Mittelpunkt der pädagogischen Methode der Alexandertechnik. Sie umfasst den Körper und den Geist, die zum Loslassen eingeladen werden: nachteilige Gewohnheiten; überflüssige Muskelspannung und vorgefasste Denkkonzepte, Glaubenssätze.
»Durch das innerliche Lösen vom Zweck, durch bewusstes Absichtsloswerden können wir eine neue Erfahrung machen.«
Wirklich loslassen können wir nur das, was wir nicht mehr festhalten wollen. Erst wenn wir unsere Absichten, den Zweck unseres Tuns, für einen Moment hintenanstellen, dann können wir unsere Aufmerksamkeit der Tätigkeit selbst widmen. Und diese neu justieren – zum Beispiel uns von nicht benötigter muskulärer Spannung befreien. Durch das innerliche Lösen vom Zweck, durch bewusstes Absichtsloswerden können wir eine neue Erfahrung machen: nämlich, dass wir den alltäglichen Herausforderungen unseres Lebens nicht nur mit Spannung, großer Anstrengung oder Stress begegnen, sondern auch eine Strategie der Gelassenheit, Offenheit und des Vertrauens wählen können. Und dass sich das lohnt – geistig und körperlich.
You translate everything – physical, mental, spiritual – into muscular tension. (F.M. Alexander)
So laden Alexandertechnik-Lehrer weltweit ihre Schüler in einem ersten Schritt gewissermaßen dazu ein, eine absichtslose innere Haltung einzunehmen. Es ist dieser absichtslose Moment, der zum Dreh- und Angelpunkt einer vielschichtigen Veränderung wird, wie später noch weiter erläutert wird.
Diese Einladung zur Absichtslosigkeit in der Alexandertechnik ähnelt erstaunlicherweise der zentralen Gemeinsamkeit vieler spiritueller Wege: der Rücknahme des Ich-konstituierenden Wollens und dem Kultivieren einer absichtslosen inneren Haltung. Verschiedene spirituelle Richtungen legen zwar unterschiedlich formulierte Zielvorstellungen zugrunde. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass das Gehen eines spirituellen Weges von dem Üben im Einnehmen einer absichtslosen Haltung gekennzeichnet ist. Unabhängig vom Erfüllen der jeweiligen Zielvorstellung des Weges beschert das absichtslose Gehen dem Gehenden Schritt für Schritt einen nicht unansehnlichen Nebeneffekt, von dem er nicht erst in einem Jenseits, sondern im Hier und Jetzt profitieren kann – eine doch frappierende Ähnlichkeit von Alexandertechnik und Spiritualität.
Es ist, als ob sie uns zurufen: »Fürchtet euch nicht!« Ein Ruf, der zum Loslassen unserer rastlosen und sorgenvollen Zielstrebigkeit einlädt und zum Lösen von den damit einhergehenden spannungsgeladenen Strategien der Umsetzung. Er ermutigt uns zur Absichtslosigkeit und zum Einlassen auf einen neuen Weg, der so anders und doch verheißungsvoll ist – und nicht ohne (positive) Nebeneffekte bleibt.
So soll im Folgenden auf verschiedene Ausprägungsformen der Absichtslosigkeit eingegangen und aufgezeigt werden, dass und was wir – wie beiläufig – dadurch gewinnen können, dass wir etwas nicht mehr wollen. Um begriffliche Missverständnisse zu vermeiden: in diesem Text ist mit »Absicht« oder »Zweckorientierung« ein Modus gemeint, der auf ein (wie auch immer gelagertes) »Ziel« oder »Soll« fixiert ist und jegliches Handeln diesem unterordnet. Absichtslosigkeit hingegen zeichnet sowohl die Fähigkeit eines achtsamen Gewahrseins des Augenblicks aus, des »Ist«, als auch – und dahingehend unterscheidet sie sich von Ziellosigkeit –, dass das absichtslose Handeln gleichzeitig ausgerichtet ist auf ein mögliches Ziel. Priorität hat dabei jedoch nicht das Ziel, sondern der Weg, die Qualität des Augenblicks, des gegenwärtigen Handelns.
Alexandertechnik
Wie schon angedeutet kann die Alexandertechnik als kombiniertes Achtsamkeits- und Bewegungstraining bezeichnet werden, welches Menschen aufzeigt, wie sie nachteilige Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten identifizieren und diese hin zu einem ganzheitlichen gesundheitsförderlichen Muster transformieren. Nachteilige Komponenten können dabei sowohl körperlicher Art sein, zum Beispiel eine übermäßige Muskelspannung, ein unsachgemäßer Gebrauch des Bewegungsapparats wie das Nicht-Benutzen von Gelenken und kompensatorische Überbelastung anderer Strukturen. Sie können auch geistiger Art sein, wenn wir über die vollständige Fixiertheit auf ein gewünschtes Resultat (das »Was«) die Qualität unseres Tuns (das »Wie«) ignorieren. All diese Aspekte können fester Bestandteil eines unbewussten Bewegungsmusters sein, das die reibungslose und selbständige Arbeitsweise unseres Organismus behindert, wovon irgendwann häufig Schmerzen zeugen.
Dass körperliche und geistige Prozesse menschlicher Aktivität Hand in Hand gehen, ist durch den Begründer der Alexandertechnik, F. M. Alexander (1869-1955) in seiner Tiefe erkannt und zum Ausgangspunkt seiner Methode gemacht worden. Vor über 100 Jahren hatte er die Entdeckung gemacht, dass seine Stimmprobleme auf den eigenen ungünstigen Gebrauch seiner Stimme beim Sprechen zurückzuführen war. In einem mehrjährigen Prozess der Beobachtung in Spiegeln und der Introspektion fand er zunächst muskuläre Spannungen, die den Sprechapparat beeinträchtigten. Richtunggebende Gedanken der Weite, Länge, Weichheit und Entspanntheit wirkten diesen Tendenzen entgegen. Später erkannte er, dass seine Muskulatur in dem Moment verkrampfte, da er im Geiste beabsichtigte zu sprechen. Erst als es ihm gelang, in diesem Moment innezuhalten und er die drängende Absicht, endlich zu sprechen, zurücknehmen konnte; er innerlich an dem Punkt war, dass er auch schweigen oder etwas völlig anderes hätte tun können, konnte er auf eine neue Weise sprechen, die ihm keine Heiserkeit mehr bescherte. Der Moment der Zurücknahme seines Wollens und das absichtslose Ausrichten auf begünstigende Tendenzen der Weite und Entspanntheit seines Sprechapparats stellte den Wendepunkt dar; den Moment, wo tiefgreifende Veränderung möglich wurde.
Absichtslosigkeit als Veränderung
Häufig motiviert Menschen der Wunsch nach einer künftigen Veränderung, beispielsweise nach einem besseren Gesundheitszustand, Erfolg, selbstbewussterem Auftreten, nach mehr Gelassenheit oder Ausgeglichenheit. So machen sie sich auf einen Weg, von dem sie denken, dass er zu dem gewünschten veränderten Zustand führt. Aus der Perspektive der Alexandertechnik ist die eigentliche Veränderung aber nicht erst ein neuer Zustand, sondern die neue Einstellung, die einen gewünschten Zustand eben nicht mehr herbeisehnt und unmittelbar zu etablieren beabsichtigt. Von seiner Zweckorientierung befreit ist der Blick nicht mehr fixiert auf diesen Zweck (endgaining), sondern offen, sich voll auf den Weg dahin einzulassen. Eine bewusst eingenommene absichtslose innere Haltung hilft uns, auf einen Stimulus nicht in der gewohnten (unbewussten und möglicherweise nachteiligen) Weise zu reagieren. Erst wenn wir für einen Moment nichts mehr bezwecken wollen, dann erkennen wir neben der einen, vermeintlich zweckdienlichen Reaktion weitere Handlungsmöglichkeiten und können bewusst wählen, wie wir eine bestimmte Bewegung ausführen oder ganz allgemein in einer gegebenen Situation handeln.
Ist es nicht logisch, was schon Einstein sagte? »Wir können unsere Probleme nicht mit dem gleichen Denken lösen, das sie verursacht hat«. Wo wir häufig so vieles beabsichtigen, zielstrebig erreichen oder vermeiden wollen und dabei mittelfristig weder gesünder noch glücklicher werden – warum probieren wir es nicht einmal ohne Wollen, mit Absichtslosigkeit? Für diese gedankliche und körperliche Kehrtwende sind Mut und Vertrauen nötig. Es ist die Aufgabe von uns Lehrenden der Alexandertechnik, unsere Schüler auf diesem Weg ins Neue, Unbekannte, zu begleiten. Sie einzuladen, gewohnte Anspannung loszulassen, um eine neue Erfahrung zu machen. Vielleicht zunächst der Orientierungslosigkeit und Fragilität. Aber schon bald der Lebendigkeit, Beweglichkeit und der entspannten Gelassenheit. Paradoxerweise ähneln diese neuen Erfahrungen häufig dem, was man zuvor so gerne zielstrebig und doch erfolglos erreichen wollte. Meine eigene Erfahrung mit der Alexandertechnik ließ mich genau dies erleben.
»Bewusste Absichtslosigkeit erfordert Bewusstheit.«
Bewusste Absichtslosigkeit erfordert Bewusstheit. Sie ist das immer wieder aufzufrischende Instrument, unbewusste nachteilige Gewohnheiten bewusst und tatsächlich durch vorteilhaftere zu ersetzen. Die ganzheitliche Entwicklung und Entfaltung von Bewusstheit ist der eigentliche Kern der Lehre von F. M. Alexander. Marjory Barlow, eine der von ihm in erster Generation ausgebildeten Lehrerinnen sagte in einem Gedächtnis-Vortrag zehn Jahre nach dem Tod Alexanders im Jahr 1955:
Alexanders Vision von der Möglichkeit der individuellen Entfaltung in der Entwicklung von Bewusstsein und wacher Bewusstheit war die stärkste Triebfeder seines Lebenswerkes. Es ist dieser Aspekt seiner Lehre, die ihn in die direkte Tradition der großen Menschheitslehrer stellt. Genau diese Seite seiner Lehre ist es, die so leicht verlorengehen könnte. (Marjory Barlow)
Spiritualität
Die Wege der großen Religionen Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus sind, vereinfacht gesagt, in unterschiedlicher Ausformung auf die Begegnung, Gegenwart und Einheit eines Ersten Prinzips (Gott, Brahman… wären einige Bezeichnungen dafür) ausgerichtet. »Spiritualität« ist zu verstehen als eine Einstellung und Geisteshaltung, die etwas Materiellem einen geistigen Sinn zuweist: Materielles und sinnlich Wahrnehmbares interpretiert sie auf Immaterielles hin. Alles Materielle unterliegt dem Wandel, ist vergänglich: Güter, Ruhm, Menschen… nichts davon ist ewig andauernd. Daher kann das Bestreben, dergleichen zu erreichen und daran festzuhalten nur Scheitern, Leid und Unglück verursachen. Und so beschreiben verschiedene spirituelle Richtungen einen Weg, der von der Rücknahme des eigenen Willens zugunsten einer absichtslosen Haltung geprägt ist. Sie ist übereinstimmendes Begleitmoment eines Weges zu einem Ziel, wobei der Weg selbst zum Ziel wird.
»So beschreiben verschiedene spirituelle Richtungen einen Weg, der von der Rücknahme des eigenen Willens zugunsten einer absichtslosen Haltung geprägt ist.«
»Fürchtet euch nicht!« schallt es wortwörtlich mannigfach aus Torah, Bibel und dem Koran und im übertragenen Sinne auch aus den Schriften der hinduistischen Religionen und des Buddhismus. Sie ermutigen Menschen, sich auf den spirituellen Weg einzulassen, ihre vielfältigen rastlosen Absichten loszulassen und stattdessen eine absichtslose Haltung einzunehmen. Sie haben dabei nichts zu befürchten, ganz im Gegenteil: Absichtslosigkeit disponiert den Gehenden überhaupt erst für das »Erreichen« des Ziels, nämlich zur Begegnung mit dem Unaussprechlichen, dem Ersten Prinzip.
»Wer nicht an seinem immer wieder neu auf Materielles und Vergängliches gerichteten Willen festhält, kann im Falle des Verlusts (der nur eine Frage der Zeit ist) unbekümmert sein.«
Gleichzeitig – und dies ist von besonderer Bedeutung – vermag sie bereits im Diesseits ansehnliche Nebeneffekte hervorrufen: denn wer nicht an seinem immer wieder neu auf Materielles und Vergängliches gerichteten Willen festhält, kann im Falle des Verlusts (der nur eine Frage der Zeit ist) unbekümmert sein. So kann sich eine tiefe innere Gelassenheit im Umgang mit sämtlichen Gegebenheiten des täglichen Lebens einstellen, die man unter den Gesetzen des Materiellen vergeblich sucht.
Christentum und Meister Eckhart
Absichtslosigkeit und die Reduktion des eigenen Wollens ist ein Kernelement der Imitatio Christi, der Nachahmung des in Jesus Christus offenbar gewordenen Gottes, welcher das Christentum als Weg beschreibt.
In den Evangelien wird dies in zahlreichen Gleichnissen deutlich. Jesus sagt: »Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.« (Joh, 15). Wer seinen Willen nicht absondert, sondern aus der Nachfolge Christi heraus lebt, der bringt reiche Früchte; er entfaltet das ihm innewohnende göttliche Potenzial. In vielen weiteren Bibelstellen appelliert Jesus an die Menschen, sie sollen ihren eigenen zugunsten Gottes Willen zurücknehmen. In seinem zentralen Gebet, dem Vaterunser, betet er: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.« (Mt 6,10). An anderer Stelle sagt er: »Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden« (Mt 16,25, Mk 8,35, Lk 9,24). Dieses Leben, das er finden wird, das »Himmelreich« ist dabei nicht als ein jenseitiges zu verstehen, sondern als ein im Diesseits zu verwirklichendes. Es wird in biblischen Gleichnissen oft als Weinberg dargestellt (Mt, 20): die Arbeiter, die schon seit frühem Morgen in Gottes Weinberg arbeiten, erhalten die gleiche Bezahlung wie diejenigen, die erst kurz vor dem Abend in den Weinberg gerufen werden: ihr eigentlicher Lohn besteht im Verweilen im Weinberg selbst, bei Gott, in seiner Liebe, in deren Gegenwart sich Sorgen und Ängste um sämtliche materielle Belange auflösen. In ihr realisieren sich Sinn, Freiheit und Potenzial des Menschen im Hier und Jetzt.
Im Spätmittelalter wurde auch der christliche Theologe und Philosoph Meister Eckhart (um 1260 bis 1328) nicht müde, auf eine absichtslose und nicht-wollende Haltung hinzuweisen, die die Gottesnähe fördern mag. Der Mensch sollte sich von jeglichem Bestreben reinigen, da die Hinwendung zu Gott mit einem auf die Welt gerichteten Wollen unvereinbar ist. Ja sogar das Streben nach Gott, das den ursprünglichen Antrieb zum Beschreiten des spirituellen Weges bildete, ist als Eigenwille abzustreifen. Meister Eckhart führt in seinen Schriften aus, dass eine nicht-wollende, absichtslose Haltung sich in einem angemessenen Abstand zwischen der Handlung und einem selbst äußert. Er differenziert zwischen »bei« und »in den Dingen stehen«:
(…), die alle ihre Werke ordnungsgemäß nach dem Vorbild des ewigen Lichtes ausrichten; und diese Leute stehen bei den Dingen und nicht in den Dingen.
»Bei den Dingen« stehen diejenigen, die in allem Handeln auf Gott ausgerichtet bleiben. Sie lassen sich nicht von den Digen, die sie tun, absorbieren, sondern es gibt einen gewissen Abstand zwischen den Dingen und ihnen selbst. »In den Dingen« steht jemand, der sich mit den Dingen identifiziert und wo das Ausgerichtetsein auf Gott gestört ist. Es liegt auf der Hand, dass im »in den Dingen Stehen« der eigene Wille aufflammt.
Die Reduktion des eigenen Wollens ist nun »eine Abgeschiedenheit von dem durch den Willen konstituierten ›Ich‹ und ein ›Loslassen‹ der ›Welt‹, um ganz in Gottes Liebe unterschiedslos anwesend zu sein«. Ein Nebenprodukt dieser Haltung ist Gelassenheit angesichts jedweden Vorkommnisses. Und diese wird zum Ausgangspunkt – nicht für Gleichgültigkeit der Welt gegenüber – sondern für beherztes Engagement in ihr.
Hinduismus
Der spirituelle Weg der hinduistischen Religionen ist auf die Befreiung aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) ausgerichtet: Moksha. Die Zurücknahme des eigenen Wollens gilt als die höchste religiöse Vollendung des Menschen, ermöglicht sie doch nicht-karmisches Handeln und ist daher die Bedingung für das Ausscheiden aus dem Zyklus der Wiedergeburten. Auf unterschiedlichen Wegen der hinduistischen Schulen wird durch eine Rücknahme des eigenen Willens und das Einüben einer gleichmütigen Geisteshaltung versucht, den Lauf der Kausalität zur Ruhe zu bringen, die Ansammlung von Karma zu beenden und in völliger Übereinstimmung mit dem Gesetz, Dharma, zu leben. »Karma-Marga« als willenlose Handlung (Weg der Tat), »Jnana-Marga« als eine den Willen aufhebende Erkenntnis (Weg des Wissens) oder »Bhakti-Marga« als eine den menschlichen Willen mit dem Willen der Gottheit verschmelzende Liebe (Weg der Hingabe) sind drei mögliche Wege, das Wollen aufzuheben, welches das Ich (Atman) an die Welt der Vielheit bindet.
In der Bhagavad Gita, einer zentralen Schrift der hinduistischen Religionen, wird ein Konflikt zwischen situativem und normativem Handeln veranschaulicht: Krishna (der personifizierte Brahman, Gott) erläutert dem Krieger Arjuna die Notwendigkeit des Verzichts auf das eigene Wollen für Karma-freies Handeln und für die Erfüllung des Gesetzes, welches ihn für die Befreiung aus dem Zyklus der Wiedergeburten disponiert. Verzicht ist zu verstehen als »Verzicht auf aller Taten Frucht«. Man wird zum Instrument der Ausführung und Vollendung einer Tat. Nicht man selbst, Arjuna als Subjekt, steht dabei im Vordergrund, sondern die Tat an sich, welche durch den Dharma, das Gesetz, vorbestimmt und festgelegt ist. Eine gute und beherzte Tat entspringt dem Gleichmut desjenigen, der sich nicht mit dem Resultat der Tat identifiziert. Wenn das ganze Tun des Handelnden auf Krishna gerichtet ist, dann beschert ihm dies darüber hinaus ein heiteres Gemüt; er »trauert (…) nicht und wünschet nicht«. Das höchste Geheimnis und die Befreiung, Moksha, aus der Welt der Wiedergeburten liegt also im Einklang des eigenen mit dem göttlichen Wunsch, indem der Gläubige seinen Willen zugunsten Brahmans zurücknimmt und sich diesem hingibt.
Buddhismus und Zen
Nach buddhistischer Auffassung ist alles Entstehen und Vergehen wechselseitig bedingt (Pratityasamutpada). Eine ewige Substanz (Atman), wie sie in den hinduistischen Glaubensvorstellungen existiert, gibt es im Buddhismus nicht. Nichts ist von Substanz, schon gar nicht von dauerhafter. Alles bedingt sich gegenseitig, ist vergänglich und somit leidbehaftet. Einen Weg zur Aufhebung des Leids stellt der achtfache Pfad dar, den der Buddha verkündete. Dieser zeigt auf, wie das Auflösen der Kondition, der Bedingtheit des Leides, nämlich »Nicht-Wissen« (avidya) und »Verlangen« (trisha), das Leid an sich aufheben kann und die Ausscheidung aus dem Zyklus der Wiedergeburten ermöglicht; Nirwana.
Nicht-Wissen meint die Unkenntnis, dass das eigene Ich keinerlei Substanz hat und nicht von Dauer ist, es also kein Atman gibt. Das Nicht-Wissen nährt wiederum das Verlangen, denn es suggeriert, dass mit Erfüllung eines temporären oder andauernden Verlangens ein verbesserter Zustand dieses Ich erreicht würde. Dass ein verbesserter Zustand nur ein anderer Zustand desselben Ich ist, der ebenso wie der Ausgangszustand erneut vergehen wird und aus diesem Grund überhaupt nicht besser oder erstrebenswert wäre, wird dabei ignoriert (daher Nicht-Wissen). Verlangen entsteht aus einem gefühlten Mangel, aus der Angst vor diesem Mangel, und dem Willen, ihn zu beheben. Das Beschreiten des achtfachen Pfades und die Erkenntnis der konditionalen Wechselwirkung von allem, dem bedingten Entstehen und Vergehen von allem, disponiert einen Buddhisten für die Erkenntnis der Leerheit von allem, ja gar der Nichtexistenz der Opposition von Samsara und Nirwana. Diese Erkenntnis erlöst ihn von weiteren Wiedergeburten. »Er« (der kein »er« mehr ist) verlischt.
Das Beschreiten dieses buddhistischen Pfades bringt die Auflösung von Verlangen, Anhaften, Hass, jeglichem Leid und jeglicher Frustration bereits zu Lebzeiten mit sich. Der Buddhist durchschaut, dass es nichts gibt, welches etwas anderes bedingen könnte; weder Freud noch Leid. Er erlebt Ruhe und Gelassenheit gegenüber der Dynamik und Komplexität des alltäglichen Lebens.
Auch im Zentrum des Zen-Buddhismus steht die Aufhebung aller Unterschiede. Wo es keine Oppositionen mehr gibt, steht Zen auch nicht mehr im Gegensatz zu anderen Religionen und kann von ihnen losgelöst praktiziert werden, ja gar unabhängig von Religion überhaupt. Besonders in der japanischen Tradition gibt es für dieses Üben verschiedene Disziplinen, in denen es darum geht, Meisterschaft im Alltag zu erlangen, ohne dass dieses Ziel angestrebt wird. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem jetzigen und einem zu erreichenden Zustand. Stetige Übung und Wiederholung helfen vielmehr beim Kultivieren von Absichtslosigkeit. Satori (Erleuchtung) ist eben kein anvisiertes Ziel im Zen. Zen mag daher als derjenige der bisher skizzierten spirituellen Wege bezeichnet werden, der sich selbst am wenigstes als »Weg« im Sinne einer Ausrichtung auf ein mögliches Ziel versteht. Das Realisieren der schon in jedem Menschen vorhandenen Buddha-Natur ist kein Ziel, für welches man sich durch Übung disponiert, sondern durch die richtige Haltung kann sie sich augenblicklich realisieren. Das Realisieren-Wollen sowie der Irrglaube, dass die Übung ein Mittel zu einem Zweck wäre, sind dabei hinderlich für die Realisierung.
If your practice is only a means to attain enlightment, there is no way to attain it. (Shunryu Suzuki)
Die Essenz des Zen ist bereits »die Haltung des Körpers, die Atmung und die Haltung des Geistes« in seiner ursprünglichen und ureigenen Natur. Man besinnt sich auf die Immanenz der Buddha-Natur in einem selbst; sie muss gerade nicht erlangt werden, weil sie schon immerwährend da ist und sich zeigen wird. Das Üben des Zen basiert auf dieser Gewissheit. In dieser Einladung zum Vertrauen in die Harmonie des universellen Lebens und in das sich entfaltende Potential des absichtslosen, nicht-wollenden Übens realisieren sich Frieden und Freiheit für die Menschen.
Fazit: Transformation durch Absichtslosigkeit
Es kann kein Zufall sein, dass verschiedene spirituelle Wege in unterschiedlicher Ausformung dem Menschen zur Zurücknahme seines Wollens und der Absichtslosigkeit anleiten. Sie tun es, weil dies der Weg der Vervollkommnung des Menschen ist. Der einzige Weg, der ihn transformiert und ihm Gott wirklich näherbringen kann. Dabei geht es nicht nur um eine entweder erfüllte oder nicht erfüllte Möglichkeit im Jenseits, sondern konkret um das Leben im Hier und Jetzt. So trägt die Disposition zur Vollendung, das Üben einer absichtslosen Haltung, bereits zu Lebzeiten ansehnliche Früchte:
Wenn Spiritualität als eine Geisteshaltung des Wanderns und Suchens beschrieben werden kann, die das mit Körpersinnen nicht Greifbare hin auf seinen letzten Seinsgrund sucht, so wird nun deutlich, dass eine solche Spiritualität Angstfreiheit, Gelassenheit und Freiheit schenkt. Das Festhalten am vermeintlich sicheren Ich ist dabei erstlich aufzugeben, da dies Festhalten in die Separation führt, welche eben Angst, Anhaften und Unfreiheit bedeutet. Und Gegensatz: Gegensatz, der unter Menschen nicht selten zu offenem Kampf aufbricht zur gegenseitigen Tötung, zu Krieg. So sind nicht nur Angstfreiheit, Gelassenheit und Freiheit Ertrag des Weges dieser Spiritualität, sondern auch Friede unter den Menschen, Friede überhaupt. (Bernhard Uhde)
Auch in der Lehre der Alexandertechnik ist der Moment, in dem jegliche Absicht und Zielstrebigkeit zum Stillstand gebracht wird, derjenige, aus dem heraus sich neue Möglichkeiten eröffnen. Erst durch Absichtslosigkeit kann sich das enge Zielstreben zur offenen Ausrichtung wandeln. Tauchen wir immer tiefer darin ein, dann verschwindet zu Beginn vielleicht der Impuls, übermäßige Muskelspannung in alltäglichen Situationen aufzuwenden und uns in einer entspannten und ausgerichteten, insgesamt vorteilhafteren Weise zu bewegen.
»Geben wir der Absichtslosigkeit immer mehr Raum in unserem Leben, dann merken wir, dass wir immer größeren Herausforderungen gelassen und ohne Furcht, entgegenblicken können.«
Geben wir der Absichtslosigkeit immer mehr Raum in unserem Leben, dann merken wir, dass wir immer größeren Herausforderungen gelassen und ohne Furcht, entgegenblicken können. Wir wissen, dass all die Reflexe der Anspannung, die nach vermeintlichen Sicherheiten und Schutz suchen, diese Sicherheiten nie finden werden und uns nur zusätzlich beeinträchtigen. Gerade im Angesicht größter Herausforderung sind wir mit all unseren Fähigkeiten, all unserem Potenzial, gefragt.
(…) reconditioning in my sense (…) enables the individual to take possession of his own potentialities. It converts the fact of conditioned reflexes from a principle of external enslavement into a means of vital freedom. (F. M. Alexander)
Wir sind mit Haut und Haaren, dem ganzen Selbst, auf existenzielle Weise eingeladen, alle Glaubenssätze, Denkkonzepte und damit verbundene körperlichen überflüssigen Spannungen aufzugeben. Wir sind eingeladen, unser sorgenvolles Wollen, das sich vor unangenehmen Folgen fürchtet und falsche Sicherheiten sucht, abzustreifen, es gegen Vertrauen einzutauschen und uns damit selbst zu befreien: von geistigen und auch körperlichen Anspannungen, mit denen nicht andere, sondern wir selbst uns beengen. Wir sind auf fundamentale Weise dazu berufen, den Unsicherheiten und Herausforderungen des Lebens gelassen und offen zu begegnen. Auch zu fallen, ja, um dann wieder aufzustehen, immer weiter zu wachsen und das Potenzial unseres Menschseins voll auszuschöpfen – sowohl im Einzelnen als auch im Miteinander.
Quellen
Bhagavad Gita. Des Erhabenen Sang. Übers. Leopold von Schröder. Köln 1959.
Bernhard Uhde:
West-östliche Spiritualität – Die inneren Wege der Weltreligionen. Eine Orientierung in 24 Grundbegriffen, Freiburg 2011.
Spiritualität und Werte. Zur Begründung von interkulturellen Werten. En Essay, West-Östliche Weisheit. Willigis Jäger Stiftung 2019.
»Fiat mihi secundum verbum tuum«. Die Zurücknahme des menschlichen Willens als ein Prinzip der Weltreligionen. Ein religionsphilosophischer Entwurf, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 1 (2002), S. 87-98.
Por qué creen lo que creen, Barcelona 2019
Matthias Alexander, The Universal Constant in Living, London 2000.
Institut für Interreligiöse Studien Freiburg (Hg.), Studienbrief zu Modul 3: Religionswissenschaftliche Grundlagen – Teil B: Wege östlicher Weisheit, Freiburg 2021.
Meister Eckhart, Deutsche Predigt 86, in: Die Deutschen Werke.
Shunryu Suzuki, Zen Mind, Beginner’s Mind, New York 1970
Taisen Deshimaru-Roshi, Zen in den Kampfkünsten Japans, Weidenthal 1978, S. 152f.
Teresa Brunnmüller ist Lehrerin der F. M. Alexander-Technik, studierte Kulturmanagerin und Vorstandsmitglied des Alexander-Technik-Verbands Deutschland e.V. Im Christentum verwurzelt hat sie sich seit 2020 eingehend mit Weltreligionen und der spirituellen Dimension der Alexandertechnik beschäftigt. Sie gibt Einzelstunden und Gruppenseminare, immer wieder auch in Klöstern.
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