Von der Verdeckung zur Wiederentdeckung des Leibes (Teil 2)
Im ersten Teil dieses Artikels wurde aufgezeigt, wie es durch den modernen Körperkult zur Verdeckung des Leibes und damit zur Leibvergessenheit kam. Dieser zweite Teil befasst sich mit seiner Wiederentdeckung. So bilden Körper und Seele eine Einheit im Leib, der die Ganzheit des in den Körper gefahrenen Bewusstseins darstellt.
5) Die Wiederentdeckung des Leibes
Die Bemühungen um das Wiederaufdecken des Leibes vollzogen sich in einem Zick-Zack-Kurs, an dessen Verlauf viele Gelehrte und Suchende mitwirkten. Doch am Ende konnte die platonische Körper-Seele-Lehre, zumal nach der Unterstützung durch die Theorien René Descartes‘, die Richtung für sich bestimmen. Von den zahlreichen Beiträgen, die gegen diesen Trend das Konzept des Leibes zu aktualisieren versuchten, können hier nur einzelne Stationen ausgewählt werden. Im Frühchristentum erweist sich der Apostel Paulus, dessen scheinbar negative Körper- und Leibauffassung oft missverstanden wird, als glühender Verfechter der ganzheitlichen Leiblichkeit. Im Mittelalter sind es die Erfahrungswege der christlichen Mystiker:innen, die in ihrem spirituellen Erleben den Leib ins Zentrum rücken. Die Neuzeit ist vertreten durch Friedrich Nietzsche, der innerhalb der Philosophiegeschichte den Leib als Basis der menschlichen Existenz »am radikalsten ernstgenommen hat« (Gerhard Danzer 2003: 106).
Paulus
Unmittelbar nach Platon veränderte Aristoteles die Sicht auf den Dualismus von Körper und Seele, indem er auf der Basis eines ganzheitlichen Denkansatzes den Zusammenhang dieser beiden Pfeiler des menschlichen Seins lehrte. Seine Anschauung konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Vielmehr nahm das frühe Christentum die platonische, später neuplatonische Idee der strikten psycho-somatischen Teilung konstruktiv auf, da sie anschlussfähig war an das christliche Modell einer unsterblichen Seele. Als Ausnahme muss daher der Apostel Paulus gelten, auch deshalb, weil der Leib für Paulus niemals verdeckt war, sondern Voraussetzung seiner Anthropologie ist: »Die von der Odyssee zu Platon führende Entwicklung«, schreibt Hermann Schmitz, »scheint an Paulus spurlos vorübergegangen zu sein«; Paulus verfolge vielmehr »eine hocharchaische Deutung des Menschseins, die hinter die personale Emanzipation zurückgeht und in manchen Zügen an den Standpunkt der Ilias erinnert« (1998: 371f). Die Vorbedingungen für Paulus‘ Menschenbild liegen jedoch im jüdischen Denken des Alten Testaments. Denn der von Gott aus Ackerboden und göttlichem Lebensatem erschaffene Mensch erfährt an sich keine Spaltung in einen sterblichen, materiellen Körper und eine unsterbliche, immaterielle Seele, sondern bildet eine Einheit, die dem ganzheitlichen Konzept des Leibes entspricht (Theresa Heimerl 2019: 167).
»Der Austragungsort dieses Disputs ist der Leib, der damit zu einem Konfliktfeld wird.«
Grundlegend für das Verständnis des paulinischen Menschenbilds sind die griechischen Vorstellungen von soma, sarx und pneuma. Soma bezieht sich meist auf den Leib des Menschen, das heißt auf sein vollständiges, ganzheitliches Sein. Der Begriff wird in den Bibelübersetzungen aber oft unscharf mit Körper als auch Leib wiedergegeben (Schmitz 1998: 513; Peter Wick 2020: 25f). Im Unterschied zu soma bezeichnet sarx die reine Materialität des Körpers, mit der eine gewisse Begrenztheit verbunden ist; üblicherweise wird sarx als Fleisch übersetzt (Heimerl 2019, 168). Das Fleisch ist weder mit dem Leib noch dem Körper gleichzustellen, es ist vielmehr »eine Macht, die den sündigen Leidenschaften Gelegenheit bietet, sich im Körper auszutoben« (Schmitz 1998: 510). Daher gilt das Fleisch als Gegenspieler von pneuma, dem göttlichen Geist, dem der Mensch sich öffnen und dem er in seinem Leib eine Wohnstatt bieten soll. Das Verhältnis, das den Leib, das Fleisch und den Geist aneinander bindet, ist also dadurch bestimmt, dass das Fleisch und der Geist um die Vorherrschaft im Menschen streiten. Der Austragungsort dieses Disputs ist der Leib, der damit zu einem Konfliktfeld wird. Dem Menschen steht hier kein seelischer Innenraum zur Verfügung, in den er sich, wie bei Platon, zur Distanzierung aus dem eigenen Leib zurückziehen könnte. Insofern ist der Mensch den Einflüssen dieser ihn ergreifenden Kräfte ausgeliefert wie der homerische Mensch der Ilias, allerdings entstammen diese Mächte nicht der materiellen Außenwelt, sondern es sind »Mächte der intimen Initiative« (ebd.: 509).
Paulus wird regelmäßig vorgehalten, er habe den Körper abgelehnt und den Antagonismus von Körper und Seele konsolidiert (Danzer2003: 89f). Paulus ist aber weder körper- noch leibfeindlich, er will einzig der negativen Macht des Fleisches entgegenwirken, die den Menschen von Gott entfernt. Rieger bemerkt daher korrigierend: »Nicht für eine Abwertung des Leiblich-Körperlichen tritt Paulus ein, sondern für seine Erlösung und Transformation« (2019: 79). Damit diese erlösende Verwandlung gelingen kann, muss der Mensch sich befreien aus einer Existenzweise, die durch die sündigen – wörtlich: absondernden – Einflüsse des Fleisches bestimmt ist, ohne jedoch seinen Leib, der er ja selbst ist, aufzugeben. Sich selbst transformierend soll der Mensch stärker in die vom göttlichen Geist bestimmte Existenzweise eingehen, wodurch sein Leib der Macht des Fleisches schrittweise entrissen wird. In diesem Sinn mahnt Paulus im Brief an die Korinther an, den Leib zur Heimstatt des Geistes zu machen: »Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?« (1 Kor 3, 16); »Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt und dass ihr nicht euch selbst angehört?« (1 Kor 6, 19).
Auf der Grundlage dieses Verständnisses kann ein »leiblicher Gottesdienst“ (Rieger 2019: 183ff) erfolgen, bei dem der Mensch Gott in seinem Leib bzw. einem am Leib orientierten Lebenswandel dient: »Verherrlicht also Gott in eurem Leibe!« (1 Kor 6, 20b). Schmitz sieht in diesen Bildern, die den Leib als Tempel des göttlichen Geistes interpretieren, »die restlose Leibgebundenheit des Erlebens« (1998: 513) bei Paulus bestätigt. Der Geist ist hier nicht, wie zu späteren Zeiten des Christentums, in der Seele des Menschen verortet, da der Mensch »für Paulus keine Seele und auch sonst kein Asyl hat, in das er sich zwecks unleiblicher Gottesverehrung zurückziehen könnte« (ebd.: 518). Der Geist durchdringt vielmehr den ganzen Leib. Diese Deutung entspricht weitgehend einer Definition des Leibes von Böhme: »Die Selbsterfahrung, in der der Leib gegeben ist, ist das leibliche Spüren bzw. der Leib ist die räumliche Verteilung dieses Spürens selbst« (2021: 13). Zugleich ist der paulinische Mensch in seiner Beziehung zu Gott auf seinen Leib angewiesen. Entsprechend definiert Rieger: »Leib ist das Medium der Selbst-, Welt- und Gottesbeziehung, das der Mensch selbst ist« (2019: 79).
»Der Yogi sieht nicht in den Himmel hinauf, um Gott zu finden, denn er weiß, dass Er in ihm ist.«
Das paulinische Menschenbild konnte im christlichen Denken nicht wirklich Fuß fassen. Jedoch führt ein abseitiger Pfad vom Leibkonzept des Paulus zur Mystik des modernen Yoga, der durchaus begangen wird. Yoga ist eine Bewegungs- und Meditationsform, eine Atem- und Bewusstseinsschulung, die das Erleben einer Einheit von Körper, Geist und Seele anstrebt. Deshalb überrascht es letztlich nicht, bei B.K.S. Iyengar (1918-2014), einem bedeutenden indischen Yogalehrer, Aussagen zu finden, die denen von Paulus sehr nahekommen. In seinem Standardwerk Licht auf Yoga schreibt er zum Beispiel, der Körper des Yogis sei »ein Tempel, in dem der göttliche Funke wohnt«. Die Bedürfnisse des Körpers seien »jene des göttlichen Geistes, der durch den Körper lebt. Der Yogi sieht nicht in den Himmel hinauf, um Gott zu finden, denn er weiß, dass Er in ihm ist« (2001: 35). An anderer Stelle erklärt Iyengar, dass einerseits der Körper zwar sterblich sei, »aber dass wir auch nur durch den Körper einen Einblick in das Göttliche gewinnen können« (2014: 62). Die vielen Menschen, die heute weltweit Yoga üben, tun dies nicht zuletzt auch, weil sie auf der Suche sind nach leiblichen, ganzheitlichen Erfahrungen, weil sie ihre verschütteten Persönlichkeitsanteile an die Oberfläche holen wollen (Andreas Hahn 2020b: 17). In einer Studie des BDYoga von 2023 gibt etwa die Hälfte der Befragten an, Yoga zu praktizieren, um ihr geistiges Befinden zu verbessern, etwa ein Viertel äußert Interesse auf geistig-spiritueller Ebene. Oft ist diese Suche mit einer unbestimmten Hinwendung zu östlichen Religionen verbunden, wovon die häufig in Yoga-Studios, aber auch in privaten Vorgärten zu findenden Buddha-Statuen zeugen. Es wäre wohl erstaunlich und widersprüchlich für die betreffenden Menschen festzustellen, dass ihr Streben nach spiritueller Leiblichkeit mit der urchristlichen Denkweise des Apostels Paulus übereinstimmt. Die evangelische Kirche hat diese Sehnsucht der Menschen nach ganzheitlichem Erleben erkannt und den aus nicht christlichen Ursprüngen stammenden Yoga in ihr spirituelles Angebot aufgenommen (Hahn 2020a). Hier könne sich der Mensch wieder »als lebendige Einheit von Körper und Geist erfahren« (Wick 2020: 30). So schließt sich, vermittelt durch die Sehnsucht, sich aufzuspüren, ein Kreis zwischen der frühchristlichen Mystik des Paulus, der Mystik des Yoga und dem Christentum der Gegenwart.
Christliche Mystik des Mittelalters
Bereits in den Anfängen des Christentums wies die Anthropologie des Paulus einen möglichen Weg zu einer ganzheitlichen Leibkonzeption, sie wurde aber nicht angenommen. Ähnliches wiederholt sich in Verbindung mit der christlichen Mystik des Mittelalters. Diese Form der Suche nach einer authentischen Spiritualität entwickelte sich primär in den klösterlichen Ordensgemeinschaften, die ab dem 11. Jahrhundert als Reaktion auf den wachsenden Machteinfluss von Kirche und Theologie zahlreich neu gegründet wurden. Die christlich-klösterliche Ordensbewegung verstand sich als Gegenpol zu diesen offiziellen Instanzen, sie wollte in ihren Gemeinschaften eine neue, andere Art des Glaubens und der Religiosität praktizieren. Gott als den inneren Schatz in der Tiefe des eigenen Selbst aufzuspüren, das war ihr Ziel. Dieses Streben wurde dann als Einung, das heißt unio mystica bezeichnet.
»Gott als den inneren Schatz in der Tiefe des eigenen Selbst aufzuspüren, das war ihr Ziel.«
In der christlichen Mystik haben sich vielfältige Ausdrucks- und Empfindungsformen herausgebildet. Zwei Richtungen werden dabei als bestimmend hervorgehoben, nämlich die spekulative und die affektive Mystik. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht rational erfassbare Zustände wie Visionen und Auditionen in das mystische Erleben miteinbezieht. Mystik wird demnach, so Saskia Wendel, »als ›cognitio Dei experimentalis‹ (Erkenntnis Gottes durch Erfahrung)« (2011: 25) aufgefasst, und diese Erfahrung der Gottesgemeinschaft wird körperlich gespürt, durchdringt den Körper in allen Bereichen. Gemäß Schmitz, der das »affektive Betroffensein«, das Spüren des eigenen Körpers, zum Kriterium für die Definition des Leibes macht, handelt es sich somit um eine leibliche Erfahrung; der Leib ist der Austragungsort des mystischen Erlebens (Schmitz 1998: 529ff). Teilweise spielen dabei erotische Empfindungen eine Rolle, weshalb auch von ›Liebes‹- oder ›Brautmystik‹ gesprochen wird. Oft sind es tatsächlich Frauen, deren mystisches Erleben diese Form annimmt, umgekehrt handelt es sich bei der sogenannten ›Frauenmystik‹ meist um affektive Mystik. Denn zum Sammelbecken dieser mystischen Ausdrucksform wurden im 13. und 14. Jahrhundert die Klöster der Franziskanerinnen und Zisterzienserinnen sowie die Gruppierungen innerhalb der Beginenbewegung, Frauen, die jenseits der Orden in kleinen christlichen Haus- und Lebensgemeinschaften unabhängig von Ordensregeln eine intensive Spiritualität lebten.
In deutlichem Unterschied zur affektiven Mystik ist die spekulative Variante rein theoretisch-philosophisch ausgerichtet. Visionen oder andere ekstatische Erfahrungen werden hier vehement abgelehnt. Als reinster Vertreter der spekulativen Mystik gilt Meister Eckhart. Gemäß seiner Lehre wird das mystische Erleben »ein bildloses, gewissermaßen intellektives Schauen und Erfahren Gottes« (Wendel 2011: 26). Laut Anselm Grün hatte Meister Eckhart »wohl den größten Einfluss auf die Mystik von heute« (2009: 48). Entscheidend für diese Einschätzung ist der Gedanke der »Gottesgeburt in der Seele« (ebd.: 50). Meister Eckhart macht den denkenden Geist und die Seele zum Ort des mystischen Erkennens und bindet damit die christliche Spiritualität fest an die (neu-)platonische Philosophie. Sicher hat die Vorstellung, mit dem mystischen Erleben in den eigenen Seelengrund zu tauchen, eine starke Anziehungskraft, weil die Seele einen sicheren, unangreifbaren Rückzugsort bildet. Gleichzeitig zementiert diese Form der mystischen Erfahrung aber den Dualismus von Körper und Seele beziehungsweise Geist, denn der Körper beziehungsweise der Leib sind von der mystischen Offenbarung völlig ausgeschlossen. Dennoch setzt sich mit Meister Eckhart die in der Seele wurzelnde spekulative Mystik gegenüber dem affektiven Weg durch. Genau hier setzt die Kritik von Schmitz an.
Die Tatsache, dass die Mystiker:innen der affektiven Ausrichtung »ihr religiöses Betroffensein und Verhalten als einen leiblichen Vorgang, ohne Rücksicht auf die Seele beschreiben können« (1998: 529), hält Schmitz für einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses. Obwohl er auch bei Meister Eckhart Zeichen der affektiven Mystik erkennt, macht Schmitz ihn primär für den Verfall dieser auf leiblichen Erfahrungen beruhenden Version der unio mystica verantwortlich. Im Verfall der leiblichen Phänomene »zu unverbindlichen Begleiterscheinungen« (ebd.: 533) sieht Schmitz sich den Prozess wiederholen, der schon in der Zurückweisung des paulinischen Menschenbildes deutlich wurde. Das christliche Denken sei, so argumentiert er, »stramm im Kielwasser der griechischen Philosophie geblieben«; es entstehe der Eindruck, als ob »die religiöse Erfahrung im Christentum zwar die Möglichkeit eines Selbstverständnisses vom Leiblichen her angeboten, das christliche Denken aber diese Möglichkeit von sich gewiesen und verdrängt hätte« (ebd.: 529). Und tatsächlich sind Anzeichen dieser Skepsis gegenüber der leiblich orientierten affektiven Mystik noch heute erkennbar, wenn etwa Isabella Bruckner ihre Aussage, im Zentrum dieser mystischen Ausrichtung stünden »Imaginationen und intensive körperliche Erfahrungen«, sofort relativiert durch den in Klammern hinzugefügten Kommentar: »wiewohl es sich ebenso um rein ›innerliche‹, also ›geistige‹ Erfahrungen handeln kann« (2020: 6). Hier wird deutlich, dass offenbar die geistig-seelischen Erfahrungen als höherwertig gelten im Vergleich mit dem leiblichen Erleben.
»Yoga ist Mystik des Leibes, also affektive Mystik, und wird vielfach praktiziert aus Sehnsucht, sich aufzuspüren.«
Dass jedoch die Sehnsucht nach leiblichen Erfahrungen bleibt, beweist der große Zulauf, den Yoga-Studios seit vielen Jahren verzeichnen. In Deutschland hat sich die Zahl der Yoga-Praktizierenden seit 2018 auf insgesamt 20 Prozent vervierfacht (BDYoga, 2023), der moderne Yoga als eine primär leiblich ausgerichtete Mystik hat also Konjunktur. Tatsächlich empfiehlt Gernot Böhme Leibesübungen zur Wiederentdeckung des Leibes und geht dabei auch auf Yoga ein – zu Recht, denn die Übungspraktiken des Yoga, die das Bewusstsein der Einheit von Körper, Geist und Seele anstreben, sind zweifellos als Leibesübungen zu betrachten (Blühdorn 2023). Entsprechend formuliert B.K.S. Iyengar: »Für einen Yogi (…) ist der Pfad hin zu Geist oder Seele ganz und gar im Reich der Natur angesiedelt.« Geist und Seele seien nicht vom Körper getrennt, Spiritualität sei »nichts Ätherisches oder Außernatürliches, sondern etwas, das in unserem eigenen Körper zugänglich und in ihm spürbar und greifbar ist« (2014: 50). Yoga ist Mystik des Leibes, also affektive Mystik, und wird vielfach praktiziert aus Sehnsucht, sich aufzuspüren.
Friedrich Nietzsche
Mit der Renaissance, dem Anbruch der Neuzeit, beginnt die »Grundlegung des anatomischen Zeitalters« (Schipperges 1981: 11); das Geheimnis des Blutkreislaufes wird entschlüsselt, die Wissenschaften der Anatomie und Pathologie entstehen. Heinrich Schipperges nennt auch für die folgenden Jahrhunderte Entdeckungen aus Naturwissenschaft und Medizin, die den Menschen immer mehr zu einer messbaren Größe machen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts habe sich diese Auffassung innerhalb der Medizin schließlich durchgesetzt, der menschliche Körper sei auf einen physiologisch-chemischen Apparat reduziert worden. Das ist der kulturelle und wissenschaftliche Rahmen, in den Nietzsche sich mit seinem Denken gestellt sieht und in den er einzuordnen ist. Tobias Niklas Klass spricht daher folgerichtig von der »Leibvergessenheit seiner [Nietzsches] Zeit« (2019: 197). Doch ebenso gibt es Anknüpfungspunkte. Denn im Humanismus der Renaissance wandelte sich auch die Einstellung zur Natur, zum menschlichen Körper sowie der darin verborgenen Seele. Die Werke von Gelehrten wie Paracelsus (1493-1541) und Spinoza (1632-1677) oder Künstlern wie Leonardo Da Vinci (1452-1519) und Michelangelo (1475-1564) geben davon Zeugnis. Insbesondere Spinoza wurde mit seinem pantheistischen Denkansatz bestimmend für die Frühromantiker, aber auch für Nietzsche.
Von der Mystik des Mittelalters erfolgt hier also ein Sprung in die Neuzeit zu Nietzsche, der unter chronologischen Gesichtspunkten bereits zu der ersten Generation derjenigen gezählt werden kann, die sich dezidiert mit dem Leib beschäftigten. Nietzsches Philosophie markierte in ihrer Neuartigkeit einen Bruch mit der zu seiner Zeit gültigen philosophischen Tradition. Bis heute wird er als einer »der umstrittensten Denker der jüngeren Vergangenheit« (Wolfgang Röd 2002: 62) beschrieben. Die Fronten der Auseinandersetzung mit Nietzsche reichen daher von Ablehnung oder völliger Missachtung einerseits zu apologetischen Interpretationsversuchen andererseits (Guido Rappe 1998: 135f). Zum erstgenannten Lager zählt offenbar Schmitz, der auf Nietzsche und dessen Aussagen zum Leib so gut wie nicht eingeht. Zudem gilt Nietzsches Werk als unsystematisch. Selbst Schipperges, eindeutig einer der Fürsprecher Nietzsches, sieht in dessen Schriften »eher ein Gewebe komplizierter Figurengruppen« (1975: 10). Klass hebt in dieser Unordnung zudem die Widersprüchlichkeit der Aussagen hervor; Nietzsches Denken sei »fast durchgängig von Ambivalenzen und Positionswechseln geprägt« (2019: 198), entsprechend groß sei »die Anzahl sich direkt widersprechender Aussagen« (ebd.: 196). Schließlich ist das Werk Nietzsches unübersichtlich, da er sich, häufig in Aphorismen, zu vielen Themen geäußert hat – und das in wenig systematischer Form. Obwohl sich Nietzsches Philosophie somit als kontrovers erweist, soll sein Beitrag zur Leibphilosophie hier die abschließende Station auf dem Weg der Wiederentdeckung des Leibes markieren. Denn seine oft provokanten Aussagen legen Rappe zufolge »gleichsam den Finger auf die Wunde der verdrängten Leiblichkeit, die bis heute nicht verheilt ist« (1998: 136).
In der Vorrede zu Die Fröhliche Wissenschaft (1882) schreibt Nietzsche: »Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im großen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen ist« (1982: 12). Klass interpretiert die große Bedeutung, die Nietzsche dem Leib beimisst, als »Abwehrgeste« (2019: 196) gegen die – aus Nietzsches Sicht – Verlogenheit der Philosophie seiner Zeit. Denn deren vermeintlicher Fortschritt basiere auf der Verdrängung der tiefsten und wahrhaftigsten Seinsschichten des Menschen, sie setze auf Geist, Vernunft und Ideal anstatt auf die Unverfälschtheit und umfassende Ganzheit des Leibes. In Nietzsches Werk, besonders in seiner Schrift Also sprach Zarathustra (1883-85), finden sich durchgehend Aussagen zum Leib, die nahelegen, Nietzsche stehe auf dem festen Grund einer eigenen, klar abgesteckten Leib-Konzeption. Ausdrücklich warnt jedoch Klass davor, »Nietzsches berühmte und gerade in der Leib-Diskussion gern zitierte Formeln« (ebd.) allzu leichtfertig wiederzugeben. Denn was Nietzsche nicht bietet, ist eine verlässliche Definition dessen, was der Begriff ›Leib‹‘ für ihn konkret bedeutet.
Ungeachtet dessen können aber einige diesbezügliche Kerngedanken festgehalten werden. Eindeutig unterscheidet Nietzsche den Leib von einem rein anatomischen Gebilde, wenn er schreibt: »Wie verschieden ist der Leib, wie wir ihn empfinden, sehen, fühlen, fürchten, bewundern, und ›der Leib‹, wie ihn der Anatom uns lehrt!« (zit. in Schipperges 1975: 24f). Damit formuliert er treffend die in der Leibphilosophie heute übliche Unterscheidung zwischen Leib und Körper. Zugleich setzt Nietzsche den Stellenwert des Leibes höher an als den des Geistes oder des Bewusstseins. Nicht das menschliche Bewusstsein sei das bemerkenswerte Phänomen, sondern: »Das Erstaunlichere ist vielmehr der Leib: man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib möglich geworden ist« (ebd.: 24). Nietzsche bezweifelt sogar mehrfach, darin sehr nah an der Position von Schmitz, die Existenz der Seele: »Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und die Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft« (2012: 383). Dieser ›großen Vernunft‹ des Leibes steht der Geist als ›kleine Vernunft‹ gegenüber. Dabei sind die Hierarchien so geregelt, dass der Geist ein Instrument des Leibes ist: »Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens« (ebd.: 384), was Stephan Grätzel treffend so interpretiert: »Der Seinsbegriff der kleinen Vernunft bedeutet nur eine Oberfläche des eigentlichen Seins“ (1989: 129).
Nietzsche identifiziert das Selbst nicht mit dem Geist oder der Seele, wie es der platonisch-cartesianischen Auffassung entspräche, sondern der Ort des Selbst ist der ganzheitliche Leib. Der Mensch ist sein Leib: »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er« (2012: 383f). Diesen Leib sieht Nietzsche als einen aktiv handelnden Komplex, er ist eine »Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Tätigkeiten, (…) ein wählender, kluger, rücksichtsvoller Gehorsam« (zit. in Schipperges 1975: 24). Das Bild des tätigen Leibes zeigt, dass Nietzsche die physiologischen Vorgänge, die innerhalb der modernen Leibphilosophie der körperlichen Ebene zugeschrieben würden, im Leib verortet. Er tut dies, um den Leib mit seinen Instinkten und Affekten von der rein ideell-geistigen Bewusstseinssphäre klar abzugrenzen und als eine Einheit ernst zu nehmen, die tatsächlich spür- und fühlbare Bestandteile hat. Damit nähert er sich dem Konzept der Leibesinseln bei Schmitz an, die den Leib ebenfalls selbstständig und mit realen Effekten agieren lassen. Wenn Nietzsche sich seit Mitte der 1880er Jahre intensiv mit Physiologie befasst, bedeutet das keine Zuwendung zu den Naturwissenschaften, denen Nietzsche kritisch gegenüberstand (Rappe 1998: 142), sondern die Begründung eines neuen, gesicherten Zugangs zum Leib, der das Spekulative hinter sich lässt. Die Physiologie, erklärt Grätzel, »beschreibt somit positiv das Selbstbewusstsein des Leibes. Hierbei kann sich die große Vernunft selbst erfassen. Die auf diese Art und Weise sich erfassende Leiblichkeit ist Wissen, alle anderen Formen von Gewissheit sind nur Schattierungen einer den Leib missachtenden oder verachtenden Betrachtungsweise« (1989: 126). Letztlich ist also der menschliche Leib, und damit der Mensch, für Nietzsche Natur, denn »dies redlichste Sein, das Ich, das redet vom Leibe« und der Leib »redet vom Sinne der Erde« (2012: 382f, Zarathustra). An anderer Stelle schreibt Nietzsche: »Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: Wir selber sind Natur!« (zit. in Schipperges 1975: 28). Diese Aussagen erinnern an die Definition des Leibes bei Böhme: »Der Leib ist die Natur, die wir selbst sind.«
Fazit
Obwohl Nietzsche keine systematische und in sich geschlossene Theorie des Leibes entwickelt hat, ist die Auseinandersetzung mit ihm lohnend, weil er, so Klass, »ein feines Sensorium für Phänomene von Leiblichkeit auf ganz unterschiedlichen Ebenen und in ganz unterschiedlichen Kontexten« (2019: 197) entwickelt hat und dabei in Denkräume vordringt, »die zu betreten und mit seinem feinen Gespür für Nuancen auszuleuchten zweifellos einen Gewinn bedeutet« (ebd.: 204). In einer Zeit der Leibverachtung war es Nietzsche ein Anliegen, den Leib aus der beständigen, tiefen Verschüttung hervorzuholen. Er hat unverkennbar und klar Gedanken der späteren Leibphilosophie vorweggedacht. Insofern knüpft Nietzsche ein zartes Band hin zur modernen Leibphilosophie, in deren Rahmen die Wiederentdeckung des Leibes wenig später ausdrücklich forciert wurde. Damit ist hier der Bogen geschlossen zu der oben gegebenen kurzen Einführung in die Anfänge der Leibphilosophie.
6) Auflösung der dialektischen Spannung im Leibbewusstsein
Am Ende kann man festhalten, dass es zu einer vollständigen Verdeckung des Leibes nie gekommen ist. Durch die Denkanstöße und Initiativen aus verschiedenen Richtungen – Philosophie, Theologie, Heilkunde und andere, von denen hier nur drei Beispiele vorgestellt wurden –, blieb der Leib unterschwellig immer vorhanden in der Sehnsucht, sich aufzuspüren. Die abschließende Frage ist, aus welchen Gründen und auf welche Weise wir das tief in uns schlummernde Leibbewusstsein und damit den Leib zu neuem Leben erwecken sollten.
Wenn Rieger das Verhältnis von Körperkult und Leibesverachtung als ein Paradox beschreibt (2019: 10), trifft das die Sachlage nicht korrekt. Denn es handelt sich eher um ein dialektisches Verhältnis, bei dem das angestrebte Ziel sich in sein Gegenteil verkehrt. Die vermehrte Hinwendung zum Körper, die dem Zweck dient, Ansehen und damit ein gesteigertes Selbstbewusstsein zu erlangen, führt zu maximaler Kontrolle und Manipulation des Körpers. In diesem Prozess wird aber nicht nur der Körper, sondern – meist unbewusst – noch mehr der Leib unterdrückt, die Natur, die wir selbst sind. Verstärkte Körperkontrolle führt also direkt in die Verdeckung des Leibes, damit jedoch auch zu einer Entfremdung vom eigenen Selbst, zu einer Verringerung eines wahren Selbst-Bewusstseins, zum Gegenteil von dem, was ursprünglich geplant war. Schmitz formuliert dieses dialektische Problem so:
»In der von Platon gekrönten Entwicklung hat die Menschheit einen neuen Stolz gelernt, (…) den aktiven Stolz des Meisters, der in gelockerter Sicherheit dem Unwillkürlichen und Leiblichen den Stempel seiner vernünftigen Souveränität aufprägt (…). Dieser aktive Stolz gehört zu den kostbarsten Errungenschaften menschlicher Geschichte, aber diese Errungenschaft ist erkauft mit so viel gutwilliger oder skrupelloser Verfälschung, Verdeckung, Verdrängung, dass die Menschheit in krankhafter Verkrampfung zu verharren droht, wenn sie sich nicht anschickt, mit der errungenen Vernunft schlicht sachlich die Hintergründe des Geschehens zu durchleuchten« (1998: 366f).
Auch Grätzel beschreibt das Verhältnis des Leibes zu dem ihn kontrollierenden Geist als eine Dialektik. Mit Bezug auf die Verwandlung des Geistes zum unschuldigen Kind, durch die bei Nietzsche die große Vernunft zuletzt sich selbst finden will (1989: 120), erklärt er: »Die Unschuld sieht den Leib als Leib, (…) sie pervertiert nie diese Sichtweise zu dem bloß beabsichtigten und zu erreichenden Ziel. Die Perversion des Leibes ist die durch sich begründete und ihr Wofür kennende Vernunft, da (…) der Leib hiermit seine Vernichtung herbeiführt« (ebd.: 134). Das ›Wofür‹, also die äußeren Zwecke, die wir auf der Suche nach einem äußerlich repräsentativen Selbst dem Körper aufzwingen, lässt uns den Körper beherrschen und manipulieren. Doch dadurch unterdrücken wir den im Körper gefangenen Leib bis zur Perversion, und auch die ursprünglich angedachten Zwecke verlieren letztlich ihren Sinn, weil wir selbst der Leib sind, der pervertiert wird. In der Dialektik der Aufklärung, die durch Analyse der Gründe, die zum Scheitern der Aufklärung führten, Wege aus diesem Scheitern zu finden sucht, formulieren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ganz Ähnliches, doch ohne dabei den Leib im Blick zu haben. Definiert man aber mit Böhme die Natur als das, was wir selbst sind, nämlich unser Leib, gewinnen ihre Aussagen eine neue Dimension: »Mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. (…) Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht« (1981: 73).
»Es muss also darum gehen, diese dialektische Verstrickung aufzulösen, um dem Leib zu neuem Leben zu verhelfen und so dem Selbst neue Geltung zu verschaffen.«
Es muss also darum gehen, diese dialektische Verstrickung aufzulösen, um dem Leib zu neuem Leben zu verhelfen und so dem Selbst neue Geltung zu verschaffen. Denn ohne Leibbewusstsein bewegen wir uns immer an der Oberfläche unseres Selbst, zu dessen Kern wir keinen Kontakt haben. Die Folgen davon sind, wie einführend erwähnt, Defiziterfahrungen, die sich in vielfältigen Formen sogenannter psychischer Erkrankungen äußern. Die Kenntnis vom Leib und ein daraus entwickeltes Leibbewusstsein öffnen einen Weg, diese Dialektik zu durchbrechen. In Bezug auf die Aufgaben der Psychologie, folgert Schmitz daher, »ist Homer in mancher Hinsicht aktueller als das Meiste dessen, was zwischen Homer und der Gegenwart über psychologische Themen gesagt worden ist« (1998.: 442). Entsprechend rät er dazu, den aktiven, souveränen Stolz der Selbstbestimmung »zu ergänzen durch den passiven Stolz des Offen- und Hingegebenseins, dessen der Mensch inne werden kann, indem er sich neu entdeckt als leibliches, den abgründig-ergreifenden Erregungen ausgesetztes Wesen« (ebd.: 366f). Wie kann das gelingen?
Böhme sieht Leibsein als Aufgabe (2021, Titel) und betont regelmäßig, dass die Leibphilosophie in die Praxis vordringen müsse. In diesem Sinn erläutert er, wie leibliches Spüren »durch explizite übende Zuwendung zum Leibe« rehabilitiert werden kann (ebd.: 117), um so die dialektische Spannung zwischen Körperkult und Leibvergessenheit aufzuheben. Böhme geht ausführlich auf Übungen ein, die er ›Leibesübungen‹ nennt und »in denen der Leib als die Natur, die wir selbst sind, gelebt wird« (ebd.: 14). Leibesübungen seien insofern der Versuch, das eigene Selbst in der untrennbaren Einheit von Körper, Geist und Seele zu erfassen. Derartige Übungen sind dadurch definiert, dass ihre Durchführung per se eine Praxis leiblicher Existenz ist und Leiberfahrungen unmittelbar ermöglichen. Leibesübungen sind mithin zweckfreie, nicht zielorientierte Bewegung, sie sind selbst Lebensvollzug beiehungsweise, da sie nur in bestimmten, für sie ausgesparten Zeiten ausgeführt werden, »doch wenigstens die paradigmatische Erfahrung von Lebensvollzug« (ebd.: 357). Dabei geht es nie um Leistungssteigerung, vielmehr sollen Leibesübungen »den Leib zu seinem Recht kommen lassen« (ebd.: 301). Doch vor allem und grundlegend geht es darum, »dass man sich überhaupt in seinem Leibe zu Hause fühlt« (ebd.: 357). Leibesübungen sind »ein Herabsteigen des Bewusstseins in den Leib« (ebd.: 121 und 355).
Böhmes Auffassung von Leibesübungen entspricht damit nahezu dem, was in zahlreichen Aussagen B.K.S. Iyengars bezüglich Asana und Pranayama, den beiden praktischen Übungsformen des Yoga, zu lesen ist: »Bei den Asanas breitet sich unser Bewusstsein im ganzen Körper aus, durchdringt schließlich jede Zelle und stellt ein vollständiges Gewahrsein her« (2014: 46). Bedenkt man, dass im englischen Originaltext für »Körper« das Wort »body« verwendet wird, das aus Mangel an expliziten Alternativen auch »Leib« bedeuten kann, sind die beiden Aussagen fast identisch. Es wundert also nicht, dass Böhme in den Übungspraktiken des Yoga, insbesondere Pranayama, den Atemübungen, eine Möglichkeit sieht, das verloren gegangene Leibbewusstsein wiederzuerlangen. Und auch Schmitz, der die Dialektik zwischen der Selbstermächtigung des Menschen als Ich-Instanz und den damit verbundenen Verlusten sehr genau benannt hat, argumentiert, die verschütteten Möglichkeiten des Leibes seien keineswegs vernichtet, vielmehr sei es »dem modernen Menschen (…) anheimgestellt, sie in seinem eigenen Erleben und Erlebten wiederzuentdecken« (1998: 441). Die Mystik des Yoga bietet hierfür einen Weg.
Literatur
BDYoga, Yoga in Zahlen 2023, Repräsentative BDY-Studie zu Yoga in Deutschland nach der Corona-Pandemie, 2023; https://www.yoga.de/yoga-als-beruf/yoga-in-zahlen/yoga-in-zahlen-2023/
Blühdorn, A., ‚Das Herabsteigen des Bewusstseins in den Leib. Warum Asana und Pranayama Leibesübungen sind‘, in: Deutsches Yoga-Forum, hrsg. vom BDYoga, in 5 Teilen, Heft 2/2023 bis Heft 6/2023
Böhme, G., Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Die Graue Edition, Zug/Schweiz 32021
Bruckner, I., Christliche Mystik. Auf den Spuren eines flüchtigen Phänomens, ProScientia Linz, 2020; https://www.proscientia.at/wp-content/uploads/2020/07/Bruckner_Mystik_2020.pdf
Danzer, G., Merleau-Ponty. Ein Philosoph auf der Suche nach Sinn, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003
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Dr. Annette Blühdorn: Studium der Klassischen Philologie, Slawistik, Germanistik; Promotion über zeitgenössische deutsche Lyrik; langjährige Lehrtätigkeit als Universitätsdozentin in England; Yoga-Praktizierende seit fast 40 Jahren; zertifizierte Iyengar-Yoga-Lehrerin, seit 2014 mit eigenem Studio in Millstatt am See, Kärnten; Mitarbeiterin im Redaktionsteam der Verbandszeitschrift von »Iyengar-Yoga Deutschland e.V.«; verschiedene Veröffentlichungen.
Artikel zum Thema
- Dr Annette Blühdorn – Von der Verdeckung zur Wiederentdeckung des Leibes (Teil 1)
- Sukadev Bretz – 30 Jahre spiritueller Aktivismus
- Gabrielle Rist – Wie Traumaheilung durch Neurophilosophie und Körperpsychotherapie gelingen kann
- Sebastian F. Seeber – Die Seele bei Platon
- Dr. Anette Blühdorn – Das metaphorische Herz. Zeuge des archaischen Bewusstseins. Teil 1 + 2