Stationen auf dem Weg der Heldenreise (Teil 1)
Der innere Entwicklungsweg des Menschen geht durch eine schmerzhafte Erfahrung der Loslösung und des Sterbens des Alten, um zum Erwachsenen und vielleicht auch zum Erwachten zu werden. Dieser Weg – die Reise des Helden beziehungsweise der Heldin – finden wir auch in den großen Arkana des Tarot symbolisiert.
Seit ferner Vergangenheit erzählt man sich rund um den Erdball eine Geschichte, die metaphorisch den Lebensweg des Menschen beschreibt und ungefähr so verläuft: Eine unschuldige, naive Hauptperson verlässt ihre angestammte Heimat und bricht zu einer Reise ins Ungewisse auf, um das schwer erreichbare Gut, das Elixier, den Heiligen Gral zu finden. Eine schwere Krankheit des Königs, die nur das Kraut des Lebens heilen kann, die Bedrohung der Heimat durch finstere Kräfte oder die Flecken des Nichts, die sich immer weiter ausbreiten und Phantasien zu verschlingen drohen, können die Ursache für die Reise sein. Doch auch mit dem unwiderstehlichen Ruf, die Welt außerhalb des Bekannten zu erleben, kann diese Geschichte ihren Anfang nehmen, die gemeinhin als die Reise des Helden/der Heldin bezeichnet wird.

In manchen Märchen machen sich die älteren, reiferen Brüder des Helden bereits vor ihm auf den Weg, scheitern jedoch. Zu guter Letzt ist nur noch der Naive, der geistesabwesende Narr übrig, der nun die Aufgabe bewältigen soll. Und obwohl gerade ihm niemand den Erfolg zutraut, werden wir erleben, wie er an seinen Herausforderungen erstarkt, über seine Schatten hinauswächst. Seine größte Stärke auf dem Weg ist, anders als bei seinen Brüdern, seine bedingungslose Offenheit, seine Unvoreingenommenheit, die ihn gerade dort hineinstolpern lässt, wo der »gesunde Menschenverstand« ihn mitnichten hingebracht hätte. Und eben dort, wo dem rational dominierten Menschen der Zugang verschlossen bleibt, wird er, der Naive, den Sesam öffnen.
»Die Reise des Helden beschreibt als Gleichnis, wie ein Mensch – jeder Mensch – zum Erwachsenen wird.«
Er wird in die Unterwelt hinabsteigen, wo er seine, oft teuer errungenen weltlichen Werkzeuge und Waffen ablegen wird, um im Gegenzug Hilfe anzunehmen, sich einer höheren Führung anzuvertrauen. Seine einstigen Motive und Ziele werden sich wandeln, weil er stattdessen seine unbewussten, noch schlummernden Kräfte entdeckt und so zu einem Vorbild heranreift, an dem wir uns orientieren können. Die Reise des Helden beschreibt als Gleichnis, wie ein Mensch – jeder Mensch – zum Erwachsenen wird.
Die Heldenreise
In vorpatriarchalen Zeiten waren es noch weibliche Heldinnen, wie etwa die sumerische Göttin des Großen Oben, Inanna, die den Abstieg in die Unterwelt wagten. Erst mit zunehmender Sesshaftigkeit der Menschen wurde die Queste von den männlichen Göttern und Helden neuerer Mythen übernommen. In der Bibel findet die Heldenreise ihren Höhepunkt mit dem Wirken Jesu, als dieser stirbt und für drei Tage zur Hölle niederfährt. In großen Filmen der Gegenwart, wie etwa Avatar oder dem Herrn der Ringe begegnen wir dieser Suche nach sich selbst, deren wohl bekannteste in unserer Hemisphäre die Legende von Parzival ist, der im Narrengewand loszog, um den Heiligen Gral zu finden.
»Die Heldenreise fordert uns auf, uns wieder als Teil des Ganzen zu empfinden: Erkenne Dich selbst – und Du wirst die Göttlichkeit finden, die in Deinem Inneren wohnt!«
Vorlage für die Heldenreise ist der Lauf der Sonne, die morgens am Horizont erscheint, ihre größte Helligkeit gegen Mittag am Zenit erreicht und allabendlich auf der gegenüberliegenden Seite untergeht, – nur um am nächsten Morgen völlig verjüngt wieder zu erscheinen. Gleiches gilt für die Mondin, die drei Nächte lang nicht zu sehen ist, bevor wir sie als zarte Sichel erneut erkennen und ihr Heranwachsen zu voller Größe verfolgen können. Der »unsichtbare, dunkle« Weg der beiden hellsten Himmelsgestirne führte zu den Mythen der Nachtmeerfahrt. Bei den alten Ägyptern ist es Ra, der Sonnengott, der auf der Barke des Lebens durch die Unterwelt reist und das Geschehen des Makrokosmos in direkte Analogie zum menschlichen Lebensweg stellt. Die Heldenreise fordert uns auf, uns wieder als Teil des Ganzen zu empfinden: Erkenne Dich selbst – und Du wirst die Göttlichkeit finden, die in Deinem Inneren wohnt!

In einigen traditionellen Mysterienschulen hat die Heldenreise bis heute nichts von ihrer ganzheitlichen initiatorischen Wirkung verloren. Der Meister der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung (1875–1961) erkannte, dass der Einweihungsweg der Mystiker identisch ist mit den Etappen des Pfades, der auch den modernen Menschen zum souveränen Erwachsenen heranreifen lässt. Die Forschungen von C.G. Jung führten dazu, dass die alten Mysterien und Orakel, die seit der Zeit der Aufklärung vielerorts zu Gauklerei und Aberglauben abgerutscht waren, wieder ins Blickfeld modernen Denkens gerieten. Jung, und somit die junge Wissenschaft der Psychologie, erkannte den tieferen Zusammenhang, der zwischen den alten Mythen und dem stets aktuellen Weg der Selbstbegegnung und -reflexion besteht. Er bezeichnete die einzelnen Stationen als Archetypen, deren Potenzial Anteil hat am individuellen wie auch am kollektiven menschlichen Geist – bewusst wie unbewusst. Wer das archetypische Potenzial ins Tagesbewusstsein hebt, findet dort grundlegende und zeitlose humane Eigenschaften wie etwa erhöhte Toleranz, Sinnfindung – und auch innere und äußere Lebendigkeit.
Das Große Arkanum
In reiner Bildform und zudem klarer Anordnung sind uns die Archetypen nur einmal überliefert, nämlich als die Großen Arkanen des Tarots, mit denen uns die Heldenreise in vollem Umfang vor Augen liegt. Das Große Arkanum – und somit 22 der 78 Karten eines Tarot-Decks – will uns an unser archetypisches Potenzial wieder er-innern, um unbewusste Seelenanteile ins Wachbewusstsein zu integrieren.
Der Weg der Willensfindung, die Verwirklichung des persönlichen Charakters wird mit dem Erringen der weltlichen Trophäen umschrieben und durch die Großen Arkanen I bis IX symbolisiert. Hier entdeckt der Held seine maßgeblichen Eignungen und Neigungen, anhand derer jeder Mensch sein weltliches Leben arrangieren und meistern kann. Dieses Potenzial ist individuell durchaus unterschiedlich verteilt und erst die Ausbalancierung der einzelnen Anteile führt zu der Ganzheitlichkeit, die uns Extreme vermeiden lässt und den ureigenen Lebensweg eröffnet. Die numerologischen Geburtsdaten eines Menschen und natürlich praktische Tarot-Auslagen stellen eine ganzheitliche Orientierung zur Verfügung, um innere Stärken und Schwächen konkret zu beschreiben und mit diesen sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten.

Die Heldin selbst, naiv und gänzlich unerfahren, wird im Tarot durch den Narren, Arkanum 0, symbolisiert. Dieser Narr wird am Ende der Reise erneut offenherzig und naiv sein, doch nun als Weiser, der die Welt versteht und liebt, wie sie ist. Der Weg durch die einstelligen Trümpfe mündet ein in Arkanum IX, der Eremit. Dort verliert der Held Orientierung und Kontrolle mit dem Ergebnis, von nun an zunehmend den spirituellen Kräften die Führung seines Lebensweges anzuvertrauen. In der Praxis erlebt man, dass die spirituelle Komponente eine größere Ausgewogenheit unterschiedlicher Facetten des Lebens bewirkt. Scheinbar unvereinbare Gegensätze können in Balance kommen, was sukzessiv zu größerem Vertrauen in das Leben führt, – was man allerdings nicht erklären, sondern nur selbst erleben und erfahren kann.

Das Herausarbeiten der persönlichen Eigenart ist zurecht das Thema der Karten 0 bis IX. Ohne einen kraftvollen menschlichen, irdischen Willen, den der Held bis zu dieser Etappe aufgebaut hat, wäre er in der Unterwelt, der Welt der Finsternis und somit der Thematik der zweistelligen Arkanen, völlig chancenlos. Ohne Bodenhaftung wird man auf dem spirituellen Weg von den im Nachtmeer ihr Dasein fristenden Ungeheuern, unseren Schattenanteilen verschlungen. Wer Esoterik nicht mit einem süßen Fluchtmittel verwechseln will, das den, zugegebenermaßen manchmal rauen, Alltag ausblendet, muss als grundlegende Voraussetzung im Vorfeld ein starkes Ich, sprich Tagesbewusstsein, aufbauen. Erst dann kann das Ego schrittweise zurückgedrängt werden an den Platz, der ihm naturgemäß zusteht.
Abstieg in die Unterwelt
Das Ego ist durchaus hilfreich, wenn wir uns um die herkömmlichen Fragen des Überlebens zu kümmern haben. Wir erkennen während der Heldenreise jedoch, dass es Themenbereiche gibt, für die dem Ego, individuell wie auch kollektiv, schlichtweg der Überblick fehlt. Ein Blick aus der Vogelperspektive zeigt, dass jedes Ego im Grunde von Angst motiviert ist. Es ist Teil der Vergänglichkeit und weiß, dass es mit unserem letzten Atemzug sterben wird.
»Erst die seelische Perspektive bringt die Gewissheit, dass wir mit etwas Größerem verbunden und in unserer Essenz zeitlos, um nicht zu sagen, unsterblich sind.«
Deshalb will es schnellstmöglich so viel wie möglich – und dies darüber hinaus auch noch kontrollieren. Erst die seelische Perspektive bringt die Gewissheit, dass wir mit etwas Größerem verbunden und in unserer Essenz zeitlos, um nicht zu sagen, unsterblich sind. Unsere Motive und Prioritäten verlagern sich, wir erstreben das Mitfließen im universellen Fluss des Lebens.
Die Verlagerung der bisherigen Prioritäten, das Umstellen der Leuchter, ist das Thema der zweistelligen Trümpfe, die mit Arkanum X, Lebens- oder Schicksalsrad, ihren Anfang nehmen. Die zweistelligen Arkanen lehren uns, dem Ruf kosmischer Mächte, unseres Höheren Selbst, unserer Seele zu folgen. Dies entspricht unserem Unbewussten, dessen Strömungen sich unterhalb des offensichtlich bewegten Wasserspiegels befinden. Um die tiefe See praktisch auszuloten, müssen wir schon selbst hinabtauchen, dem Lauf der Sonne auch während ihrer Nachtmeerfahrt folgen. Für die dunkle Mondin gilt Gleiches.

Der Held lernt fortan, sich bereitwillig von den Strömungen unter Wasser leiten zu lassen, vom Unbewussten, vom Ruf seiner Bestimmung. Dies gilt auch dann, wenn es um ihn herum so stockfinster ist – etwa im Bauch eines Walfischs beim biblischen Helden Jona –, dass er absolut nichts erkennt. Die Weigerung des Jona, Gottes Ruf zu folgen und in Ninive zu predigen, erweist sich als nutzlos, als er von einem Wal verschluckt wird. Dieser trägt ihn mit sich, um ihn drei Tage später in Ninive auszuspucken, dem Ziel seiner Bestimmung. So ordnet sich Jona zuletzt eben doch einem höheren Willen, in diesem Falle realisiert durch einen Wal, unter. Die zweistelligen Großen Arkanen zeigen den Abstieg in die Unterwelt, wo wir in der Schattenwelt unsere anerzogenen Konditionierungen hinter uns lassen müssen. Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt der Nachtmeerfahrt ist Arkanum XV, der Teufel, der für unser selbst gebasteltes Gefängnis steht und wie ein Drache unseren inneren Schatz, unser wahres Wesen bewacht. Erst wenn wir uns unserer Selbstverurteilung stellen, kann die Reise bis ans Ziel fortgesetzt werden, das durch die Trümpfe XIX die Sonne, XX Jüngstes Gericht und XXI die Welt symbolisiert wird. Dies ist die Zeit der Morgendämmerung – der neue Tag bricht an, die Sonne feiert Auferstehung am Horizont.
Ein organisches Ganzes
Der Tarot als in sich geschlossener und lebendiger Organismus entfaltet sich, ähnlich einer sich öffnenden Knospe, aus den ersten drei Großen Arkanen. Diese bilden wie unser Ein- und Ausatmen gemeinsam mit der zwischen den Atemzügen herrschenden Ruhephase die Dreiheit, die hinter jeder materiellen Erscheinung wirkt (die drei Prinzipien der Alchemie).
»Der Übergang von der feinstofflichen in die körperliche Welt findet in der Karte 0, der Narr statt.«
Der Übergang von der feinstofflichen in die körperliche Welt findet in der Karte 0, der Narr statt. Das Neugeborene erlebt seinen ersten Atemzug. Geist, Seele und Körper verbinden sich zur Einheit. Beim Waite/Smith Tarot sehen wir die Kennzahl des Narren, die 0 treffend als runden Kreis, ohne Anfang, ohne Ende, dennoch existent. Der Narr des Tarots erscheint aus dieser Unendlichkeit, um ins Leben zu springen, wir atmen erstmals ein und sind von nun an Teil einer Dimension von Raum und Zeit. Die Tatsache, dass sich das Universum, von dem wir abstammen, in der ihm eigenen Ordnung weiterbewegt, wir jedoch an die körperliche Welt der Polarität gebunden sind, wird als die Vertreibung aus dem Paradies umschrieben.
Die bewusste Rückverbindung mit dem All ist das Ziel der Reise des Narren durch das große Arkanum. Parzival bricht im Narrengewand auf, um den Heiligen Gral zu finden. Die Frage, die er dem leidenden König Amfortas gegen Ende seiner Suche stellen wird, kennt er noch nicht. Die Frage nach seinem Namen kann er zu Beginn seiner Queste ebenfalls noch nicht beantworten, als er danach gefragt wird. Er lebt im Wald des Unbewussten und ist »der schöne Bub…«. Wir sind weit mehr als der Name, den unsere Eltern uns gaben, unser Beruf und der Bildungs- und Besitzstand, den wir uns angeeignet oder geerbt haben.
Die ersten beiden Karten mit Zahlenwert sind I-der Magus und II-die Hohepriesterin. Sie stehen für das Tun und das Lassen, um das sich unser gesamtes Leben dreht. Konkreter handelt es sich um den Hintergrund, die Motivation für unser Tun und Lassen, körperlich greifbar wird unsere Welt erst mit dem nächsten Paar, die Herrscherin III und der Herrscher IV, die für die Eltern des Helden stehen. Die beiden ersten Arkanen, das dem Helden unbekannte Paar, werden als die kosmischen Eltern bezeichnet. Dieses Paar, diese Polarität ist nahtlos übertragbar auf das Ein- und das Ausatmen.

Der Narr ist die Phase zwischen den beiden grundlegenden Polen: Er fordert uns zum bewussten Kontakt mit dem Kosmos auf, den wir in der Phase zwischen zwei Atemzügen zelebrieren können. Wir übergeben den feinstofflichen Sphären aktiv unsere Gedanken mit dem Ausatmen und nehmen somit – magischen – Einfluss auf unsere Lebensumstände oder wir öffnen uns, den Vorhang hinter der Hohepriesterin, während der Stillephase nach dem Ausatmen, um – mystisch – die Einladungen des Universums zu empfangen. Das Zusammenspiel der ersten drei Karten zeigt das grundsätzliche Anliegen des Tarots, den freien Willen des Menschen herauszubilden: Legen wir die Betonung auf das Ein- oder auf das Ausatmen? Gestalten wir unsere Atmung gerade positiv (Feuer, Sulfur) oder negativ (Wasser, Mercurius)? Der Magier weist auf die Kraft hin, die uns rituell feinstoffliche Energie verdichten lässt, um diese in der grobstofflichen Welt zu manifestieren. Die Hohepriesterin wiederum steht für das Annehmen, für die Mystik, die uns öffnet für ebendiese feinstofflichen, kosmischen Kräfte, die in und durch uns wirken.

Der Magier steht vor einem viereckigen Tisch, er bindet feinstoffliche Kräfte in der Materie (Viereck, Würfel). Er bringt Energie zum Erscheinen durch seine Initiative, die Konzentration hinter der Handlung mittels der vier Elemente, die wiederum die Eckpfeiler des kleinen Arkanums sind. Die Hohepriesterin thront zwischen oder hinter den Säulen der Dualität. Beide stehen in Verbindung mit der neutralen Quantenkraft des Ain Soph der Kabbala, das sich noch nicht in Plus- und Minuspol gespalten hat. Die überlieferten Mythen möchten uns an unsere kosmische Herkunft erinnern, um diese in der grobstofflichen Welt zu verwirklichen: Der Held wird ausgesetzt, jedoch gefunden. Auch wir vergessen unsere wahre Herkunft, um von unseren körperlichen Eltern empfangen und geprägt zu werden – nur um uns im Laufe unserer Lebensreise wieder an unser universelles Wesen zu erinnern.
Die leiblichen Eltern der Heldin sind die Karten III-Herrscherin (Kaiserin) und IV-Herrscher (Kaiser). Die Deutungsanalogie der Herrscherin reicht von der Mutter, der eigenen Mutterschaft und allen psychologischen Mutterthemen bis hin zu Mutter Natur. Schwangerschaft im übertragenen Sinn, Bewahren, Nähren und Pflege bis hin zum Bemuttern sind die Themen der Karte, die mit der psychologischen Ödipus-Thematik ins nächste Arkanum einmündet. Vaterschaft, (natürliche) Autorität bis hin zu Vater Staat, ist der Tenor des Herrschers. Beide »Elternpaare« des Helden wollen eckig und rund, Zivilisation und Natur miteinander kombinieren und arrangieren. Wir tauchen als kosmischer Narr in die materielle Welt ein, um die scheinbar unvereinbaren Pole wieder miteinander zu vermählen. Seriöse Esoterik lehrt, diese Re-Integration in die Ganzheit im Inneren anzustreben, um sie in der Folge äußerlich zu erleben. Die kosmische und die irdische Herkunft des Helden, die Arkanen I bis IV, verweisen auf die ursächlich auszubalancierende Polarität, auf das Gegensatzpaar von Magie und Mystik und natürlich auf das Zusammenspiel von männlich und weiblich. Wir verbinden in unserem Inneren die Energie der Eltern, auch der Ahnenreihen, um unser weltliches Wesen zum Ausdruck zu bringen.
Die Verbindung der Polaritäten
Ab Arkanum V verbinden sich die Pole erkennbar auch vertikal. Wir sehen im Bild erstmals, wenn auch von hinten, mehrere Personen. Der Hierophant ist die Lehre, der Ratgeber, der den Horizont der Heldin erweitert. Wir erhalten mit dieser Karte den Hinweis, durch die Vorgaben unserer Erziehung und aller sonstigen Prägungen hindurch wieder den Kontakt mit unserer ursprünglichen Kraft herzustellen, unsere Lebensbestimmung zu orten. Früher wurde diese Karte als Papst bezeichnet, was die spirituelle Komponente hervorhebt. Oben und Unten, Geist und Materie wollen in Verbindung treten, um, wie auf der Smaragdtafel zu finden, »zu werden ein einig Ding …«. Der Hierophant bringt das Licht zur Erde, er repräsentiert den spirituellen Lehrer des Helden, der ihn, über die Regeln der Familie hinaus, in die übergeordneten Gesetze des Stammes, seiner Kultur einweiht. Lernen und Lehren sind der Hintergrund des fünften Arkanums, das für die Einstellung steht, die ein Coach, Heiler oder auch der Großvater übermitteln kann. Der Schatten dieser Karte ist der Dogmatismus. Spiritualität muss lebendig sein und nicht lebensfeindlich. Absolut jede Karte des Tarots trägt sowohl die Licht- wie auch die Schattenseiten der jeweiligen Energie potenziell in sich. Diese miteinander zu verbinden ist die Einladung, die auf den einzelnen Etappen der Heldenreise ausgesprochen wird.

Die Entscheidung, die Heimat zu verlassen, ist das Thema der folgenden Karte, VI-die Liebenden. Hier treten wir – hoffentlich – aus dem Schatten der Ahnen heraus, doch ebenso aus der Unschuld, der Unbekümmertheit der Kindheit. Herzensentscheidung, der alte Titel der Karte sagt uns, dass es für den, der mit dem Herzen denkt, kein »entweder – oder« gibt, sondern dass hintergründig immer ein »sowohl als auch« wirkt. Die Liebenden verbinden Vergangenheit und Zukunft und führen uns in die Präsenz der Gegenwart. Verschiedene Symbole wie Äpfel und Schlange zeigen, dass der Held während dieser Phase die Erkenntnis des Guten und Bösen erlebt und dass Schattenaspekte wie etwa Schuld und Scham gerade ihren Platz in seiner Wahrnehmung und Interpretation der Welt einfordern. Er weiß nun, dass er seine Heimat, die Kindheit hinter sich lassen wird.
Doch sollte sich die Loslösung von der Ursprungsfamilie friedvoll, nicht von Unerledigtem überfrachtet, vollziehen. Er sollte den inneren Schatz, seinen kindlichen Seelenanteil bewahren, damit er stets auf dieses Fundament zurückgreifen kann. Mit dieser Etappe öffnet er sich auch für das Gegengeschlecht, vielleicht ist dieser Ruf sogar Ursache für die Entscheidung, bald aufzubrechen. Die Bewusstwerdung des Animus beziehungsweise der Anima und die entsprechende Integration werden uns bis zum Ziel der Reise begleiten. Oft tritt in den Mythen nun die gegengeschlechtliche Gottheit in Erscheinung, die den Helden immer deutlicher spürbar begleitet und ihn durch die finsteren Etappen des Weges hindurch auch führt, wenn nötig. Bilder, die in Form eines Dreiecks aufgebaut sind, deuten auf die mögliche Verbindung zweier unterschiedlicher Pole auf einer höheren Ebene hin, was feinstoffliche, universelle Energien jeweils mit einschließt. Ab dem Bild des Hohepriesters, doch spätestens bei den Liebenden und vielen weiteren Karten, ist die Andeutung des Dreiecks deutlich zu erkennen.
Das Heranreifen des Helden
Arkanum VII-der Wagen ist die Karte der Reifung unserer Gefühle, und in der Folge davon die Karte des Aufbruchs der Heldin. Doch bevor die Reise ihren Anfang nimmt, sollte die Heldin unbedingt dafür sorgen, die noch ruhenden, unterschiedlich gefärbten Sphingen in Einklang, in eine gemeinsame Richtung zu lenken. Gefühle, die man bislang ausgrenzte, weil sie sich nicht schickten, weil sie als unsittlich konditioniert wurden, werden auf dieser Etappe grundsätzlich hinterfragt. Nur durch die Bereitschaft, scheinbar dunkle Gefühle wie etwa Neid oder Eifersucht zu reflektieren und insbesondere zu transformieren, kann der weitere Weg dem Lauf der Sonne folgen, dem Symbol für unser Höheres Selbst. Früher hieß diese Karte auch der Triumphwagen. Wer etwa unterdrückte Wut in positiven Vorwärtsdrang umleitet, muss nicht wie Ikarus abstürzen, weil er der Sonne zu nah kommt und als Folge seiner Hybris das Wachs der Flügel schmilzt. Ikarus oder auch Phaeton sind Beispiele für Helden, die sich nicht wirklich oder zu früh auf den Ruf ihres Höheren Selbst einließen. Sie stürzten ab und dienen uns als Mahnung, dass man sich Leichtsinn oder Selbstüberschätzung auf dem magisch/mystischen Pfad nicht leisten kann, sondern dadurch lediglich den Unmut der Götter provoziert. Die Etappe des siebten Arkanums lehrt, uns von unseren Gefühlen nicht beherrschen zu lassen, sondern ihr Souverän zu werden. Du bist nicht Deine Gefühle, Du hast deine Gefühle.
In Arkanum VIII, Gerechtigkeit oder Ausgleich, (alte Zählfolge!) erwirbt der Held sein Schwert, wird symbolisch zum Ritter geschlagen: Diese Station bringt das Bewusstsein von Karma, dem grundlegenden Gesetz (Justitia, Maat) des Lebens. Die Figur auf der Karte zeigt uns ihr Schwert sehr deutlich und lehrt den Helden damit: Gedanken, die Schwerter in Tarot, kehren immer zu ihrem Schöpfer, also zu uns selbst, zurück. Das Denken ist die Kraft, mit der wir unsere äußeren Umstände manifestieren. Der Held, der sein Schwert, bisweilen auch im Kampf erwarb, lernt, Mitgefühl in sein Denken einzubeziehen.
»Jede esoterische Schule verfolgt im Grunde das eine Ziel: Schöpferisches, rituelles Denken.«
Schwerter, und somit Gedanken, sind zweischneidig. Nur der Mensch ist fähig, anders zu sprechen, als er tatsächlich denkt. Kaltes Denken, der Schatten der Justitia, hat das Erkalten des Lebens zur Folge, weshalb der Held hier zum Souverän seiner Gedanken transformiert und die volle Verantwortung für sein Denken, Sprechen und Handeln, für sein Karma übernimmt. Arthus löst das Schwert Excalibur aus dem Stein, womit er sich die Freiheit des selbstständigen Denkens erobert – und zum Souverän von Britannien aufsteigt. Ebenso transformieren wir zu Herrschern und Herrscherinnen unserer elementarsten Werkzeuge, wenn wir im Zuge des achten Arkanums unsere Gedanken beherrschen lernen. Jede esoterische Schule verfolgt im Grunde das eine Ziel: Schöpferisches, rituelles Denken. Durch die Kraft der Gedanken beherrschen, verdichten wir feinstoffliche Energie als schöpferische Souveräne bis in die materielle Welt.

Arkanum IX, der Eremit, ist der letzte einstellige Trumpf, weshalb man diese Station als eine sehr lehrreiche Übergangsphase erleben kann, die uns bis ins Zentrum unserer Unabhängigkeit führt. Der Held gerät in Gefangenschaft, verirrt sich im Wald, fastet 40 Tage in der Wüste, ist ausschließlich auf sich selbst gestellt. Seine äußeren Reichtümer erweisen sich gerade als nutzlos und helfen nicht mehr weiter. Bislang erstrebte Güter und Ziele werden als unzulänglich, um nicht zu sagen künstlich erkannt. Die Heldin erlebt das Gefühl der Einsamkeit, doch zugleich die überwältigende Erfahrung des All-Ein-Seins. Indem sie sich auf sich selbst besinnt, steigt die Ahnung in ihr auf: Wer bin ich? Sie erfährt ihren wahren Namen. Bisweilen trifft der Held in der Einöde auf einen äußeren, immer jedoch den inneren Meister, den Eremiten, der ihn lehrt, zu schweigen und der Stille zu lauschen. Sinnbild des Eremiten ist der Stab, das Symbol des wahren Willens: Was ist für mich tatsächlich wichtig im Leben? Was will ich wirklich?
Wenn der Held nach dieser Zeit der Selbstfindung wieder in seine gewohnte Welt zurückkehrt, wird er auf die Probe gestellt werden, ob er seine innere Stille tatsächlich aufrechterhalten, mit seinem Zentrum in Kontakt bleiben kann. Kann die Heldin an sich selbst angebunden bleiben, auch wenn äußere Stürme toben und Versuchungen auf dem weiteren Weg warten?
In Teil II der Heldenreise werden wir den Helden durch die Unterwelt begleiten und erleben, wie er den Sinn hinter dem erkennt, was er bislang als Zufall deklarierte.

Armin Denner, Jahrgang 1955, beschäftigt sich seit 1986 mit Tarot und den Hintergründen Kabbala und Alchemie. Seit der Jahrtausendwende leitet er das Tarotproject in Augsburg.
Auswahl seiner Bücher: Der Tarot-Lehrgang, Vom Chaos zur neuen Ordnung, Das 1mal1 des Tarots.
Folge Armin auf Youtube: Tarot-Alchemie-Kabbala
Artikel zum Thema
- Lennart Trenkelbach – Esoterische Astrologie als Karte zur Seele
- Armin Denner – Der esoterische Tarot
- Prof. Dr. Maik Hosang – Ein metamoderner Begriff der Seele
- Samuel Eckhart – Die Ogdoadische Tradition. Rückkehr im Lebendigen Licht des Glorreichen Sterns
- Guido Nerger – Die Hermetik als Bindungsglied zwischen Geist und Materie. Ein lebensbejahendes Erkenntnismodell
- Dr. Lars Jaeger – Wissenschaft in der Kritik, Esoterik und Okkultismus im Hoch