Die Erkundung spiritueller Orte in Deutschland
Für seinen neuen Film »Seelenlandschaften. Spirituelle Orte in Deutschland« begab sich der Filmemacher und Autor Rüdiger Sünner auf eine Erkundungsreise der anderen Art, die ihn kreuz und quer durch Deutschland führt. Dabei hielt er die besondere Atmosphäre, die er an diesen Orten vorfand, mit der Kamera für das Publikum fest, und lädt somit dazu ein, Deutschland aus einer anderen, spirituellen und naturverbundenen Perspektive zu betrachten, jenseits von Polarisierungen und politischen Ideologien.
Tattva Viveka: Lieber Rüdiger, dein neuer Film heißt: »Seelenlandschaften. Spirituelle Orte in Deutschland«. Was kann man sich unter Seelenlandschaften vorstellen? Wie würdest du sie jemandem, der diese Wortneuschöpfung zum ersten Mal hört, erklären?
Rüdiger Sünner: Wenn ich Menschen fragen würde, was ihre Seelenlandschaft ist, würden viele sofort etwas antworten können, ohne diesen Begriff definieren zu müssen. Ihnen würden Orte in den Sinn kommen, an die sie gerne fahren oder an denen sie gerne verweilen, zum Beispiel im Urlaub. Es wären die Landschaften, die ihre Seele am stärksten ansprechen. Das kann für den einen das Mittelmeer sein, der andere macht eine Sahara-Wüstendurchquerung oder steigt einen Berg hinauf. Für mich jedoch ist der Begriff weiter gefasst, denn bei den Orten, die ich im Film aufsuche, handelt es sich oftmals um heilige Orte für verschiedene Formen von Religion. Diese Orte spielen nicht nur für das Christentum eine Rolle, sondern können auch heidnische, naturreligiöse Orte sein. An diesen Orten finden sich zum Beispiel heilige Bäume,heilige Quellen oder Höhlen und Berge. In ihnen kommt eine Weltsicht zutage von Kulturen, vor allem aus der Vergangenheit, die in der Natur so etwas wie eine Seele sahen. Für diese war ein Baum nicht bloß tote Materie, ein eindrucksvoll geformter Felsen und ein gewaltiger Berg waren nicht nur leblose Steine, sondern sie trugen etwas Seelenhaftes in sich. Ich würde sagen, dass dies ein weiterer Aspekt des Begriffs Seelenlandschaften ist. Auf diese Weise über die Natur zu sprechen, gilt in der Gegenwart als unmodern. Jeder Naturwissenschaftler würde einem auf die Finger klopfen und sagen, dies sei Quatsch. Denn weder ein Baum hat eine Seele noch ein Stein oder ein Fels.

»Indigene Kulturen sehen alles in der Natur als etwas Beseeltes an.«
TV: Sicherlich sind Menschen eher dazu bereit, Pflanzen und Tieren etwas Seelenhaftes oder eine Seele zuzusprechen. Aber die Vorstellung, dass Felsen, Steine oder ein Bach eine Seele haben, liegt dem modernen Menschen doch sehr fern.
Rüdiger: Genau. Viele indigene Kulturen rund um den Globus in der Gegenwart und Vergangenheit werden beispielsweise von der Ethnologie, die sich mit indigenen Völkern und Kulturen befasst, als animistische Kulturen bezeichnet. Das bedeutet, dass sie alle Wesen, also Pflanzen, Tiere, Felsen, Berge oder Flüsse als beseelt ansehen. Sie machen keinen Unterschied. Zum Beispiel die Aborigines in Australien, indigene Völker in Amerika, in Indien oder in Afrika. Indigene Kulturen sehen alles in der Natur als etwas Beseeltes an. Diese Weltsicht ist uns in Europa jedoch abhandengekommen. Die Kelten und die Germanen, die als die indigenen Völker Europas in der Vergangenheit betrachtet werden konnten, dachten genauso. Orte, die ihre starke seelische Atmosphäre bewahren konnten, suche ich gerne auf, weil sie mich stark faszinieren und berühren. Meine Filme, Bücher sowie Reisen sind Forschungsexpeditionen, um herauszufinden, was mich an ihnen so stark berührt und warum. Zum Teil ist es schwer, dies in Begriffen zu beschreiben. Das Schöne für den Filmemacher dabei ist, dass er in Bildern erzählen kann, in Atmosphären, in Stimmungen, gemeinsam mit Musik und Geräuschen. Deswegen ist dieses Medium wunderbar geeignet für Seelenlandschaften.
TV: Wie ist die Idee entstanden, Filme über Seelenlandschaften zu machen? Bei den Filmen über Seelenlandschaften handelt es sich um eine Filmreihe. In den ersten beiden Filmen hast du in England und Wales sowie Schottland spirituelle Orte besucht und deine Beobachtungen und Erfahrungen im Film festgehalten. Nun hast du Deutschland bereist. Wieso?
Rüdiger: Vor 35 Jahren habe ich zum ersten Mal in meinem Leben – ich wurde in Deutschland geboren – während einer Schottlandreise eine Seelenlandschaft bewusst wahrgenommen. Dabei saß ich im Zug und weinte und ich wusste nicht, warum. Ich fuhr an grünen Hügeln mit wahnsinnigen Lichtstimmungen am Himmel vorbei, an alten Burgen, die am Meer standen, oder an Steinkreisen. Und ich musste nur weinen. Ich konnte es mir nicht erklären, das war vollkommen verblüffend. Ich dachte, dass ich in meiner Heimat Deutschland noch nie geweint habe, während ich an einer Landschaft vorbeifuhr, zum Beispiel als ich als Kind mit meinen Eltern in die Eifel oder an die Nordsee gefahren bin. Doch in Schottland kam es auf einmal über mich. Wie ich später herausfand, hing es mit den keltischen Traditionen in England, Irland, Wales und Schottland zusammen. In den folgenden Jahren reiste ich über zehnmal auf die Britischen Inseln, und deshalb beschloss ich, die Filmreihe in den britisch-keltischen Seelenlandschaften zu beginnen. Unter anderem auch, weil ich dort vor vielen Jahren eben diese tiefgreifende erste Erfahrung gemacht hatte. In England drehte ich den ersten Film, in Schottland den zweiten. Indem ich die für mich berührenden Orte wieder aufsuchte, konnte ich diese Erfahrung für mich aufarbeiten. Doch daraufhin kam die entscheidende Frage auf: Du bist gar kein Engländer, du bist kein Schotte. Du bist in Deutschland geboren. Deutschland ist voll von tollen Wäldern und wunderbaren Landschaften. Wieso hast du diese Orte nicht hier gefunden? In den ersten Kapiteln meines Buches zum Film schreibe ich, dass in Deutschland über manchen heiligen Orten ein Schatten liegt. Nicht unbedingt über der schönen christlichen Kirche in Bayern mit dem Zwiebelturm. Doch zwei geschichtliche Bewegungen warfen einen Schatten auf die vorchristlichen, naturreligiösen Orte. Einmal war es die Christianisierung, die in Deutschland sowie in ganz Mitteleuropa alte heidnische Kultorte vernichtet, zerstört oder überformt hat, um ihre Kirchen darauf zu errichten. Heutzutage stehen oft Kirchen über alten heiligen Quellen, sodass man sie nicht mehr erkennt. Im 20. Jahrhundert überdeckten die Nationalsozialisten sie mit einem ideologischen Schatten, mit einem perfiden Gespür für solche Orte, indem sie diese als »urgermanisch« deuteten. Die Externsteine sowie heilige Bäume, Wälder und Quellen wurden allesamt für urgermanisch erklärt. Diese Rassenideologie behauptete, dass der nordische Herrenmensch allen anderen überlegen sei, und noch heute ist an einigen dieser Orte ein merkwürdiger Schatten spürbar. Außerdem pilgern zum Teil rechtsradikale Personen dorthin, bei denen ich sofort spüren konnte, dass sie aus einem völlig anderen Grund diesen Ort aufsuchten als ich.
In einigen Kapiteln meines Buches bemühe ich mich darum, die Orte mithilfe der Archäologie von diesem Schatten zu befreien, indem ich die Frage stelle, was an diesem Ort früher wirklich einmal war? War das tatsächlich ein germanischer Ort? Oder ist das nur eine ideologische Projektion?
Darüber hinaus fand ich dank ausführlicher Recherchen auch in Deutschland zahlreiche spirituelle Orte, die große Ähnlichkeit mit den Orten aufweisen, die ich in Irland, Wales und Schottland erkundet habe. Darüber bin ich äußerst glücklich. Denn dieser letzte Film sowie das Buch fühlten sich wie eine Art »nach Hause kommen« an.
Ich versuchte diese spirituellen Orte, die mich sehr entzückten, mit meiner Kamera so ins Bild zu setzen, dass auch die Zuschauenden von der starken Atmosphäre ergriffen werden, und um ihnen den Reichtum, den es auch in Deutschland gibt, vor Augen zu führen.
»An bestimmten Orten war es mir wichtig, das herbeizuführen, was der Dichter Novalis die »Aussöhnung der heidnischen mit der christlichen Religion« nennt.«
TV: Es ist dir sehr gut gelungen, die magische Ausstrahlung der Orte einzufangen und zu vermitteln. Deine Reise zu verschiedenen Seelenlandschaften Deutschlands führte dich kreuz und quer durchs Land. Du warst an der Ostsee, im Harz, entlang des Ufers des mächtigen Rheins. Wie hat diese Reise deinen Blick auf Deutschland verändert?

Rüdiger: An diesen Orten spürte ich, dass hier nicht nur das 2000 Jahre alte Christentum mit seinen Kapellen, Kirchen und heiligen Stätten lebendig ist, sondern auch eine in die Jahrtausende reichende, zuvor stattfindende Entwicklung, die von einer Welt der vorchristlichen Mythen, Mysterien und spirituellen Weltbilder erzählt, die bis in die Steinzeit zurückreicht. Für diesen Film bin ich nicht so weit zurückgegangen, dass ich die Höhlen in der Schwäbischen Alb besucht habe, wo Wissenschaftler 40.000 Jahre alte Skulpturen gefunden haben, die eine schamanische Weltsicht bezeugen. Man muss sich vorstellen, dass Menschen in den Höhlen der Schwäbischen Alb vor 40.000 Jahren unfassbare Kunstwerke geschaffen und Rituale in diesen Höhlen abgehalten haben. Dies habe ich in einem anderen meiner Filme, der »Wildes Denken« heißt, ausführlich behandelt, und ich wollte es nicht noch einmal wiederholen.
Dennoch habe ich auf dieser Reise mächtige Steinsetzungen, Dolmen und Hünengräber entdeckt, die circa 5.000 Jahre alt sind. Die Geschichte und die ungeheure Zeitspanne, welche diese spirituellen Orte abdecken, faszinierten mich. Außerdem war es für mich wichtig, die Romantiker noch einmal zu studieren, die deutschen romantischen Dichter, die ähnliche Unternehmungen wie ich gemacht haben. Sie sind wie meine Seelenbrüder: Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Clemens von Brentano und der unvergleichliche Caspar David Friedrich. Sie streiften auch an diesen Orten umher, und obwohl sie aus einer wissenschaftlichen oder archäologischen Perspektive nicht sagen konnten, wie alt diese Orte tatsächlich sind und welche Volksgruppe sie geprägt hat, fühlten sie jedoch, wie alt Deutschland ist und was für ein alter Reichtum an spirituellen Traditionen an diesen Orten gespeichert ist. Es war eine tolle Entdeckung, gemeinsam mit den romantischen Dichtern und ihren Texten an diese Orte und in die Vergangenheit zu reisen. So fühlte ich mich mit dem 19. Jahrhundert verbunden. Insofern war es nicht nur eine Orts-, sondern auch eine Zeitreise.
»Wir lernen von indigenen Völkern, für die es überhaupt keine Subjekt-Objekt-Trennung gibt.«
TV: Gekonnt hast du verschiedene Aspekte miteinander verwoben. Es ist dir gelungen, das Christentum mit den vorchristlichen Naturreligionen auf harmonische Weise in Beziehung zu setzen. Die Natur, also das, was nicht vom Menschen geschaffen wurde, das Geborene, zeigst du neben Klöstern, Klosterruinen, Gärten und schaffst dadurch ein ausgeglichenes Zusammenspiel, in dem nichts besser oder wertvoller ist als das andere.
Rüdiger: Das war mir auch wichtig. Das Christentum hat zwar weitgehend die alten heidnischen Orte überformt, um seine Kirchen darüber zu bauen, aber man darf nicht vergessen, dass es auch christliche Mystiker gab, wie Franz von Assisi, Jakob Böhme oder Hildegard von Bingen. Auch im Christentum gibt es Traditionen, die der Natur sehr verbunden sind. Im Kräutergarten des Klosters Michaelstein im Harz zum Beispiel war ich beglückt zu sehen, wie liebevoll die Mönche diese winzigen kleinen Pflanzen ziehen, die wie Wunderwesen in dem Garten stehen und bezaubernde Namen tragen – es ist eine Namenspoesie sondergleichen. Dieser Kräutergarten wird liebevoll gepflegt, und das Pflanzenwissen wurde ins Christentum integriert. Hildegard von Bingen ist berühmt für ihr Wissen um die Natur, über die sie tolle Bücher geschrieben hat. Ich zeige die Weinhänge unterhalb ihres Klosters in Rüdesheim und wie die Sonnenkraft in die Weintrauben schoss, während wir dort waren. Die gesamte Landschaft strahlte Sinnlichkeit aus.
Hildegard von Bingen trank gerne Wein, sie nannte es »das Blut der Erde«. Wenn du die roten Trauben siehst, einen Rotwein trinkst und gleichzeitig an diesen Spruch denkst, wirst du dich durch den Rotwein mit der Erde verbunden fühlen. Ich wollte diese Sichtweisen nicht gegeneinander ausspielen. Ich erwähne sowohl im Film als auch im Buch, dass das Christentum vielen heiligen heidnischen Orten Teufelsnamen gegeben hat. Überall, wo die alten heidnischen Götter präsent waren, findet man heute einen Teufelssee oder einen Teufelsstein. Die Kirche wollte die Menschen abschrecken und vor diesen Orten warnen, denn an diesen alten Plätzen war es nicht geheuer. Aber ich glaube, dass Hildegard von Bingen und andere Mystiker diese Ansicht nicht vertraten.
In den keltischen Ländern ist übrigens die Christianisierung nicht so gewaltvoll verlaufen wie in Mitteleuropa. In Irland zum Beispiel konnten die alten keltischen Druiden anscheinend das Christentum leichter annehmen. Das Christentum musste sie nicht zwingen, zu konvertieren, und es fand ein organischerer Übergang statt. In Deutschland war das anders. Hier hat Karl der Große stark gegen die heidnische Religion gewütet und vieles wirklich vernichtet.
An bestimmten Orten war es mir wichtig, das herbeizuführen, was der Dichter Novalis die »Aussöhnung der heidnischen mit der christlichen Religion« nennt. Dieser wunderbare Satz besagt, dass man nicht polarisieren und auf ewig Feinde bleiben soll, sondern dass man sowohl das Heidnische als auch das Christliche als wertvolle Bestandteile unserer europäischen und auch deutscher Kultur anerkennt.
TV: Es kommt darauf an, welchen Standpunkt man annehmen möchte. Wenn man es wie eine Zeitreise betrachtet, wie du das zuvor gesagt hast, dann erkennt man, – obwohl es zugleich sehr gewaltvolle Entwicklungen waren, unter denen die Menschen sehr stark gelitten haben, dass alles auf eine eigentümliche Weise miteinander verwoben ist und aufeinander aufbaut. Das eine hat das andere geprägt, geformt und umgekehrt. Insbesondere in der Romantik befolgten die Künstler und Philosophen die Absicht, dieses pagane, animistische Weltbild – oder vielmehr dieses Weltempfinden – wiederzubeleben und mit der Kunst zum Ausdruck zu bringen, dass man die Welt anders erleben kann beziehungsweise dass man die Welt überhaupt erleben kann und erleben muss.
Rüdiger: Ich glaube, dass wir jetzt wieder in einer Zeit sind, in der wir diese Art von Welterfahrung benötigen. Wenn man sich die ökologischen Debatten ansieht sowie das Fortschreiten der Klimakrise und der Umweltzerstörung, erkennt man, wie notwendig die Veränderung des Weltbilds ist. Bei immer mehr ReligionswissenschaftlerInnen, KulturwissenschaftlerInnen, EthnologInnen und PhilosophInnen hält ein neues Weltbild Einzug, in dem die alte Subjekt-Objekt-Trennung, die seit Jahrhunderten die europäische Wissenschaft und Philosophie bestimmt hat, aufgehoben wird, und wo die Einsicht dominiert, dass diese Trennung mehr Unheil als Heilung mit sich gebracht hat. Das Verständnis, das nur wir Menschen Subjekte mit Geist und Seele sind und dass dort draußen nur die tote Objektwelt ist, mit der wir machen können, was wir wollen, setzte sich leider in der Geschichte mehr und mehr durch. Diese objektivierte Vorstellung verwandelt die Erde in eine Rohstoffhalle, die wir bedenkenlos ausbeuten können. Mittlerweile sehen wir, wohin uns dieses Weltbild führt. Inzwischen ist in manchen Geisteswissenschaften ein Umdenken im Gang. Wir lernen von indigenen Völkern, für die es überhaupt keine Subjekt-Objekt-Trennung gibt. Wenn sie in einem Wald sind, ist der Wald voller Subjekte. Der Wald ist niemals ein Objekt. Der Wald ist ein unfassbar lebendiger Organismus. An jeder Ecke wimmelt es von Leben. Jedes winzige Tierchen sowie die majestätischen Bäume und das Wasser sind lebendige Organismen, die wiederum in einen noch größeren lebendigen Organismus eingebettet sind. Es ist eine spannende Entwicklung, die nicht nur bei Künstlern oder Neuheiden zu sehen ist, sondern selbst in der Wissenschaft wird vorgeschlagen, die fatale Subjekt-Objekt-Trennung zu überdenken und vielleicht aufzuheben. Denn auf diese Weise können wir neu lernen, anders mit der Natur umzugehen, fürsorglicher und zärtlicher.

TV: Das ist dringend notwendig. Erzähl uns von einem spirituellen Ort in Deutschland, den du besucht hast und der dich besonders berührt hat.
Rüdiger: Wir beide, also auch meine Freundin, die mich auf den Reisen begleitet und unterstützt, waren absolut betört vom Odenwald, den ich bisher noch nicht gut kannte. Der Odenwald ist ein riesiges Waldgebiet, wo wir verschiedenen »heiligen Orten« begegneten. Wir trafen auf fantastische, große alte Eichen, von denen man heute vermutet, dass sie heilige Bäume der germanischen Kultur waren. Diese gigantischen Eichen verkörperten den Weltenbaum Yggdrasil, dessen Äste in den Himmel ragen und deren Wurzeln sich tief in die Unterwelt erstrecken, und dadurch alle Sphären miteinander verbindet.
»Die Volksfantasie hat noch lange diese heidnischen Geschichten bewahrt.«
Während einer anderen Wanderung gelangten wir zum »Lichtenklinger Hof«, einer verfallenen Marienkapelle im Wald. Die alten Ruinen dieser kleinen Kapelle, die einst der Maria geweiht wurde, sind nun von Moos und Farn umrankt, und während unseres gesamten Aufenthalts wurden wir von dem leisen Plätschern eines Brunnens begleitet. Dieser Brunnen speist sich wiederum aus einer alten Quelle, von der man heutzutage ausgeht, dass sie früher möglicherweise ein keltisches Quellheiligtum war. Das ist – könnte man fast meinen – ein »typischer« spiritueller Ort, an dem sich verschiedene religiöse Anschauungen miteinander verbinden. Auf der einen Seite das christliche Gebäude, die Kapelle mit der Marienfigur, und auf der anderen Seite das sanfte Plätschern des Wassers aus der Erde, aus diesem uralten Brunnen oder aus dieser uralten Quelle. Außerdem fanden wir kleine Opfergraben: kleine herzförmig geformte Steinchen, Marienfiguren in den Nischen der verfallenen Mauern. Als wäre das nicht genug, wurde mir erzählt, dass eigenartige Sagen um diesen Ort gesponnen werden. Zum Beispiel, dass dort nachts Elfen tanzen. Das offenbart, dass die Bevölkerung heidnische Figuren in ihrer Fantasie an diesen Ort getragen hat. Somit handelt es sich nicht nur um einen Marienort, sondern dort springen nachts auch Elfen herum. Eine weiße Frau, die oft in Märchen vorkommt, soll nachts ebenfalls durch diese Ruinen geistern. In der Nähe ist das Haus des Försters, und wenn die Kinder des Försters krank sind, singt die weiße Frau die Kinder in den Schlaf und verschwindet wieder in den Ruinen. Es ist betörend, wenn man das so hört. Man findet also sowohl die Maria als auch die Elfen und die weiße Frau an diesem Ort vor. Die weiße Frau ist kein christliches Motiv. Es ist wahrscheinlich eine Form einer alten weiblichen Gottheit, einer Muttergottheit oder einer Erdmuttergottheit. Womöglich eine feenhafte Gestalt.

TV: Würdest du die weiße Frau mit Frau Holle in Verbindung setzen?
Rüdiger: Ja, es könnte eine Erscheinungsform der Frau Holle sein, die durch diesen Wald geistert und sich fürsorglich um die weinenden Kinder kümmert. Wenn man die Sagen und Mythen, die sich rund um den Ort ranken, kennt, wird er auf einmal unwahrscheinlich vielschichtig. Plötzlich fängt dieser Ort an zu vibrieren, weil sich die verschiedenen Mythen und Sagen miteinander verweben und alle auf ihre Weise mit diesem Ort harmonisieren. Das war für mich irritierend und betörend zugleich. Man hört das Plätschern der alten keltischen Quelle, man sieht die Marienfiguren in den Ruinen, man weiß von der weißen Frau und den Elfen. Das sind keine wissenschaftlichen Fakten. Nein, das sind Geschichten, welche die Menschen sich erzählen. Der Mensch braucht solche Geschichten. Die Volksfantasie hat noch lange diese heidnischen Geschichten bewahrt. Auch als sie bereits Christen waren, haben die Menschen sich immer noch diese alten Mythen erzählt, vor allem an solchen Orten. Es ist ein spezieller Ort, an dem verschiedene Erzählstränge zusammenkamen und den Ort dadurch sehr reich machen.
»Ein »spirituelles Heimatgefühl« ist etwas völlig anderes als ein nationalistisches Heimatgefühl, es hat überhaupt nichts mit Nationalismus zu tun.«
TV: Im Film sprichst du darüber, dass in der bayerischen Alpenregion verschiedene, vorchristliche und christliche, Erzählstränge miteinander verschmelzen. Gerade im katholisch geprägten Bayern, in dem in so gut wie jedem winzigen Dorf eine Kirche steht, erlebt man stark den Kontrast zwischen den allgegenwärtigen christlichen Motiven und der archaischen und unbändigen Ausstrahlung der schroffen Berge, denen die Menschen märchenhafte Namen wie die schlafende Hexe gaben. In diesem Märchenhaften schwingt auch immer wieder das Düstere mit.
Rüdiger: Das war der Fall am Untersberg bei Berchtesgaden, ein äußerst geheimnisvoller Berg, um den viele bizarre und verrückte Geschichten kursieren. Um den Untersberg herum stehen erstaunlich viele kleine Kapellen, Marienschreine, Kirchen mit Kreuzigungsdarstellungen. Aber im Hintergrund vibriert dieser machtvolle Berg mit seinen Berggeistern, mit seinen unterirdischen Höhlen, in denen Fantasiegestalten leben, von denen die Märchen erzählen. Dadurch hatte ich das Gefühl, dass man das alte Erbe dieses Berges nicht unterdrücken kann. Das Erbe des Bergs ist außerdem zwiespältig, denn die Natur selbst hat auch ihre düsteren Seiten. Jede faszinierende Mythologie hat ihre düsteren Seiten. Der Mensch hat seine düsteren Seiten. Der Berg ist das Heim dieser heidnischen Erdgeister und Klabautermänner und Kobolde, die in den Höhlen wohnen, aber auch der Zwerge und Riesen, die gewaltige Steine vom Berg hinunterwerfen oder Gletscher verkörpern, welche die Menschen töten können. Der Berg behält seine Urgewalt. Man kann ihn nicht domestizieren. Man kriegt ihn nicht klein. Auf den Bergen stehen Gipfelkreuze, vor allem in Bayern, und vielleicht dachten die Menschen, wenn sie auf jedem Berg ein Gipfelkreuz errichten, hätten sie ihn »im Sack«, hätten sie ihn damit endlich domestiziert. Aber man spürt, dass dies nicht möglich ist. Man muss sich mit der spirituellen Kraft des Berges arrangieren. Während unserer Erkundung des Berchtesgadener Landes fanden wir verschiedene Orte, häufig Höhlen, in denen Menschen Kerzen anzünden. Die Grasslhöhle am Untersberg ist beispielsweise wunderschön. Als wir hineingingen, erblickten wir Kerzen umlegt mit Sonnenblumen und an den Wänden waren überall geheimnisvolle Zeichen. Die Menschen haben mit roter Farbe ihre Handabdrücke an diesen Wänden hinterlassen, wie das die Menschen in der Steinzeit auch in den Höhlen gemacht haben. Keiner weiß genau, was das bedeutet. Vielleicht war es ein Zeichen für »Ich war hier«, oder dass man fühlen wollte, ob man »durch die Wand« des Berges noch weiter in seine Tiefe hineingelangen kann. Diese kleinen flammenden Kerzen in der Höhle empfand ich wie einen Lebensfunken im Inneren der Erdgöttin, im Inneren des Berggeistes. Auch dieser Berg wurde als etwas gesehen, das vielleicht einen Bauch oder Organe hat, als ein Lebewesen. Diese Mischung aus dem Archaisch-Heidnischen und dem Christlichen war am Untersberg stark spürbar. Diese Orte sind für mich als Filmemacher besonders interessant.

TV: Dein Film und das Buch sollen laut Vorstellungstext ein »spirituelles Heimatgefühl« vermitteln. Der Begriff Heimat ist in Deutschland ambivalent besetzt. Zurzeit ist er wieder populärer, aber keinesfalls in einem positiven Sinne. Was ist ein »spirituelles Heimatgefühl« und inwiefern benötigen wir dies?
Rüdiger: Das Wort Heimat hat keinen besonders guten Klang und im Moment überhaupt nicht. Warum ist das so? Stichwort AfD, Rechtspopulismus, völkisch. Im Augenblick wird wieder versucht, ein völkisch-nationalistisches Gefühl für die Deutschen zuzubereiten. In einer Zeit, in der völkische und nationalistische Töne wieder lauter werden, habe ich versucht, einen anders gearteten Heimatfilm zu machen. Es ist deswegen ein anderer Heimatfilm, weil er es nicht nötig hat, sich groß aufzuspielen und zu verkünden, dass die Deutschen die Besten sind, er muss nicht andere Menschen kleinmachen und ausgrenzen. Sondern ich darf mich in aller Ruhe an diesen Seelenlandschaften und an den alten spirituellen Traditionen erfreuen und ein Gefühl von Wärme empfinden. Denn es ist meine Heimat, Deutsch ist meine Muttersprache, ich bin hier geboren. Das sind die Landschaften, die mir zunächst einmal am nächsten sind beziehungsweise, die mir sehr nahe sind, und ich darf sie feiern. Ich darf sie mit meiner Filmkunst lobpreisen und ich darf andere Menschen berühren, indem ich sie auf eine schöne Art und Weise zeige.
Die Deutschen haben mit ihrem Heimatgefühl oder ihrem Nationalgefühl Schwierigkeiten aufgrund des Nationalsozialismus. Auf meinen Reisen in die keltischen Länder Irland und Schottland begegnete ich vielen deutschen Touristen, die mir sagten, dass sie nun dort etwas suchen, was sie in ihrer Heimat nicht mehr finden. Es ist die Sehnsucht, solche alten Orte und Spuren des Naturreligiösen wiederzufinden, weil diese in Deutschland noch immer mit einem Schatten belegt sind – dem wollte ich etwas entgegensetzen. Ein »spirituelles Heimatgefühl« ist etwas völlig anderes als ein nationalistisches Heimatgefühl, es hat überhaupt nichts mit Nationalismus zu tun.
TV: Das Heimatgefühl ist ein menschliches Bedürfnis, und an den aktuellen politischen Tendenzen sieht man, dass es falsch war, dieses Bedürfnis zu ignorieren beziehungsweise auf keine Weise positiv zu besetzen. Denn nun bedienen sich wieder rechte und völkische Strömungen an diesem Begriff, um andere Menschen abzuwerten und auszugrenzen.
Rüdiger: Auch in Schottland habe ich in einer anderen Form Heimatgefühle empfunden. Ich würde sogar sagen, dass ein Mensch mehrere Heimatebenen haben kann. Die schottische Landschaft ist wilder als die deutsche Landschaft. Und wenn man ein Faible für das Wilde hat, wie ich, dann kann man sich auch dort zu Hause fühlen. Die Fahrten auf dem Rhein oder das Umherstreifen durch den Odenwald waren nicht so wild wie die bizarren Küsten der Orkneyinseln Schottlands. Dafür spürte ich in Deutschland etwas Trautes, Heimeliges, Warmes, was ebenfalls eine schöne Dimension von Heimat ist. Deswegen würde ich durchaus sagen, dass der Mensch so vielschichtig ist, dass er nicht nur diese eine Heimat haben muss, er kann auch mehrere Heimaten haben. Ich bezeichne mich auch als Europäer, und infolgedessen werde ich in meinem nächsten Film die Seelenlandschaften Skandinaviens erkunden. Ich weiß jetzt schon, dass ich auch dort sehr starke Emotionen empfinden werde. In Norwegen sind diese unfassbaren Landschaften tief mit der nordischen Mythologie verwoben. In Skandinavien ist das kein Tabuthema, sie verehren ihre germanische Vergangenheit im Gegensatz zu den Deutschen, denen das aufgrund des Nationalsozialismus versperrt bleibt. Darüber hinaus kann ich mir auch Filme über Spanien, Italien, Frankreich vorstellen, wo es ebenfalls magische Orte gibt. Deswegen heißt die Filmreihe »Seelenlandschaften in Europa«. Deutschland ist ein Teil davon, der mir besonders ans Herz geht, weil es meine Heimat ist. Doch gleichzeitig freue ich mich sehr darauf, weitere Seelenlandschaften zu entdecken.
Das Interview führte Alice Deubzer.


Zum Autor
Dr. Rüdiger Sünner, geb. 1953 in Köln, studierte Musik, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie. 1985 promovierte er über die Kunstphilosophie von Theodor W. Adorno und Friedrich Nietzsche. Anschließend studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Seit 1991 lebt er als freier Autor, Filmemacher und Musiker in Berlin. Seine vielfältigen Publikationen und Filme beschäftigen sich vor allem mit spirituellen Grenzgebieten, so etwa in Schwarze Sonne – Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus (1996), Zeige deine Wunde – Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys (2015), Engel über Europa – Rilke als Gottsucher (2018) und Wildes Denken – Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt (2020).

Seelenlandschaften
Spirituelle Orte in Deutschland
240 Seiten, Klappenbroschur
Preis: 29,00 €
Scorpio Verlag, 2025
Artikel zum Thema
- Schwerpunkt – Magische Orte
- Dr. phil. Thomas Höffgen – Die Verteufelung der Natur. Religiöse Wurzeln unserer ökologischen Krise
- Dipl.-Germ. Petra Baumgart – Germanische Göttinnen und die quantenphilosophische Schau
- Rüdiger Sünner – »Ich weiß, dass ich mit Kräften umgehe.« Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys
- Norbert Paul – Europäischer Schamanismus
Bildnachweis: © Rüdiger Sünner