Dr. Marc Wittmann – Wenn die Zeit verrückt spielt

Außergewöhnliche Erfahrungen in der Zeitwahrnehmung

Parapsychologische beziehungsweise paranormale Phänomene legen nahe, dass die vermeintlich festen Größen Zeit und Raum während dieser außergewöhnlichen Erfahrungen durcheinandergeraten und ihren bindenden Status verlieren. Erfahrungen wie die Präkognition, die den »Blick« in die Zukunft erlaubt, oder wenn sich Menschen mittels Retrokognition an vergangene Leben erinnern, zeugen davon. Wie können diese Phänomene methodisch erforscht werden und besteht ein Zusammenhang zwischen unserem Selbstgefühl und unserem Zeitgefühl? Der Psychologe und Hirnforscher Dr. Marc Wittmann gibt uns einen Einblick in die Erforschung von Zeitphänomenen, seine Arbeitsmethoden und vor welchen Herausforderungen die parapsychologische Forschung steht.

Tattva Viveka: Lieber Herr Wittmann, als Hirnforscher und Psychologe untersuchen Sie die »Zeitwahrnehmung« und das »Zeitbewusstsein«. Was genau wird dabei erforscht?

Dr. Marc Wittmann: Das unmittelbare Zeitgefühl, das wir jederzeit spüren können, bildet den Ausgangspunkt. Bei kürzeren Zeitspannen zeigt es sich etwa darin, dass wir ungeduldig werden. Zum Beispiel, wenn wir irgendetwas aus dem Netz herunterladen möchten und die kleine Sanduhr auf dem Bildschirm dreht sich. Was ist der Grund hierfür? Der Grund dafür ist, dass wir uns in diesen Momenten selbst spüren, und daher auch, wie die Zeit vergeht. Zeiterleben ist an unser Körperselbsterleben gebunden. Bei längeren Zeiträumen wird es schnell existenziell. Beispielsweise stellt man erschrocken fest, dass man bereits seit zehn Jahren am selben Arbeitsplatz arbeitet oder dass wieder Weihnachten vor der Tür steht und man damit verbunden das Gefühl hat, dass das Jahr, also die Zeit, schnell vergangen sei.

Allgegenwärtig von Sekunden bis hin zu Jahrzehnten erleben und spüren wir die Zeit, und entweder ist die Zeit gefühlt schnell oder langsam vergangen, was wir infolgedessen als negativ oder positiv bewerten. Grundsätzlich urteilen wir ständig über die Zeit, und diese Gründe für die veränderliche Zeitwahrnehmung untersuche ich. Dabei gehe ich der Frage nach, wie wir zu unserem Zeiturteil gelangen, denn die physikalische Zeit, gemessen an der Uhrzeit oder an den Kalendern, läuft immer gleich ab. Unser subjektives Zeitempfinden und unsere Urteile fallen jedoch unterschiedlich aus, abhängig von der Situation, meinen Gefühlen etc.

»Der Grund dafür ist, dass wir uns in diesen Momenten selbst spüren, und daher auch, wie die Zeit vergeht. Zeiterleben ist an unser Körperselbsterleben gebunden.«

TV: Wir möchten heute insbesondere auf die Beziehung von parapsychologischen Phänomenen und Zeitwahrnehmung/Zeitbewusstsein eingehen. In der Parapsychologie werden außergewöhnliche Erfahrungen genauer unter die Lupe genommen und viele dieser Erfahrungen hängen mit der Zeiterfahrung zusammen. Zum Beispiel die Präkognition, in der Menschen in die Zukunft blicken, oder wenn Menschen sich an vergangene Leben erinnern. Um zwei Beispiele zu nennen. Wie ist das Verhältnis von Zeitwahrnehmung und Parapsychologie?

Wittmann: Ich arbeite in drei Forschungsbereichen: Der erste Forschungsbereich ist die Grundlagenforschung, in der untersucht wird, welche Faktoren unser Zeitgefühl beeinflussen. Bestimmend sind zum einen die psychologischen Faktoren, zum anderen die dafür zuständigen Gehirnareale, welche die Zeit verarbeiten und uns somit zu unserem Zeitgefühl führen. Veränderte Bewusstseinszustände erforsche ich im zweiten Forschungsbereich. In diesem Kontext werden zum Beispiel erfahrene Meditierende und ihr Zeitempfinden während der Meditation untersucht, wie etwa, wenn sie währenddessen das Zeitgefühl verlieren. In meinen neuesten Untersuchungen befinden sich die ProbandInnen in einem Floatation Tank (engl. to float – dt. schweben), in dem sie in quasi sensorischer Deprivation liegen, also beinahe gänzlich von Außenreizen abgeschottet sind. In diesen Floatation Tanks schwebt man in warmem Salzwasser, dort drinnen hört und sieht man nichts.

Dr. Marc Wittmann
Floatation Tank

Die Körperwahrnehmung ist dabei zunächst besonders ausgeprägt. Aber ähnlich wie in der Meditation kann es mit der Zeit zu einem Verlust der Wahrnehmung des Körperselbst kommen und damit einhergehend verändert sich die Zeitwahrnehmung extrem.

Der erlebte Verlust des Körperselbst und der subjektiven Zeit könnte die Erfahrung von parapsychologischen Phänomenen erklären. Wenn ich zumindest phänomenal eins werde mit dem umgebenden Raum und die Zeit ihren Status der festgelegten Zeitfolge verliert, könnte dies der mögliche Mechanismus sein, um zu erklären, wie Menschen über den Raum und die Zeit hinweg außergewöhnliche Erfahrungen machen können. In meinem dritten Forschungsbereich untersuche ich diese außergewöhnlichen Erfahrungen, die zum Gebiet der Parapsychologie gehören. An dieser Stelle möchte ich ein paar Beispiele nennen: In der Präkognition habe ich Zugang zu Informationen oder Geschehnissen, die noch nicht stattgefunden haben. Oder ich weiß von etwas, das an einem anderen Ort stattfindet, wie beim Remote Viewing.

»Zeit und Raum sind in unserem Alltagsverständnis feste Größen, an die wir gebunden sind, aber in veränderten Bewusstseinszuständen kann es passieren, dass Zeit und Raum plötzlich völlig verändert sind.«

Zeit und Raum sind in unserem Alltagsverständnis feste Größen, an die wir gebunden sind, aber in veränderten Bewusstseinszuständen kann es passieren, dass Zeit und Raum plötzlich völlig verändert sind. Aus diesem Grund faszinieren mich veränderte Bewusstseinszustände.

Diese Effekte treten auch in Träumen auf, die ebenfalls stark veränderte Bewusstseinszustände sind und in denen Zeit und Raum komplett durcheinandergeraten können. Im Traum kann man beispielsweise auch Traumpräkognition erleben, also dass man etwas träumt, das am nächsten Tag real eintrifft. Die Krisentelepathie ist ebenfalls Teil dieses Erfahrungsspektrums. Hier spürt man plötzlich, dass einem geliebten Menschen etwas zugestoßen ist, wobei sich dieser an einem anderen Ort befindet, und doch nehme ich es wahr, als ob der Raum nicht mehr relevant sei. Zeit und Raum verlieren während diesen außergewöhnlichen Erfahrungen ihren allgemeinen Status.

»In veränderten Bewusstseinszuständen, was ich in außergewöhnlichen Erfahrungen erlebe, verliere ich das Gefühl für mein Selbst und somit auch für die Zeit.«

TV: Der Zeitverlust geht demzufolge mit einem Selbstverlust während veränderter Bewusstseinszustände einher. Wieso überkreuzen sich diese beiden Aspekte?

Wittmann: Das ist eine Frage für die Grundlagenforschung. Deswegen ist es wichtig, die drei Bereiche, die ich zuvor genannt habe, im Blick zu behalten: die Grundlagenforschung, veränderte Bewusstseinszustände im Allgemeinen und dann spezifisch, anomalistische oder außergewöhnliche Erfahrungen.Grundsätzlich weiß ich aus Untersuchungen, die ich mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) durchgeführt habe, dass ein Bereich im Gehirn besonders wichtig für die Zeitwahrnehmung ist: die Insula. Gleichzeitig hat die Insula eine weitreichende Bedeutung für die Körperwahrnehmung, denn alle Signale des Körpers werden in der Insula aufgenommen, verarbeitet und dann weitergeleitet. Deswegen sind die Körpergefühle die Grundlage für unsere Emotionen.

Wenn ich verliebt oder verärgert bin, spielt der gesamte Körper mit. Dies impliziert, dass die Insula sowohl für das Körpergefühl und die Emotionen als auch darauf aufbauend für die Zeitwahrnehmung zuständig ist. Dies wiederum erklärt, warum sich in bestimmten emotionalen Zuständen die Zeit und/oder die Körperwahrnehmung ändert. Langeweile führt uns zu einem langsameren Zeitgefühl, denn in der Wartezeit bemerke ich mich selbst besonders stark. In der Langeweile bin ich nicht von mir abgelenkt und dadurch habe ich das Gefühl, dass die Zeit langsamer vergeht. Zeit und Selbst sind stark miteinander verflochten, doch während veränderter Bewusstseinszustände, wie in der Meditation oder im Floatation Tank, lösen sich die Grenzen des Körpers und infolgedessen auch die Zeit auf. Wir verlieren unser Zeitgefühl. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Möglichkeit der Wahrnehmung jenseits von Zeit und Raum besteht. Wenn die Zeit nicht mehr die übliche Gültigkeit hat, können auch feste zeitliche Folgen wie zuerst t1 (mein nächtlicher Traum) und dann t2 (mein Erlebnis morgen) aufgelöst werden und ich empfinde jetzt im Traum das morgige Ereignis.

TV: In spirituellen Kreisen sind Sätze wie »die Seele ist zeitlos« oder »Zeit ist eine Illusion« überaus beliebt. Aus dem, was Sie gesagt haben, lässt sich schlussfolgern, dass unser Verhältnis zur Zeit stark mit unserer Leiblichkeit zusammenhängt.

Wittmann: Genau. Im Alltagserleben ist die Zeit stark an unsere Körperlichkeit und Ich-Wahrnehmung gebunden. In veränderten Bewusstseinszuständen, was ich in außergewöhnlichen Erfahrungen erlebe, verliere ich das Gefühl für mein Selbst und somit auch für die Zeit. In der Traumwelt erleben wir dies alle, denn in diesen sind unser Selbst- und Körpergefühl massiv reduziert. Unser Erleben ist wie in einer Virtual Reality, die beinahe körperlos abläuft, wobei auch die Zeit verrückt spielen kann. Deswegen sind Träume so interessant für die Erforschung paranormaler Erfahrungen sowie für die Hirnforschung.

Menschen, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben, berichten oft ebenfalls von völliger Zeitlosigkeit und völliger Selbstlosigkeit. Während dieser Ausnahmeerfahrung befanden sie sich anscheinend in einer anderen Sphäre, in der Zeit, Raum und Selbst plötzlich nicht mehr wichtig sind.

»Ein weiterer faszinierender Forschungsbereich ist der der außergewöhnlichen Erfahrungen von Kindern.«

Ein weiteres häufig berichtetes Element während Nahtoderfahrungen ist der panoramische Lebensüberblick. In diesem Lebensüberblick erleben die Betroffenen, wie sich ihr Leben von der Kindheit über das junge Erwachsenenalter bis hin zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor ihren Augen noch einmal abspielt, und es kann sogar sein, dass er bis in die Zukunft reicht. Denn manche berichten, dass sie ihre eigene Zukunft gesehen haben. Es scheint so, als ob die feste Zeitstruktur von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – gemäß unserem gewöhnlichen Zeitverständnis – keine Bedeutung mehr hat und wir daher einen Überblick über unsere gesamte Lebenszeit erhalten.

Dr. Marc Wittmann

TV: Wie lassen sich die von Ihnen angesprochenen Phänomene wie Nahtoderlebnisse oder Präkognition wissenschaftlich erforschen?

Wittmann: Erst einmal liegen die Phänomenologie der Erfahrung und das Erleben im Alltag vor. Menschen berichten davon, und dies lässt sich qualitativ untersuchen. Im Forschungsbereich der Nahtoderlebnisse können Berichte systematisch in Datenbanken eingepflegt werden oder Wissenschaftler untersuchen im Rahmen von Studien die Menschen, die solche außergewöhnlichen Erfahrungen erlebt haben, sowie ihre Berichte systematisch. Daraufhin lässt sich gewissermaßen feststellen, welcher Natur die Erlebnisse sind, die solche Menschen gemacht haben. Ein weiterer faszinierender Forschungsbereich ist der der außergewöhnlichen Erfahrungen von Kindern. Eine Kollegin von mir, Donna Thomas von der Universität von Central Lancashire in Großbritannien, hat über die letzten Jahre intensiv qualitative Forschung zu Kindererlebnissen betrieben. Im Rahmen dieser Forschungsstudie sollten die Kinder ihre Erfahrungen malen und daraufhin in einem Gespräch erläutern. Anschließend wurden die Berichte qualitativ analysiert, wobei sich herausstellte, dass Kinder häufiger außergewöhnliche Erlebnisse haben als man denkt. Zum Beispiel könnte Präkognition im Spiel gewesen sein, als ein Kind vom Tod der älteren Dame aus dem Nachbarhaus wusste, obwohl das sonst noch niemandem bekannt gewesen war.

Solche Erlebnisse jenseits von Zeit und Raum treten bei Kindern deutlich häufiger auf als später bei Erwachsenen. Als mögliche Erklärung könnte man anführen, dass Kinder viel stärker von Erwachsenen abhängig sind, um zu überleben. Die daraus entstehende ausgeprägte Empathie und Verbindung zu den ihnen nahestehenden Personen kann bis hin zu außergewöhnlichen Erlebnissen führen. Dies ist ein Beispiel für eine systematische Untersuchung qualitativer Art. Daneben kann man Untersuchungen quantitativer Art durchführen, wie wir das hier am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) tun, zum Beispiel zur Präkognition.

Gerade Emotionen sind äußerst wichtig in einem experimentellen Setting zur Präkognition, da sie stärkere Reaktionen im Erleben, Verhalten und den Hirnantworten hervorrufen. Wie verläuft eine solche Untersuchung? Den TeilnehmerInnen werden Bilder präsentiert, die entweder negativ oder positiv konnotiert sind, und daraufhin sollen sie möglichst schnell Tasten drücken, um das Bild als positiv oder negativ zu bewerten. Nach dem Tastendruck wird ein Wort eingeblendet, das auch entweder positiv oder negativ konnotiert ist, zum Beispiel »ekelhaft« oder »schön«. Dabei konnte gezeigt werden, dass das Wort, das nach dem Tastendruck erscheint, eine Auswirkung auf die Reaktionsgeschwindigkeit hat. Das Erstaunliche ist, dass, wenn das Wort nach dem Tastendruck in der Valenz, also mit dem emotionalen Gehalt des zuvor gezeigten Bildes übereinstimmte, der Tastendruck schneller war, als wenn der emotionale Gehalt nicht übereinstimmte. Demzufolge: Ich sehe ein süßes Kätzchen, drücke auf die positive Taste und danach erscheint das Wort »schön«. In diesem Fall ist die Reaktionszeit schneller, als wenn ich ein süßes Kätzchen sehe, auf die Taste drücke, und danach das Wort »hässlich« eingeblendet wird und somit eine Inkongruenz besteht. Die Kongruenz zwischen Bild und Wort löste einen schnelleren Tastendruck aus, obwohl das Wort erst in der Zukunft eingeblendet wird. Dies kann aus einem herkömmlichen Verständnis heraus nicht erklärt werden, doch trotzdem haben wir dies experimentell aufzeigen können.

Mithilfe des EEG konnten Mareike Wilson, Jürgen Kornmeier und ich aufdecken, welches Gehirnareal für das zukünftige Worterkennen nach dem Tastendruck aktiviert wird. Das Ungewöhnliche ist, dass ein linkshemisphärisches Areal im Gehirn, das für gewöhnlich die Sprache und Worterkennung regelt, auch für die Worterkennung in der Zukunft zuständig ist. In der Regel lese ich ein Wort und währenddessen wird dieses Areal aktiviert. In unserem Fall wurde das Wort aber erst in einer halben Sekunde, also in der Zukunft, eingeblendet und trotzdem war das Areal für die Worterkennung präkognitiv aktiv.  Wir konnten dies sogar zweimal aufzeigen, da wir im Anschluss die Studienergebnisse replizieren konnten. Der Befund war ein wenig unheimlich, da er darauf hindeutet, dass es so etwas wie ein neuronales Korrelat für Präkognition gibt. Die Ergebnisse belegen eindeutig, dass ein bestimmtes Gehirnareal aktiviert wurde, in Abhängigkeit davon, was in der Zukunft geschieht. Oder konkreter, ein Sprachareal wurde aktiviert, abhängig davon, welches Wort in der Zukunft präsentiert wurde.

»Denn, was man häufig beobachtet, ist, dass parapsychologische Phänomene, die mit außergewöhnlichen Erfahrungen stark zusammenhängen, tendenziell in sehr emotionalen Situationen oder während Krisenmomenten auftreten. Solche außergewöhnlichen Erfahrungen lassen sich nicht in einem sterilen Laborsetting produzieren.«

TV: Was würden Sie skeptischen Stimmen erwidern? Gerade die Parapsychologie wird kritisch beäugt und solche unerklärlichen Befunde werden schnell als Zufall abgetan oder die Forschenden werden so dargestellt, als ob sie ihre Forschungsergebnisse überinterpretieren oder auch manipulieren, um »Paranormales« zu registrieren. Denn in der Regel möchte jeder Wissenschaftler, dass die Untersuchungen und Studien seine Hypothesen und Vermutungen bestätigen, da andernfalls die Forschung ins Leere läuft, oder?

Wittmann: Ja, diesen Einwänden begegnet man häufig, und die einzige Möglichkeit, um sie zu entkräften, ist die der Replikation. Die Untersuchung über das Hirnareal für die Worterkennung konnte repliziert werden. In der Studie zu den neuronalen Korrelaten der Wort-Präkognition konnten wir eine bestimmte Aktivität feststellen. Im Anschluss daran haben wir die Studie wiederholt und diese Aktivität war wieder sichtbar. Auf dieser Grundlage kann man aufbauen und beispielsweise Variationen und Veränderungen integrieren und daraufhin beobachten, was mit dem Signal geschieht. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, zu wissen, dass es allgemein eine Replikationskrise in den Naturwissenschaften gibt, in der Pharmakologie, Psychopharmakologie, aber auch in der experimentellen Psychologie. Irgendwann stellten Forscher fest, dass sich die Ergebnisse nicht reproduzieren lassen, und dies war der Anstoß für eine systematische Untersuchung mit experimental-psychologischen Fragestellungen, um die hundert wichtigsten psychologischen Experimente zu replizieren. Weltweit wurde dies umgesetzt und man gelangte zu dem Ergebnis, dass nur 38 Prozent, also 38 der 100 Experimente, sich replizieren ließen. Insofern fällt das Argument, dass sich die Ergebnisse nicht replizieren lassen, auf die Mainstream-Psychologie zurück, weil sich auch hier die Ergebnisse oft nicht replizieren lassen. Zum Beispiel führt man eine explorative Studie durch und die Befunde deuten auf ein bestimmtes Ergebnis hin. Im Anschluss daran muss man eine konfirmatorische Studie realisieren, in der die Befunde aus der ersten Studie bestätigt werden. In diesem Fall sind die Ergebnisse aussagekräftiger. Generell ist der Umgang mit der Replikation strenger geworden, sowohl in der Experimentalpsychologie als auch in der Parapsychologie.

Dr. Marc Wittmann

TV: Liegt die Schwierigkeit der Replikation und Reproduktion auch darin, dass man mit Menschen zusammenarbeitet, die jedes Mal ein individuelles Verhalten an den Tag legen?

Wittmann: Ja, genau, denn die kleinsten Veränderungen können sich auf das Studienergebnis auswirken. Das beginnt bereits bei der Auswahl der Probanden. Zum Beispiel, ob man mit Psychologiestudierenden zusammenarbeitet, die bereits ein gewisses Vorwissen haben, oder mit Menschen, die man zufällig in der Fußgängerzone ausgewählt hat. Das Vorwissen könnte bereits ein Faktor sein, der den Befund beeinflusst.

Ich nenne ein Beispiel aus der Sozialpsychologie. In diesem Experiment sollten sich die Teilnehmenden Cartoons ansehen, wobei es zwei Bedingungen gab: In Bedingung A sollten die Teilnehmenden einen Stift quer im Mund halten, sodass die Muskeln automatisch zum Lächeln animiert werden. In Bedingung B sollten die Teilnehmenden den Stift nach vorne aus dem Mund heraushalten, sodass die Muskeln nicht zum Lachen animiert werden.

Daraufhin konnte gezeigt werden, dass die Teilnehmenden, die den Stift quer im Mund hielten, sodass die Lachmuskulatur automatisch aktiviert wurde, die Cartoons lustiger fanden – unabhängig davon, ob sie tatsächlich lustiger waren oder nicht. Das war ein Pionierexperiment in der Embodiment-Forschung, also bei der Frage, ob die Körperfunktionen unsere Emotionen generieren. Dies galt lange Zeit als klassisches Fachbuchwissen. Das erste Experiment wurde ungefähr vor 40 Jahren durchgeführt. Jahre später wurde die Studie repliziert, wobei das Unfassbare geschah: Das Experimentergebnis konnte von der Replikationsstudie nicht bestätigt werden. Anschließend hat sich der Initiator der ersten Studie, Prof. Dr. Fritz Strack, die Rahmenbedingungen genauer angesehen und eine kleine Änderung entdeckt. In der Replikationsstudie war eine Kamera im Raum, in der ersten Studie nicht, und aufgrund dieser Kamera fühlten sich die Teilnehmenden beobachtet und reagierten anders als in der ersten.

Die Kamera wurde daraufhin entfernt und plötzlich hatte man wieder dieselben Befunde. Dies verdeutlicht, wie ausschlaggebend auch nur die kleinsten Änderungen sein können. Dementsprechend kann man sich vorstellen, wie sich kleine Veränderungen auf parapsychologische Untersuchungen auswirken. Kleine Veränderungen, wie die Stimmung und Einstellung des Versuchsleiters, also ob dieser eher optimistisch oder pessimistisch gestimmt ist, können die Befunde ungemein beeinflussen. Um dies zu veranschaulichen, wurde bereits dasselbe Experiment von zwei verschiedenen Versuchsleitern durchgeführt. Der eine war ein Psi-Gläubiger, der andere ein Psi-Skeptiker. Der Psi-Skeptiker konnte keine positiven Befunde feststellen, der Psi-Gläubige registrierte positive Befunde. Die verschiedenen Ergebnisse lassen sich womöglich psychologisch erklären: Der Psi-Gläubige ging empathischer mit den Versuchspersonen um und animierte sie. Allein dies veränderte die Einstellung der Versuchspersonen, obwohl es sich in diesem Fall um ein automatisches Knopfdruck-Experiment am Computer handelte, das nicht manipuliert werden konnte. Der Skeptiker hingegen »schleuste« die Versuchspersonen durch, wodurch die Motivation von ihnen sank. Das zeigt auf, dass man verschiedene Ergebnisse bei denselben Bedingungen erhalten kann, nur weil die Versuchsleiter unterschiedliche Einstellungen haben.

TV: Werden parapsychologische Befunde heutzutage zu wenig in der Wissenschaft und in der Psychologie berücksichtigt?

Wittmann: Ich würde sogar weiter gehen und sagen, dass man die Parapsychologie integrieren sollte, und zwar aus skeptischen Beweggründen. Ich selbst bezeichne mich als Skeptiker, jedoch als echten Skeptiker, in dem Sinne, dass ich offen für Ergebnisse bin. Ich bin mir nicht sicher, ob man anhand der klassischen parapsychologischen Experimente tatsächlich parapsychologische Phänomene erklären oder beweisen kann, doch meine persönlichen Erlebnisse weisen auf etwas anderes hin. Aus diesem Grund betrachte ich mich selbst als einen Skeptiker, aber viele, die sich als Skeptiker bezeichnen, sind viel eher Leugner und Ablehner, die vehement versuchen, zu beweisen, dass die Parapsychologie völliger Unsinn ist. Diesen Forschenden fehlt es an Offenheit und Unvoreingenommenheit, um eine solche Forschung zu betreiben.

Gemäß meiner Erfahrung erhält man viele positive Befunde aus parapsychologischen Experimenten, und das lässt sich auch von Kritikern nicht von der Hand weisen. Aus diesen Befunden lässt sich meines Erachtens jede Menge für die eigene Mainstream-Forschung lernen; zum Beispiel, dass auch diese mit hoher Wahrscheinlichkeit viele falsch-positive Befunde produziert, also viele Befunde, die nicht stimmen.

Es wäre außerdem hilfreich, wenn mehr Experimentalpsychologen an diesen Fragen forschen würden. Bisher sind es nur einzelne, die sich an diese Themen herantrauen. Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn zehntausende Experimentalpsychologen parapsychologische Experimente durchführen würden. Wie schnell würde man mehr Befunde erhalten und wie viel klarer wäre damit die Sachlage? Das IGPP (Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene) in Freiburg ist fast das einzige Institut in Deutschland, das in diese Richtung forscht. Darüber hinaus betreiben nur zwei weitere Professoren parapsychologische Forschung, ansonsten gibt es niemanden.

Wenn mehr Wissenschaftler parapsychologische Phänomene ergründen würden, würde man deutlich schneller zu klaren Ergebnissen gelangen.

Eine weitere wichtige Frage für mich ist, ob man experimentell überhaupt etwas herausfinden kann oder ob die Laborsituationen zu künstlich sind. Denn, was man häufig beobachtet, ist, dass parapsychologische Phänomene, die mit außergewöhnlichen Erfahrungen stark zusammenhängen, tendenziell in sehr emotionalen Situationen oder während Krisenmomenten auftreten. Solche außergewöhnlichen Erfahrungen lassen sich nicht in einem sterilen Laborsetting produzieren. Womöglich ist es zielführender, es so umzusetzen, wie es Donna Thomas bei ihrer Studie über Kinder getan hat: dass man in die Welt hinausgeht und qualitative Untersuchungen vor Ort durchführt, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen außergewöhnliche Erfahrungen auftreten. In bestimmten Situationen mit sich spirituell zusammenfindenden Menschen wie in Meditationsretreats treten anekdotisch häufiger außergewöhnliche Erfahrungen auf. In einer Studie mit meiner brasilianischen Kollegin Cecilia Bastos, die derzeit mit dem Center of Advanced Studies der Universität Erlangen kooperiert, untersuchen wir qualitativ und quantitativ über längere Zeitperioden hinweg, welche Art und wie häufig paranormale Erfahrungen während der kontemplativen Praxis auftreten und wie diese mit der Tiefe von veränderten Bewusstseinszuständen in der Meditation verbunden sind.

Das Interview führte Alice Deubzer.

Dr. Marc Wittmann

Zum Interviewten

Dr. Marc Wittmann studierte in Fribourg (Schweiz) und München Psychologie und Philosophie. Promotion 1997 und Habilitation 2007 an der Medizinischen Fakultät der LMU München in Humanbiologie. Von 2004 bis 2009 an der der University of California San Diego. Seit 2009 am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg.

sites.google.com/site/webmarcwittmann

Bildnachweis: © Tommi Nübling, Adobe Stock

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen